Soldatis und der König der Schattenalp: Die Abenteuer der Koboldbande (Band 5)

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Soldatis drängte sich an seinen Brüdern vorbei und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. Er sah den Nekromanten herausfordernd an und seine Worte klangen wie das Bellen eines wütenden Hundes. »Barbarons Späher haben uns berichtet, dass der schwarze Zauberer nur den Schattenalp Vagho schicken will, um die Gorgoden aus Saphira zu holen. Er ist bestimmt schon unterwegs. Glaubst du, dass dieser Kerl es allein schaffen kann?«
Albanarius zuckte mit den Schultern. »Ich kann dir deine Frage nicht beantworten. Doch wenn das so ist, so muss er sich mit den Janus-Elfen herumschlagen. Die haben sich in der letzten Zeit noch weiter verschlimmert. Der Fluch, der sie einst getroffen hat, der wirkt seit über hundert Jahren auch am Tage. Jabo hat mir das erst vor wenigen Tagen berichtet. Sie halten sich deshalb in Saphira und in der näheren Umgebung der Stadt verborgen und zeigen sich nur, wenn sie töten wollen. Ich glaube, man kann die Gorgoden nur bekommen, wenn man Opyhra und ihr Gefolge überlisten kann. Außerdem braucht man den Schlüssel für die Truhe, in der sich die Kugeln befinden. Und man braucht einen bestimmten Zauberstab, um diese Gorgoden zu vernichten. Die Wesen, die in diesen Kugeln eingeschlossen wurden, sind dämonische Bestien. Wir sollten uns lieber auf alles genau vorbereiten.«
Barbaron sprang auf den Tisch und wollte etwas sagen, doch Soldatis schnappte sich den kleinen König, klemmte ihn sich unter seinen linken Arm und hielt ihn den Mund zu. Der Minitroll zappelte wie ein Fisch im Netz, doch Soldatis stellte Albanarius unbeirrt eine weitere Frage. »Auf was sollen wir uns vorbereiten, du großer Zauberer?«
Der Nekromant beugte sich über den Tisch und befreite den armen Barbaron. Der schimpfte sofort los. »Hast du das gesehen, Albanarius? Das ist doch unerhört! Ich könnte ihn …!«
Weiter kam der kleine König nicht, denn Albanarius hielt ihm den vorlauten Mund zu. »Sei still und hör mir zu. Ich denke, wir sollten uns alle aufteilen. Ich suche mit Cylor nach dem Zauberstab. Artur und seine Brüder werden mit uns gehen und ihr Minitrolle überlegt euch, ob ihr etwas gegen Opyhra und ihr Gefolge unternehmen könnt. Soldatis wird euch begleiten, denn er hat dich auf jeden Fall gut im Griff, mein kleiner Freund. Ihr werdet nach dem Schlüssel und den Gorgoden suchen.«
Barbaron befreite sich aus den Händen des Zauberers und flog hoch über den Köpfen seiner Freunde und seines Volkes. Er sah kampflustig zu Soldatis und grinste plötzlich wie ein Schelm, denn er hatte auf einmal eine Idee. Der kleine König landete auf dem Tisch und zog seinen Trollkompass. Er legte ihn vor sich auf einen Teller und rieb sich die Hände. »Nun Freunde gebt gut acht, denn wir befragen den Kompass mitten in der Nacht.«
Sofort war der Tisch von allen Kobolden und Minitrollen umringt und Barbaron war wieder einmal ganz in seinem Element. Er beschwor seinen Kompass und ließ ihn nach dem Zauberstab für die Truhe suchen. Zum Erstaunen aller zeigte der Kompass an, dass sich dieser Zauberstab in Penda, der einstigen Heimatstadt der Janus-Elfen, befand. Barbaron fragte sogleich nach dem Schlüssel. Der befand sich in Saphira. Nun fragte der kleine König nach den Gorgoden. Wie erwartet waren sie ebenfalls noch immer in Saphira. Die letzte Antwort war jedoch für Barbaron sehr erstaunlich. Er fragte den Kompass nach dem Aufenthaltsort von Vagho. Der Kompass zeigte ihm an, dass Vagho sich immer noch in der Nähe der alten Schlangenfestung aufhielt. »Dieser Kerl lässt sich viel Zeit«, meinte der kleine König. »Das könnte uns einen guten Vorsprung verschaffen. Den sollten wir auf jeden Fall nutzen.«
Albanarius stimmte mit einem Nicken zu und griff nach seinem Becher. Doch der war leer und das verlegene Lächeln des Hauptmanns zeigte ihm, dass der Minitroll schneller war, als er selbst. Er goss sich den Becher wieder voll und trank ihn sogleich aus. Dann sah er zu Artur und seinen Brüdern.
Die Kobolde flüsterten schnell einige Worte miteinander und Snobby erklärte anschließend dem Zauberer ihre Entscheidung. »Wir machen es so, wie du es vorgeschlagen hast. Soldatis und die Minitrolle sollten jedoch versuchen, den Fluch von den Janus-Elfen zu nehmen. Dann wären sie nicht mehr so gefährlich und wir hätten es alle ein wenig leichter. Außerdem müssen sie sich um diesen Vagho kümmern.«
Albanarius griff zur Weinkanne und füllte sich noch einmal seinen Becher. »Opyhra hat vor langer Zeit dem Zauberer Meerland das Herz gebrochen. Dieser weiße Zauberer hat sie geliebt und sie hat ihn verraten. Ich weiß nicht mehr genau, was damals alles geschah, doch Meerland war so wütend, dass er sich nicht mehr beherrschen konnte. Opyhra hatte ihm einen Brief zukommen lassen. Noch am selben Tag brach Meerland mit einem sehr starken Zauberstab auf und ging nach Penda. Dort hat er die Frau, die er über alles liebte, mit ihrem Gefolge verflucht und gebannt. Den neuen Liebhaber dieser Frau hat er zu Stein erstarren lassen. Noch heute wird er in seinen Händen Meerlands Zauberstab halten. Welch ein glücklicher Zufall, dass Cylor diesen Zauberstab ebenfalls beherrscht. Er hatte ihn Meerland einst geschenkt. Die größte Schwierigkeit ist der Schlüssel, den wir finden müssen. Nur mit seiner Hilfe können wir die Truhe öffnen und mit ein wenig Glück gelingt es Cylor, Meerlands Fluch von den Janus-Elfen zu nehmen. Dazu muss er Meerlands Zauberstab aus den steinernen Händen von Opyhras Liebhaber ziehen. Sie könnte es zu jeder Zeit selbst machen, doch dann würde sie mit ansehen, wie das Standbild ihres Liebsten zu Staub zerfällt und das würde ihr das Herz brechen. So habe ich jedenfalls diese Geschichte noch im Kopf behalten. Deshalb bleibt das Standbild, was es ist. Darüber ist sie bestimmt selbst sehr wütend und sie wird Meerland jeden Tag und jede Nacht verfluchen.«
Soldatis nahm seine Keule und streckte sie Albanarius entgegen. »Morgen früh weckst du deinen alten Freund und sorgst für sein Wohlbefinden. Es wäre sehr gut, wenn er sich an seine einstigen Kräfte erinnern könnte. Sobald alle Vorbereitungen getroffen sind, brechen wir auf. Die Minitrolle werden bestimmt sehr schnell im Silbergebirge ankommen. Dort sollten sie sich erst mal verstecken und nach allen möglichen Feinden spähen. Ich werde wohl erst am zweiten Tag nach meinem Abflug eintreffen. Wir werden nach dem Schlüssel und den Gorgoden suchen und ihr findet hoffentlich den Zauberstab.
Albanarius hob seinen Becher und trank ihn mit einem Zug aus. »Dann lasst uns schnell zur Ruhe kommen«, meinte er und stellte den Becher auf den Tisch. »Der morgige Tag wird uns zu zwei gefährlichen Orten in das Silbergebirge führen. Da sollte man gut ausgeschlafen sein.«
Nun hielten sich die Minitrolle nicht länger zurück. Aufgeregt schwatzten sie alle durcheinander und auch der Kleinste von ihnen meinte, gerade er hätte noch etwas Wichtiges zu bedenken und zu fragen. Doch sie fanden auch in dieser, wie in jeder Nacht, alle ihren wohlverdienten Schlaf.
Die Geister der Sklaven
Vagho brach am folgenden Morgen sehr zeitig auf. Er nahm ein kräftiges Frühstück zu sich und ging dann zu Dämonicon. Der schwarze Zauberer schärfte ihm noch einmal ein, wie wichtig für ihn die drei Gorgoden waren. Dann ließ er Vagho zur Stadt Saphira ziehen.
Der Schattenalp stieg vor dem Eingang der Grotte auf seine Flugschale und erreichte schnell eine ordentliche Höhe. In dicke Felle gehüllt, spürte er die Kälte nicht so schnell. Vagho hoffte, dass es bald wärmer würde, wenn er das Drachengebirge erst einmal hinter sich gelassen hatte. Tatsächlich war in der Ebene von Banda der Wind nicht mehr so eisig. Trotzdem musste der Schattenalp in der Nähe eines Baches landen, denn seine Glieder waren völlig steif. Außerdem hatte er Angst, dass er sich nicht mehr lange auf seiner Flugschale halten konnte. Ein Sturz aus großer Höhe wäre sein Tod gewesen.
Nachdem es ihm gelungen war, ein Feuer zu entfachen und ein Stück geräuchertes Fleisch aufzutauen, aß er es hastig auf. Dabei schaute er sich immer wieder um, denn das Heulen eines Wolfes zeigte ihm die Gefahr an, die bereits auf ihn lauerte.
Vagho trank noch einen Schluck aus seiner Kürbisflasche und löschte dann das Feuer. Für den Wolf war dies wohl das Zeichen zum Angriff. Doch Vagho hatte keine Lust, dem grimmigen Tier mit seinem Zauberstab Manieren beizubringen. Er setzte sich auf seine Flugschale, hüllte sich in seine Felle und stieg schnell in eine sichere Höhe auf.
Ohne sich noch einmal umzusehen, flog der Schattenalp davon und der Wolf sah ihm erstaunt hinterher. Der Flug ging weiter zu dem Fluss Brag, der die Ebene von Braganda in zwei Teile spaltete. Um den Flug über das raue Meer zu vermeiden, flog Vagho im weiten Bogen zu der alten Festung Zandum. Er hielt einen großen Abstand zu diesem Ort, damit ihn die Wachen des Königs Core nicht entdecken konnten.
Nach dem der Schattenalp eine zweite Rast in den Wäldern des Tieflandes eingelegt hatte, flog er geradewegs nach Süden. Hinter den Wäldern des Tieflandes empfing ihn ein wohltuend warmer Wind. Vagho streifte seine Felle ab und band sie zu einem Bündel zusammen, das er sich auf den Rücken binden konnte. Dann hielt er nach den Bergen des Silbergebirges Ausschau.
Die Sonne ging jedoch langsam unter und so musste der Schattenalp seine dritte Rast einlegen. Zu seinem Glück fand er in dem weiten und flachen Steppenland, das nördlich des Silbergebirges lag, einen großen Baum. Vagho überlegte nicht lange und kletterte einfach auf einen seiner dicken Äste. Er war nicht sehr bequem, doch er bot genügend Schutz gegen die Wölfe und andere Jäger der Nacht. Mit einem festen Seil konnte sich der Schattenalp so an den Baum binden, dass er im Schlaf nicht herunterfiel.
Die Nacht war jedoch von den Schreien der Eulen und Käuze erfüllt und die Wölfe jaulten so laut, dass Vagho kaum ein Auge zubekam. Immer wieder sah er sich um und seine rechte Hand fuhr mehr als einmal zu seinem Zauberstab. Doch er brauchte ihn nicht aus seinem Gürtel ziehen. Die Tiere griffen ihn nicht an. Als er am nächsten Morgen doch noch ein wenig Schlaf fand, da kamen ihm im Traum die Zentauren entgegen. Sie zerrten an ihren Sklavenhalsbändern und schrien ihn an. Er konnte sie nicht verstehen, doch er sah ihre Waffen. Sie drohten ihm und Vagho wollte immer weiter zurückweichen. Doch er konnte es nicht und er schrie vor Angst auf.
Der Schattenalp erwachte und sah in das Licht der Sonne. Sie war schon längst aufgegangen und Vagho brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass er nur geträumt hatte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und löste das Seil vom Baum. Bevor er herunterkletterte, sah er sich die nähere Umgebung an. Es war weder ein Feind noch ein Tier zu sehen und so schaute der Schattenalp nach Süden. Dort standen in all ihrer majestätischen Schönheit die Berge des Silbergebirges.
Vagho stand auf dem dicken Ast des Baumes, hielt sich an der rauen Borke des Stammes fest und betrachtete für einen Moment diese Berge. Sie waren wirklich so beeindruckend, wie er es schon so oft gehört hatte. Der Schnee, der selbst im Sommer auf den höchsten Gipfeln lag, glänzte im Schein der Sonne wie reines Silber.
Vagho kletterte geschickt vom Baum und suchte sich ein wenig Holz für ein Feuer. Er bereitete sich ein Frühstück vor und aß es dieses Mal in aller Ruhe auf. Nach dem der Schattenalp sich noch einmal umgesehen hatte, holte er seine Flugschale hervor und flog weiter nach Süden.
Die Landschaft veränderte sich schnell und Vagho betrachtete sie mit größter Aufmerksamkeit. Wie immer, wenn er einen gefährlichen Auftrag zu erfüllen hatte, musste er sich auch dieses Mal zu Ruhe zwingen. Der Schattenalp wollte nicht, dass der Reiz des gefährlichen Abenteuers ihm zu Kopf stieg.
Als die Hügel, die am nördlichen Rande des Silbergebirges lagen, immer größer wurden, entdeckte Vagho eine alte Straße. Er folgte ihr eine halbe Stunde, denn er ahnte gleich, dass sie ihn ein gutes Stück zu seinem Ziel führen würde.
Die Berge wurden immer höher und Vagho stieg mit seiner Flugschale immer weiter auf. Doch die Straße, die sich zwischen den Bergen wie ein Band hindurchschlängelte, führte ihn in die Nähe der Stadt Saphira. Immer wieder blockierten große Haufen von Steinen und Geröll diesen alten Weg der Wüstenzwerge. Hier und da war kaum noch etwas zu erkennen, doch als Vagho die erstaunlich gut erhaltenen Türme und die Stadtmauer von Saphira sah, da schlug ihm das Herz bis zum Hals hinauf. In seinen Ohren dröhnte jeder einzelne Schlag.
Eine halbe Meile vor dem großen Stadttor landete der Schattenalp. Er sah sich sogleich die nähere Umgebung an. Die Stadt lag vor ihm auf einer erstaunlich weiten Hochebene. In großem Abstand umsäumten riesige Berge ihre Mauern und das Sonnenlicht konnte die meiste Zeit des Tages auf die löchrigen Dächer der verlassenen Häuser fallen. Nirgendwo stand ein Baum und nur wenige Büsche wuchsen auf dem Boden vor der Stadt. Selbst das Gras war nur spärlich vorhanden. Ein kühler Wind zog von der Stadt zu dem Schattenalp.
Vagho war ein Meisterdieb und er konnte sehr leicht wittern, wenn sich ihm jemand näherte. Er hielt die Nase in den Wind und er bemerkte sofort, dass eine große Gefahr in der Stadt lauerte. Der Geruch war eine unerklärliche Mischung aus Magie und den Tränen der Wut und Verzweiflung.
Hinter einem großen Felsen, der irgendwann von den Bergen ins Tal gestürzt war, versteckte sich der Schattenalp. Er hatte beschlossen, die Dunkelheit der Nacht zu nutzen. Doch das schaurige Schauspiel, das sich ihm im nächsten Augenblick bot, musste er sich ansehen.
Mit einem fürchterlichen Rumpeln und Quietschen öffneten sich langsam die beiden mächtigen Torflügel des Stadttores. Eine Horde Janus-Elfen kam heraus und ihre krächzenden Schreie jagten dem sonst so hart gesottenen Schattenalp einen eiskalten Schauer über den Rücken. Er duckte sich unwillkürlich noch dichter an den Felsen und schien mit ihm verschmelzen zu wollen.
Was er nun sah, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. Die Janus-Elfen sahen in ihren zerlumpten Kleidern schon sehr heruntergekommen aus. Doch die langen Krallen an ihren Händen, die großen Zähne und ihr grimmiger Blick zeigten Vagho, das mit ihnen nicht zu spaßen war.
Auf einer alten Kutsche, die schon längst keine Räder mehr hatte, flog eine unerwartet schöne Frau durch das Tor. Sie hatte drei ihrer hässlichen Dienerinnen davor gespannt und trieb sie mit einer Peitsche unbarmherzig zu Eile an. Die Schreie dieser Dienerinnen ließen Vagho das Blut in den Adern gefrieren. Sie selbst glich eher einer weißen Elfe, ohne die langen Krallen und die großen Zähne. Doch ihre zerrissenen Kleider zeigten dem Schattenalp, dass sie seit langer Zeit die Königin der Janus-Elfen war. Sie musste die sagenhafte Opyhra sein. Von ihr hatte Vagho schon so viele Geschichten gehört, doch er hatte niemals geglaubt, dieser Frau und ihren Dienerinnen zu begegnen.
Langsam flogen die Janus-Elfen an dem Felsen vorbei, hinter dem sich der Schattenalp versteckte. Immer wieder stießen diese Kreaturen ihre Schreie aus, und Vagho wagte es nicht mehr, zu atmen. In ihrer Mitte stand stolz die Königin auf der Kutsche und schwang die Peitsche. Bei jedem Knall, den die Peitsche machte, zuckte der Schattenalp zusammen.
Als sich der schaurige Tross entfernt hatte, kam Vagho langsam hinter dem Felsen hervor. Er atmete tief durch und sah, wie die Janus-Elfen in der Ferne verschwanden. Ein Haufen Gedanken jagte durch seinen Kopf und ihm war klar, dass er sich niemals mit der Königin Opyhra und ihrem Gefolge anlegen durfte. Das wäre sein Ende gewesen und der Schattenalp wollte noch ein Weilchen leben.
Er sah zu dem Stadttor, das sich langsam wieder schloss. Er wusste nicht warum, aber eine Idee schoss durch seinen Kopf und er holte seine Flugschale hervor. Vagho sprang auf und flog auf das Tor zu. Er hätte auch versuchen können, über das Tor zu hinwegfliegen, doch irgendetwas sagte ihm, dass er lieber durch das Tor fliegen sollte. Der Schattenalp schaffte es gerade so, zwischen den beiden hölzernen Torflügeln hindurchzuschlüpfen. Dann schloss sich das Tor und ein riesiger Balken schob sich in zwei eiserne Ringe, die an den beiden Torflügeln angebracht worden waren.
Vagho schaute sich um und versuchte zu wittern, ob sich jemand in seiner Nähe befand. Der Wind strich sanft über den großen Platz, der hinter dem Tor war. Er trieb einen Knäul trockener Grashalme vor sich hin und der Schattenalp konnte wittern, dass er im Augenblick allein in der Stadt war. Er schaute zum Tor und zu der Mauer, die rechts und links vom Tor wegführte. Nun wurde ihm klar, warum er plötzlich die Idee zum Flug durch das Tor hatte. Über der Stadt lag ein magischer Fluch. Wer über die Mauern kam, dem würde etwas Schreckliches widerfahren. Vagho konnte die Magie dieses Fluches wittern. Er kannte diese Elfenmagie nur zu gut. Sie war so alt, wie es die Elfen selbst waren.
Eine Tür, die eben noch weit offen stand, wurde plötzlich vom Wind zugeschlagen. Vagho sah zu ihr und er zog sofort seinen Zauberstab. Doch niemand griff ihn an und er hörte sein Herz in seiner Brust schlagen. Langsam sah er sich um und ging auf ein bestimmtes Haus zu, es war größer als die Häuser, die rechts und links danebenstanden. Vorsichtig ging der Schattenalp die Stufen hoch, die zum großen Portal des Hauses führten. Er versuchte, die Tür zu öffnen, doch sie war fest verschlossen. Vagho trat einen Schritt zurück und schaute nach oben. Über der Tür war eine Reihe Fenster, die alle mit hölzernen Fensterläden verschlossen waren.
Der Schattenalp holte seine Flugschale hervor und umkreiste langsam mit ihr das Haus. Es musste einst einem reichen und mächtigen Wüstenzwerg gehört haben, denn es war noch immer prächtig anzuschauen. Im Dach zeigte sich ein großes Loch, durch das Vagho mit Leichtigkeit eindringen konnte. Er landete auf dem Dachboden und sah sich um. Der Staub von Jahrhunderten lag dick auf den Dielen und er überdeckte auch eine Menge Kisten und Truhen. Überall lagen zerrissene Säcke und zerbrochene Krüge herum. Das war ein sicheres Zeichen, dass hier jemand etwas gesucht hatte.
Vagho öffnete die einzige Tür, die er fand. Ein hässliches Quietschen war zu hören und er zog wieder seinen Zauberstab. Mit ihm konnte er die nähere Umgebung gut erhellen. Hinter der Tür war eine Treppe, die in das Stockwerk unter dem Dachboden führte. Vorsichtig schlich der Schattenalp diese Treppe hinunter. Dann sah er sich in dem Stockwerk um. Er befand sich nun in einem geräumigen Flur. Vier Türen und eine weitere Treppe waren im Lichtschein des Zauberstabs zu erkennen.
Vagho öffnete die erste Tür und sah in das Zimmer hinein. Er fand ein Schlafgemach vor, so wie es sich nur wohlhabende Kaufleute leisten konnten. Die Verzierungen an den Schränken und an dem großen Bett, das in der Mitte des Raumes stand, zeigten deutlich den einstigen Reichtum eines Kaufmanns. Der Schattenalp verließ das Gemach und sah in das zweite Zimmer hinein. Das war für ihn schon viel interessanter, denn er hatte das Arbeitszimmer des Kaufmanns gefunden. In der Mitte dieses Zimmers stand ein mit Pergamenten überhäufter Tisch. Daneben lag ein umgestoßener Stuhl. Noch immer war an dem abgeschabten Lederpolster gut zu erkennen, dass hier ein Zwerg viel Zeit mit seinen Briefen und Rechnungen verbracht hatte. Er musste viele Tage und Nächte an diesem Tisch gearbeitet haben.
An der Wand, rechts neben dem Tisch befand sich eine große eingerahmte Karte der Stadt und der näheren Umgebung. Sie war vergilbt und hatte einige Löcher von den Holzwürmern, die sich überall durch die Balken und die Möbel fraßen. Doch es war noch gut zu erkennen, wo sich der einstige Sitz des Königs befand. Deutlich war auf der Karte das Abbild einer Burg zu sehen, die auf einem Felsen stand. Darunter war ein Tor eingezeichnet und daneben stand etwas geschrieben. Vagho sah sich die Schrift genauer an und las sie sich vor. »Das Bergwerk von Saphira ist unser heiligster Besitz. Es befindet sich unter dem Thron unseres geliebten Königs. Lang möge er leben, sodass wir ihm dienen können.«
Der Schattenalp lächelte vor sich hin. Bestimmt gab es da noch etwas für ihn, das sich lohnen würde. Er drehte sich zum Tisch um und sah sich die Pergamente an, die auf ihm lagen. Bei all dem Durcheinander war ihm sofort klar, dass auch hier schon jemand vor ihm nach etwas bestimmten gesucht hatte. Die meisten Schriften erwiesen sich als Rechnungen und Bestellungen. Langweilige Briefe und Berichte waren auch dabei und Vagho verlor bei der Durchsicht der Pergamente schnell das Interesse. Doch ein Brief erregte seine Aufmerksamkeit. Er war nicht in der üblichen Schriftform verfasst und las sich eher wie eine flüchtige Notiz.
Leise flüsterte der Schattenalp die Worte vor sich hin, die auf dem Brief standen. »Mein Freund Anzel. Ich habe ihn versteckt und man kann ihn nicht so leicht finden. Er ist in unserem geheiligten Bergwerk. Er wird bewacht und sie ruhen nie – die Wachen, die ich rief. Wir werden wiederkommen und nur wir können ihn nehmen. Nur mit ihm kann man die Truhe öffnen. Wir werden die Kreaturen beherrschen und ihre Kraft wird unsere Feinde zerschmettern. Ich versichere Dir, mein Freund, wir werden dann über unsere Feinde herrschen. Dein Freund Saltar.«
Obwohl das Wort ‚Schlüssel‘ in diesem Brief nicht stand, konnte sich Vagho denken, dass nur so etwas gemeint sein konnte. Ihm war auch sofort klar, dass er in diesem Bergwerk den Schlüssel finden musste, wenn er die Gorgoden haben wollte.
Der Schattenalp sah sich ein wenig um, doch es gab nichts Wichtiges zu entdecken. Er wollte das Zimmer schon wieder verlassen, da fiel sein Blick auf ein Buch. Es lag unter dem Tisch und war völlig verstaubt. Vorsichtig hob Vagho das Buch vom Boden auf und legte es auf den Tisch. Dann schlug er es auf und las die erste Seite durch. Er hatte das Tagebuch des Kaufmanns Anzel gefunden. Die meisten Eintragungen, die darin standen, waren für den Schattenalp nicht weiter wichtig. In seinem Tagebuch beschrieb Anzel, wie er seine Geschäfte erledigte und seine Kunden belieferte. Einige von ihnen musste dieser Anzel ordentlich über den Tisch gezogen haben, denn er verlieh auch Geld zu erstaunlich hohen Zinsen. Die letzten Seiten waren jedoch sehr interessant. Anzel beschrieb, wie er sich mit dem Magier Saltar verbündete. Sie hatten die Absicht gehabt, die Stadt unter ihre Kontrolle zu bringen und das alte Königtum wieder aufzubauen.
Vagho las sich die letzte Seite leise vor. »Saltar hat also den Schlüssel in unserem heiligen Bergwerk versteckt. Die Sklaven, die ich gekauft habe, sind alle an diesem Ort umgekommen. Wie hat dieser Magier das nur geschafft? Jetzt tanzen ihre Seelen als Geister durch unser Heiligtum und bewachen den größten Schatz, den wir je besaßen. Nur dieser Magier und ich, wir beide wissen, wie man sich den Schlüssel holen kann. Es war nur ein Zufall, dass wir die wahre Bedeutung der Gorgoden erkannten. Jedoch wird es kein Zufall sein, wenn wir sie einsetzen. Saltar weiß, wie man sie beschwört, diese drei wunderbaren Bestien. Ich hoffe nur, das mein neuer Trick mit der Tinte …«
Vagho sah sich das letzte Wort erstaunt an und rieb sich mit der linken Hand das Kinn. Mit der rechten Hand hielt er immer noch seinen Zauberstab und beleuchtete mit ihm die Seiten des Buches. Die Gedanken rasten durch seinen Kopf und er versuchte, sie zu ordnen. Irgendetwas oder irgendjemand hatte den Kaufmann am Weiterschreiben gehindert. Auf dem unteren Teil der letzten Seite war ein Fleck. Die vielen Jahre hatten ihn dunkel werden lassen, doch der Schattenalp konnte sich denken, dass es Blut war. Jemand musste Anzel mit Gewalt gehindert haben. Doch was für einen Trick hatte er mit der Tinte angestellt?
Vagho sah sich das Buch genauer an und prüfte mit seinem Zauberstab die leeren Seiten des Tagebuchs. Auf der letzten Seite zeichnete sich tatsächlich im Schein des Zauberstabs eine Karte des Bergwerks ab. Am Rand dieser Karte standen einige Worte. Der Schattenalp flüsterte sie sich mit einem hässlichen Grinsen zu. »Die Sklaven erbauten den Altar im Bergwerk. Verneige dich vor dem Schöpfer und du findest den Schlüssel.«
Ein Geräusch ließ Vagho in die Höhe fahren. Hastig riss er die letzte Seite aus dem Buch und das Licht seines Zauberstabs verschwand. Ihm war sofort klar, dass er nicht mehr allein war. Ein leises Rauschen zog an der Tür des Arbeitszimmers vorbei und der Schattenalp konnte deutlich den Geruch einer Janus-Elfe wahrnehmen. Langsam entfernte sie sich wieder und Vagho atmete erleichtert auf. Er wusste nicht, ob er einen Kampf gegen eine einzige dieser Kreaturen überhaupt gewinnen konnte und er wollte es auch nicht herausfinden. Doch er würde sich mit allen Kräften wehren, wenn er angegriffen würde.