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Schwanghaus lag mitten in einem Felderteppich, auf dem es gerade wieder zu wachsen und zu blühen begann. Ein alter Fendt Farmer fuhr vor ihnen durch den Ortskern. Gerade wurde Gülle ausgebracht, überall roch man das. Ulrike, die das Landleben nicht gewohnt war und eher mit dem Geruch von Ruß und Kohle aufgewachsen war, wurde etwas unwohl davon.
Vor einem Gebäude, das allem Anschein nach der Kindergarten sein musste, von dem Franka erzählt hatte, befand sich ein kleiner, gepflegter Spielplatz. Zwischen den bunten Häuserfassaden und den freundlichen Vorgärten konnte man noch das eine oder andere Fachwerk erkennen.
Einige Anwohner nutzten den Nachmittag für einen Spaziergang, streckten die Köpfe in die lang ersehnte Frühlingssonne. Andere verweilten in den Einfahrten der Bauernhöfe entlang der Hauptstraße, unterhielten sich mit den Bewohnern. Eine ältere Dame leerte einen Putzeimer im Gully neben dem Gehweg, ein junger Mann in blauer Arbeitshose schraubte an einem Motorrad herum. Kinder spielten in den Gärten Fußball oder schaukelten, irgendwo wurde der erste Grill angeschürt.
Im Ortszentrum strahlte die gelb verputzte Kirche mit dem dunklen geschieferten, hoch aufragenden Turm in der Sonne, unweit davon befand sich ein Gasthaus, auf dessen Außenterrasse grüne, wuchtige Sonnenschirme Schatten spendeten. Ein Mann saß an einem der kleinen Tische, vor sich ein Weißbier, den rundlichen Bauch in eine enge Radlerkluft gepresst.
Ulrike schoss wieder das Bild der übel massakrierten Leiche von Leonard Berger in den Sinn. Es schien kaum möglich, es mit diesem freundlichen Ort in Verbindung zu setzen. Aus Erfahrung wusste sie jedoch, es konnte gleichermaßen hilfreich wie hinderlich sein, sich auf ein Gefühl zu verlassen. Die Aufklärung von Kriminalfällen war wie menschliches Verhalten schwer zu berechnen oder vorherzusehen, oft waren Dinge genau so, wie sie schienen, und ebenso oft waren sie es nicht.
Ulrike legte den Kopf schief und erinnerte sich an die letzte Woche, den alleinigen Einzug in die neue Wohnung, Thorstens Unfähigkeit, ihr in die Augen zu sehen, als sie ihre letzten Sachen abgeholt hatte. Vier Jahre hatte es diesmal nur gebraucht, vier Jahre, dann war wieder alles vorbei gewesen. Sie presste die Hände zusammen. Zumindest in diesem Fall musste sie einen klaren Kopf behalten.
Franka Brandls Cousine Stefanie Schweiger lebte in einem minzfarbenen Haus in einer Straße oberhalb des Friedhofes. Im Vorgarten wuchsen Krokusse und Narzissen. Sie stand schon in der Tür und winkte den beiden zu. Ulrike stieg aus dem Wagen und schaute sich um. Der Drosselweg war in warmes Abendlicht getaucht. Zwischen den gepflegten Reihenhäusern, den Blumen und den gekehrten Gehwegen nahm sie am Ende der Straße einen Mann wahr, der im Eingang eines Holzhauses lehnte. Neben ihm stand ein Betonmischer, ein Bauzaun säumte Haus und Garten. Der Mann war um die dreißig, hatte dunkelbraune, kurz geschorene Haare, trug einen Blaumann und rauchte eine Zigarette. Bis zur Haustür spürte Ulrike seinen Blick in ihrem Rücken, und als sie sich noch einmal umdrehte, stand er immer noch genauso da. Er schien zu überlegen, dann hob er die Hand kurz zum Gruß, nickte freundlich und kehrte ins Haus zurück.
»Ich hab Kaffee gemacht«, sagte Stefanie Schweiger und bat ihre Gäste an den großen runden Holztisch, auf dem ein blumiges Osterarrangement drapiert war. Sie war sichtlich nervös, wuselte umher, stellte Kekse auf den Tisch und fragte Ulrike zweimal, ob sie Zucker oder Milch wolle. In dem kleinen Haus schwebte kein Staubkorn durch die Lüfte, die Kissen auf dem Sofa waren aufgeschüttelt, die Decke sauber gefaltet, der Glastisch davor poliert.
Stefanie Schweiger war genau wie ihre Cousine blond und hatte grüne Augen, trug ihr Haar im kurzen, sportlichen Bob, war etwas pummelig und hatte eine schwarze Brille auf der Nase. Sie war Mutter von zwei Kindern, seit sechs Jahren verheiratet und kaum dreißig Jahre alt.
»Die Kleinen sind heut Nachmittag bei der Oma«, sagte sie und fuhr sich durchs kurze Haar. »Braucht ihr noch was?«
Erst als die Frage verneint wurde, setzte sie sich und nippte an ihrem Kaffee.
»Wie lang leben Sie schon hier?«, begann Ulrike und beobachtete, wie Stefanie Schweiger an dem kleinen Deckchen herumnestelte, auf dem die Osterdeko stand: ein Strauß Narzissen und einige aufwendig verzierte Ostereier, die in einem dunklen Holzgeflecht lagen.
»Seit fünf Jahren. Tom, mein Mann, der kommt von hier. Wir waren erst bei seinen Eltern in der Einliegerwohnung, dann haben wir das Grundstück günstig gekauft, gebaut und sind dann hierher. Genau.« Sie lachte nervös.
»Das ist keine Vernehmung, Steffi«, sagte Franka und legte ihrer Cousine beruhigend die Hand auf den Arm. »Frau Kork hat nur ein paar Fragen zu dem, was du mir heut Morgen erzählt hast.«
»Ja, ich weiß. Ich will ja nur nichts Falsches sagen, niemanden belasten oder so. Ich weiß ja nichts, ich hab das ja auch nur gehört.«
»Kannten Sie den Herrn Berger?«
»Na ja, ›kennen‹ nicht. Man wusste schon, wer es ist. Er war ja auch irgendwie auffällig. Da hat man schon öfter mal einen Blick riskiert, wenn man ihn gesehen hat, beim Einkaufen oder im Ort.«
»Und es wurde über ihn geredet?«
Stefanie nickte. »Ja, es wurde viel über ihn geredet. Warum er hier ist, was er macht und so weiter. Also, ich hab das nur gehört von den Müttern im Kindergarten und in der Nachbarschaft. Irgendwann hieß es, dass er wohl eine Minderjährige vernascht hätte. Also, eine Schülerin. Aber ich weiß auch gar nicht mehr genau, wer mir das gesagt hat. Und ob das überhaupt stimmt.« Sie atmete tief durch und trank erneut von ihrem Kaffee.
Ulrike horchte auf. Irgendetwas machte sie stutzig. »Wie war die Stimmung hier im Ort dem Herrn Berger gegenüber?«
Stefanie Schweiger überlegte einen Moment, bevor sie antwortete. »Das kann man nicht genau sagen. Aber als das rauskam … Das kann ja jeder verstehen, wenn man dann eher nicht mehr so positiv über jemanden denkt.« Sie setzte erneut die Tasse an, stellte sie dann mit klammen Fingern wieder ab und blickte zwischen Ulrike und ihrer Cousine hin und her. »Mehr kann ich über den Herrn Berger auch nicht sagen.« Ihre Stimme drohte zu brechen.
»Fühlen Sie sich wohl hier? In Schwanghaus?«
Stefanie Schweiger nickte heftig. »Ja, sehr, es ist ein wirklich schöner Fleck. Die Kinder lieben es auch. Wir sind sehr glücklich hier.«
Ulrike lächelte sie an. »Alles klar, Frau Schweiger. Danke für Ihre Zeit. Wir melden uns, falls wir noch Fragen haben. Es könnte sein, dass Sie nach Neumarkt kommen müssen, um eine Aussage zu machen. Wäre das möglich?«
Stefanie Schweiger sah beunruhigt zu Franka Brandl, die ihr ermutigend zunickte. »Ja klar, ich denk schon.«
»Vielen Dank! Sie haben uns sehr geholfen«, sagte Ulrike freundlich und schüttelte ihr die Hand.
»Wir sehen uns«, fügte Franka Brandl hinzu, drückte ihre Cousine, dann traten sie zurück in die Abendsonne.
Ulrike visierte das Holzhaus mit der Baustelle an. Der Mann im Blaumann stand wieder an der Tür und rauchte.
Als sie gerade in den Wagen gestiegen war, klingelte ihr Handy. Yusuf Kayas tiefe Stimme raunte durch den Hörer. »Wir haben bei Bergers ehemaliger Schule angerufen, aber da war heut keiner mehr. Wir müssen es morgen noch mal versuchen. Die Kollegen in München waren bei dem Sohn Anton Berger zu Hause und haben mit ihm gesprochen. Er kommt morgen vorbei. Hat sich bei der Frau Schweiger noch was ergeben?«
Franka Brandl ließ den Motor an, und der Wagen rollte um die Straßenecke.
»Ich ruf gleich zurück«, sagte Ulrike unvermittelt und legte auf. »Bleiben Sie stehen, Frau Brandl!« Im Rückspiegel konnte man gerade noch das Haus von Stefanie Schweiger sehen sowie ein Stück der Straße rechts davon. »Schalten Sie den Motor aus.«
Für einen Augenblick geschah nichts, dann schlenderte tatsächlich der Mann im Blaumann langsam den Gehweg entlang, direkt auf Stefanie Schweigers Haus zu. Davor angekommen, drehte er sich kurz um und entdeckte den Streifenwagen in der Kurve. Er holte sein Handy aus der Tasche, blickte darauf, ging dann beiläufig weiter die Straße hinunter und verschwand schließlich aus Ulrikes Blickfeld. »Bitte drehen Sie und fahren Sie ein Stück zurück.« Sie drückte die Wahlwiederholung auf ihrem Handy. Yusuf Kaya nahm das Gespräch ungehalten entgegen. In knappen Worten berichtete sie ihm von dem Besuch bei Stefanie Schweiger. »Eine Sache noch«, sagte sie am Ende des Gesprächs. »Drosselweg 28. Ich will wissen, wer da wohnt.«
Sie schaute wieder aus dem Fenster, die Straßen waren leer, der Himmel blutrot gefärbt. Ulrike dachte an das Gespräch mit Stefanie Schweiger und war sich nun sicher: Die junge Frau hatte vor irgendetwas Angst gehabt.
***
Hallo du,
ich wollt dich nicht erschrecken vorhin. Tut mir leid. Sei mir nicht böse. Nur ein schneller Brief heute, um dir zu sagen, dass ich das war an deinem Fenster.
X.
4
Im Lichtkegel der Straßenlaternen schwirrten Insekten im Kreis, dicke Motten ließen sich flatternd auf den Leuchten nieder. Die Straßen waren zu dieser späten Uhrzeit fast leer, nur ab und zu rauschte noch ein Auto über die Kreuzung. Ulrike saß noch immer hinter dem Schreibtisch am Fenster. Sie blätterte im Tatort- und Spurensicherungsbericht, studierte den rechtsmedizinischen Befund sowie ihre eigenen Aufzeichnungen. SCHWANGHAUS, stand in großen schwarzen Lettern auf einer Seite. Immer wieder zeichnete sie den Ortsnamen nach, bis das Papier fast rissig war. Erst am späten Nachmittag hatten die Kollegen mit den Befragungen der Nachbarschaft in dem Örtchen begonnen. Zu Ulrikes Verärgerung lag der Bericht dazu noch nicht vor.
Auch wenn sie wusste, dass es noch zu früh war, sinnvolle Schlussfolgerungen anzustellen, versuchte sie krampfhaft, zwischen all den Zetteln irgendetwas zu erspähen. Der Gedanke an die leere Wohnung, an all die Umzugskartons ließ sie frösteln, und so hatte sie beschlossen, noch zu bleiben. Yusuf Kaya hatte ihr widerwillig das Sofa in seinem Büro für den Notfall angeboten. Sie wollte nicht schlafen, doch ihre Augen begannen zu schmerzen, und ihr Kopf wurde von Minute zu Minute schwerer. Als sie noch jünger gewesen war, hatte sie nächtelang durchgearbeitet. Sobald es Nacht wurde und alle im Bett waren, sobald sie allein war, wurde sie damals noch von einer seltsamen Energie durchflutet, die jeden Anflug von Müdigkeit zunichtemachte und ihr einen so klaren Blick auf Zusammenhänge gestattete, wie es am Tag nie möglich gewesen wäre.
Lutz hatte das nie gemocht. Ständig war er nachts aufgestanden, hatte sich neben ihren Schreibtisch gestellt wie ein Schlafwandler und sie gebeten, nun endlich ins Bett zu kommen, er könne sonst nicht einschlafen. Irgendwann war sie dann einfach im Präsidium geblieben, aber das hatte es nur schlimmer gemacht. Die Nachtschwärmerei hatte sie sich Lutz zuliebe also abgewöhnt. Zur Scheidung war es trotzdem gekommen. Jeder Versuch, danach in den Zustand der nächtlichen Konzentration zurückzukehren, war erfolglos geblieben, und so schien es auch heute.
Ulrike stützte den Kopf auf den Händen ab. Aus dem Augenwinkel nahm sie das blinkende Handy neben dem Computerbildschirm wahr, das sie an all die Anrufe und Textnachrichten erinnerte, die sie seit Tagen, seit der Trennung von Thorsten, erreichten und bislang noch unbeantwortet geblieben waren. Sie drehte es um und blickte auf ihre Armbanduhr. Es war bald Mitternacht.
Ein letztes Mal beschloss Ulrike, alle Ermittlungsergebnisse des heutigen Tages zu ordnen. Sie rekapitulierte: Leonard Berger war vor einigen Tagen in seinem Haus brutal niedergestochen worden. Die Einschnitte in Brust und Bauch hatten jeweils eine Länge von etwa drei bis vier Zentimetern und waren bis zu acht Zentimeter tief. Man ging davon aus, dass es sich bei der Mordwaffe um ein großes Küchenmesser oder einen ähnlichen Gegenstand handelte, sicher konnte man das allerdings nicht sagen. Die Tür war nicht aufgebrochen worden, entweder hatte sie offen gestanden oder Berger hatte den Mörder hereingelassen, weil er die Person kannte. DNA-Spuren und Fingerabdrücke waren ans kriminaltechnische Labor weitergeleitet worden, Ergebnisse wurden bis zum Ende der Woche erwartet.
Auf den ersten Blick wirkte Nebeleck völlig verwahrlost, die Wohnung provisorisch, die Einrichtung zusammengewürfelt, das Mobiliar heruntergekommen. Mitten im Wald hatte sich Leonard Berger ein letztes Refugium der Trostlosigkeit erschaffen, in dem er hauste wie ein Obdachloser, als gehörte ihm das nicht, als ginge es ihn nichts an. Ein bisschen Holz schien er zu machen, manchmal kochte er wohl, den ungewaschenen Töpfen und Pfannen in der Küche nach zu urteilen. Alkoholischen Getränken gegenüber war er nicht abgeneigt, wie die zahllosen Flaschen und Bierkästen in der Abstellkammer neben der Küche zeigten. Bemerkenswert war seine Angewohnheit, Papiere und Dokumente zu horten, die stapelweise in seinem Arbeitszimmer gefunden worden waren. Sie befanden sich in Kartons neben dem Schreibtisch, quollen aus Ordnern oder lagen lose verstreut herum. Er schien sich nie die Mühe gemacht zu haben, sie ein- oder auszusortieren.
In all dem Chaos wirkten das große bunte Kissen von Theo vor dem Ofen und die grün angestrichene Hundehütte im Zwinger neben der Scheune wie die einzigen Orte der Gemütlichkeit. Berger hatte seinen Hund geliebt, so viel war sicher.
Er war vor einem Jahr aus Regensburg hierhergekommen. Finanziell schien er nicht schlecht gestellt gewesen zu sein, doch der Hofkauf hatte seine gesamten Reserven verschlungen. Nebeleck und den dazugehörenden Grund sowie ein kleines Stück Wald hatte er sofort bezahlt, ohne Kredit und ohne Raten für den stolzen Preis von über vierhunderttausend Euro. Ein Rückzugsort für seinen Lebensabend hätte es sein können, vielleicht hatte er extra dafür gespart.
Fotos von Berger, die sich im Internet finden ließen, vermittelten den Eindruck eines attraktiven, freundlichen Mannes, der seine Arbeit liebte. Die Freistellung im letzten Jahr schien plötzlich gekommen zu sein, vielleicht für ihn unerwartet, und inwieweit das mit einer Schülerin zusammenhing, konnte man noch nicht sagen. Es hatte keine polizeiliche Untersuchung stattgefunden. Genaueres würde man vermutlich in den nächsten Tagen von der Schule selbst erfahren können.
Diese ersten Erkenntnisse fügten sich zu dem Bild eines Mannes zusammen, der ganz plötzlich und unvermittelt sein geordnetes Leben aufgegeben hatte und schließlich auch sich selbst. Ulrike schloss die Augen und sah wieder seine Leiche vor sich. Ein schöner Mann war er trotzdem geblieben. Auch all das Blut konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Leonard sich selbst mehr gepflegt zu haben schien als das Haus, in dem er lebte.
Sie seufzte und blickte wieder auf den Zettel mit den großen schwarzen Lettern. SCHWANGHAUS. Auch im Dörfchen in der Abendsonne, in dem es immer nach frisch gemähtem Gras und herzhaftem Grillgut zu riechen schien, lebten schwarze Schafe. Stefanie Schweigers Nachbar aus dem Drosselweg war der Polizei kein Unbekannter. Auf einem Stadtfest hatte er letztes Jahr schwer alkoholisiert mit einigen Bekannten einen Mann zusammengeschlagen. Eine Strafanzeige wegen gefährlicher Körperverletzung wurde später fallen gelassen. Matthias König, zweiunddreißig Jahre alt und Schlossermeister mit eigenem Betrieb, war bei der Schlägerei wohl als Rädelsführer in Erscheinung getreten und hatte irgendwann mit einer Bierflasche auf den wehrlosen Gegner eingeprügelt. Unklar blieb, worum es dabei gegangen war.
Ulrike rieb sich die Augen. Warum sie sich für König interessiere, hatte Yusuf Kaya sie gefragt. Nur ein Gefühl, hatte sie geantwortet. Es gab bislang keine Verknüpfungspunkte zwischen Leonard Berger und Matthias König, auch nicht zu irgendjemand anderem aus dem Ort. Dennoch kannten ihn die Leute, dennoch zerrissen sie sich das Maul über ihn. Es musste eine Verbindung geben!
Ulrike blickte auf die Straße, die Straßenlaternen, in deren Licht die Motten umherschwirrten, und auf die Ampel an der Kreuzung, die zu dieser Uhrzeit nicht mehr von Rot auf Grün umschaltete, sondern nur noch orange blinkte. Sie hatte das Gefühl, irgendetwas zu übersehen, irgendetwas ergab keinen Sinn.
Sie schloss die Lider und massierte ihre Augäpfel. Dann kapitulierte sie und ordnete die Blätter, als ihr plötzlich die Zeugenaussage von Tamara Huber in die Hände fiel.
»Der Hund«, sagte sie laut. Sie schaltete die Schreibtischlampe aus und griff nach ihrem Autoschlüssel.
Keine Minute später saß sie hinter dem Steuer ihres Wagens und machte sich über die menschenleeren Straßen auf den Weg nach Schwanghaus. Theo, Bergers Hund, war mittlerweile im Tierheim. Berger hatte seinen Hund geliebt, der Hund ihn genauso. Am Ende war Theo es gewesen, der die Polizei zu seiner Leiche geführt hatte. Aber warum erst so spät? Konnte man dem rechtsmedizinischen Befund Glauben schenken, so lagen Tage zwischen der Ermordung Bergers und der Kontaktaufnahme des Hundes zu Tamara Huber, dabei waren die Waldwege gut besucht. Das große Tier hätte doch schon früher auffallen müssen, hätte schon früher auf sich aufmerksam machen können!
Nach etwa zehn Minuten Fahrt kam Ulrike zu dem Waldweg, der von der Landstraße direkt nach Nebeleck führte. Sie bog ab, der steinige Boden knirschte unter den Reifen. Die Bäume warfen im Scheinwerferlicht gespenstische Schatten. Ulrike schaltete das Radio an. Aus den scheppernden Lautsprechern brüllte ihr ein Volksmusiker entgegen. Sie schaltete es wieder aus.
Nebeleck lag in völliger Dunkelheit. Nicht mal der Mond spendete etwas Licht. Ulrike öffnete ihr Handschuhfach und holte eine große schwarze Taschenlampe hervor. Als sie aus dem Auto stieg, vernahm sie eine unangenehme drückende Stille, dann hatte sie im nächsten Augenblick das Gefühl, aus jeder Richtung käme ein Geräusch, beinah so, als wäre sie nicht allein. »Reiß dich zusammen, Ulli«, sagte sie zu sich selbst und ging festen Schrittes mit eingeschalteter Lampe auf den Hof zu.
Der Hundezwinger befand sich unterhalb der Scheune, im fahlen Schein der Taschenlampe wirkte er geradezu gespenstisch, wie ein kleines Gefängnis oder ein Kerker. Die Schatten der Gitterstäbe bewegten sich im Licht, je näher Ulrike dem Zwinger kam. Vor der Hütte sah sie die beiden Hundenäpfe aus Edelstahl, einer mit Wasser, der andere zur Hälfte mit einem Gemisch aus Nass- und Trockenfutter gefüllt. Ihre Ahnung bestätigte sich, denn hierfür schien es nur eine plausible Erklärung zu geben: Jemand hatte den Hund gefüttert, und jemand hatte ihn heute früh aus dem Zwinger gelassen.
5
Es war neun Uhr, und das kleine Café vor den Toren der Stadt hatte gerade geöffnet. Ulrike ließ sich an dem einzigen Außentisch nieder, der zu dieser Tageszeit der Morgensonne ausgesetzt war. Ihre Glieder schmerzten, ihr Magen grummelte, und sie sehnte sich nach einem frischen, starken Kaffee. Augenscheinlich war sie mit ihren siebenundvierzig Jahren mittlerweile wohl einfach zu alt, um bis tief in die Nacht zu arbeiten und dann auf einer schwarzen Ledercouch zu übernachten.
Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte in den strahlend blauen Himmel über ihr, der wie schon am Vortag von keiner Wolke getrübt war. Dann beobachtete sie den vorbeifließenden Berufsverkehr auf der vor ihr liegenden Hauptstraße, die Fußgänger, die eiligen Schrittes an ihr vorbei durch das Stadttor in Richtung Innenstadt unterwegs waren, und lauschte auf die gedämpften Gespräche, die Motorengeräusche, das Klackern der Schuhsohlen auf dem Asphalt. Sie streckte die Beine aus und hielt das Gesicht wieder in die Sonne, nachdem sie bei der Kellnerin mit blondem Lockenkopf einen schwarzen Kaffee und ein französisches Frühstück bestellt hatte.
»Guten Morgen«, vernahm Ulrike plötzlich eine bekannte Stimme neben sich. Yusuf Kaya hatte sich vor ihr aufgebaut. »Darf ich?«
Sie nickte kurz und beobachtete, wie er sich auf den gegenüberstehenden Stuhl fallen ließ. »Jackie«, rief er der Bedienung zu, die darauf den Kopf zur Tür rausstreckte. »Morgen! Einen Milchkaffee bitte!« Sie hob den Daumen und verschwand dann eilig wieder im Inneren. »Sie sehen aus, als hätten Sie eine lange Nacht gehabt«, bemerkte Kaya und klang dabei etwas versöhnlicher als gestern. Seit ihrer Konfrontation war er ihr aus dem Weg gegangen und hatte nur einsilbig auf ihre Fragen und Anweisungen reagiert.
»Lass uns Du sagen, ich bin Ulrike«, entgegnete sie und streckte ihm ebenso versöhnlich die Hand entgegen in der Hoffnung, die Spannungen so etwas aufzulösen. »Was die lange Nacht betrifft, hast du recht. Ich war gestern noch mal beim Hof.«
Er runzelte die Stirn. »Allein? Warum?«
Ulrike erzählte von ihrem Einfall und der nächtlichen Entdeckung im Hundezwinger. »Ich bin keine Expertin, aber das Futter sah frisch aus, nicht wie etwas, das Berger schon vor Tagen hingestellt hätte. Noch dazu hätte Theo früher auf sich aufmerksam machen können, wäre er die ganze Zeit frei herumgelaufen.«
»Und er hat sich nicht selbst aus dem Zwinger befreit?«
Ulrike schüttelte den Kopf. »Keine Spuren am Schloss oder den Gitterstäben. Nichts. Jemand hatte einen Schlüssel, jemand hat ihn gefüttert, jemand hat ihn rausgelassen.«
»War es der Täter?«, fragte Yusuf.
»Ich kann mir das alles überhaupt nicht erklären. Warum hätte er gewollt, dass man die Leiche findet?«
Sie verstummte, als die blond gelockte Jackie mit einem Tablett neben dem Tisch erschien. Nachdem die Kellnerin den Kaffee und das französische Frühstück serviert hatte, nahm Ulrike ihren Gedanken wieder auf. »Und warum erst dann? Er kommt zum Hof, sticht Berger ab und kehrt ein paar Tage später wieder zurück …«
»… füttert den Hund und lässt ihn raus?«, ergänzte Yusuf.
»Völlig unvorstellbar«, sagte Ulrike und riss ein Stück von ihrem Buttercroissant ab.
»Möglicherweise gab es aber eine zweite Person auf dem Hof.«
»Schwer zu sagen. Vielleicht wäre es das Beste, die Spurensicherung durchkämmt noch einmal das Gebiet beim Zwinger.« Sie nahm einen Schluck Kaffee. »Wie steht es um die Befragungen in Schwanghaus? Wie weit seid ihr da? Ich warte immer noch auf einen Bericht.«
Yusuf stieß verärgert die Luft aus. »Die Kollegen sind gerade wieder vor Ort. So klein ist das Dorf nicht, mit dem Neubaugebiet sind das immerhin an die tausend Bewohner. Und außerdem denke ich, wir sollten uns eher auf Bergers direktes Umfeld konzentrieren. Wie zielführend kann es denn sein, jeden Nachbarn abzuklappern, zumal wir ohnehin schon wissen, dass Berger ein Außenseiter war?«
»Eben. Er war ein Außenseiter. Die Frage ist doch, warum. Es gibt kein direktes Umfeld.«
»Es gibt den Sohn, es gibt diese Geschichte mit der Schülerin«, gab Yusuf gereizt zurück.
»Das ist mir klar, aber was spricht dagegen, sich die nähere Umgebung anzuschauen? Wir müssen in alle Richtungen ermitteln«, warf sie ein.
»Mit welchem Personal? Uns werden jedes Jahr Gelder gestrichen, gleichzeitig bleibt auch das Tagesgeschäft nicht stehen, nur weil irgendein Wahnsinniger mit einem Küchenmesser durch die Gegend streift. Ich kann meine Leute nicht dazu abstellen, jeden Nachbarn in Schwanghaus zu befragen, es sei denn, die Inspektion in Regensburg schickt zusätzliches Personal.«
»Falls jemand im Ort etwas weiß, was gesehen hat, müssen wir das jetzt in Erfahrung bringen. Jetzt sofort. Du weißt, wie so etwas ist«, erwiderte sie.
»Mein Vorschlag ist, wir konzentrieren uns auf sein privates Umfeld, und dann sehen wir weiter.«
Er bedachte sie mit einem herausfordernden Blick, und Ulrike spürte, wie sie sich unwillkürlich verkrampfte. Sie beugte sich vor. »Das ist nicht der richtige Augenblick, um Kante zu zeigen, Yusuf. Ich leite die Ermittlungen, und ich möchte, dass das Dorf auf links gekrempelt wird. Der Bericht liegt heute Nachmittag auf meinem Schreibtisch.«
Sie lehnte sich zurück und trank von ihrem Kaffee. Er war kalt geworden.
»Euch geht’s gut? Braucht ihr noch was?«, flötete Jackie aus der Tür des Cafés in die drückende Stille hinein. Bevor einer der beiden antworten konnte, klingelte Yusufs Handy.
»Er ist da?«, hörte Ulrike ihn sagen, nachdem er das Gespräch angenommen hatte. Anton, dachte sie, wickelte den Rest ihres Croissants in eine Serviette und trank den letzten Schluck Kaffee. Yusuf legte auf und winkte Jackie zu.