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»Ich schreib’s an!«, rief sie ihm hinterher.
Anton Berger kam nach seinem Vater. Dieselben Augen, dasselbe Lächeln, das in dem Moment der Begrüßung schwach und flüchtig über sein Gesicht huschte. Er sah übernächtigt aus, das schwarze Polohemd war zerknittert und sein Haar leicht zerzaust. Seine Freundin war ebenfalls dabei, eine brünette Schönheit mit langen dünnen Beinen, vollen Lippen und einer frechen Stupsnase.
»Vanessa Lehmann, angenehm«, sagte sie und schüttelte Ulrikes Hand.
»Fischhändchen«, hatte ihre Großmutter immer gesagt, wenn Ulrike beim Handschlag nicht zudrückte. Ein Fischhändchen hatte auch Vanessa Lehmann gegeben. Sie wirkte unsicher und genau wie ihr Freund übernächtigt. Yusuf und Ulrike führten sie in Yusufs Büro, Ulrike schloss die Tür hinter ihnen und wies sie an, sich auf die Stühle vor Yusufs Schreibtisch zu setzen. Er stellte sich in den Türrahmen, Ulrike nahm auf seinem Stuhl Platz.
»Ich weiß nicht, wie viel die Kollegen in München Ihnen schon erzählt haben, Herr Berger, aber Ihr Vater wurde gestern früh –«
»Er wurde ermordet«, unterbrach Anton Berger sie, seine Stimme hatte eine seltsame Klangfarbe angenommen, als er diese drei Worte ausgesprochen hatte. Für einen Augenblick wurde es ruhig, Vanessa legte einen Arm um seine Schulter. Er blickte auf seine Hände, die flach auf den Oberschenkeln lagen. »Er wurde ermordet, ich weiß.«
»Ich kann mir vorstellen, wie sich das für Sie anfühlen muss. Ich verspreche Ihnen, dass wir unser Möglichstes tun werden, um denjenigen zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen, der das getan hat.« Ulrike hasste diese Momente, jedes Mal hatte sie das Gefühl, diese Worte, die sie sprechen musste, seien hohl und leer, aufgesetzt, völlig bedeutungslos.
Anton Berger sah schweigend aus dem Fenster. Es war still, nur die Stimmen der Kollegen im Großraumbüro drangen gedämpft herein.
»Mein Vater ist …«, begann Berger irgendwann mit zitternder Stimme, »mein Vater war nicht einfach. Und ich werde nicht lügen und behaupten, dass unser Verhältnis besonders gut war. Im Gegenteil. Aber er war kein schlechter Mensch. Die Umstände waren schwer.«
»Welche Umstände?«, fragte Ulrike.
»Meine Mutter ist vor fünf Jahren gestorben, und das hat er … Er hat’s nicht verkraftet. Bis heute nicht. Er hat’s versucht, aber er ist immer wieder eingeknickt.«
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
»Vor etwa zehn Monaten, im Juni letztes Jahr. Ich sage ja … Unser Verhältnis war nicht leicht. Er hat sich ja bemüht, es zu verbessern. Dann war er mal wieder für ein paar Monate präsent, hat angerufen, ist vorbeigekommen. Und dann war er wieder weg, ist abgetaucht, hat gesoffen, sich selbst bemitleidet. Er war nicht konstant. Er war kein Vater, auf den man sich wirklich verlassen konnte.«
»Und als Sie sich im Juni gesehen haben, wie war er da?«
Wieder bebte Antons Stimme. »Er war … Er war gut drauf damals. Er hat uns besucht, in München. Wir sind essen gegangen. Hat vom Hof erzählt, wie sich alles da entwickelt. Wir haben ihm versprochen vorbeizukommen … Daraus ist nichts geworden.«
Vanessa drückte seine Hand. »Wir wollten ja«, sagte sie, »aber er ist nicht mehr ans Telefon. Anton hat ihn nicht erreicht.«
»Können Sie mir sagen, wie es zu dieser Entscheidung kam, dass er den Hof gekauft hat?«
Anton zuckte mit den Schultern. »Sie kannten ihn nicht. Er war schnell zu begeistern, und spontan war er auch. Er hat ständig was anderes gehabt, was ihn interessiert … eine neue Ablenkung. Vom Hof hat er mir erst erzählt, als er längst da gelebt hat. Das war typisch für ihn, er hat es halt einfach gemacht. Job gekündigt, Hof gekauft, abgehauen. Als ich davon gehört hab, da hab ich mich nicht mal gewundert. Ich dachte sogar, dass es vielleicht gut ist, wenn er mal zur Ruhe kommt.«
Ulrike zögerte, bevor sie die nächste Frage stellte. »Herr Berger, es gibt da ein Gerücht über einen Grund, warum Ihr Vater so plötzlich gekündigt hat.«
Plötzlich veränderte sich die Atmosphäre im Raum, Ulrike konnte regelrecht spüren, wie Anton Berger seine Aufmerksamkeit schärfte. »Was für ein Gerücht?« Die Worte brachte er gepresst heraus, zischte sie beinah.
»Es gibt das Gerücht, dass Ihr Vater mit einer Schülerin angebandelt hat.«
»Schwachsinn!«, brachte Berger aufgebracht hervor. »Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, mein Vater war seltsam, er war verschroben, aber das … Das stimmt nicht.«
»Mit Verlaub«, schaltete sich Yusuf ein, »Sie haben Ihren Vater so lang nicht gesehen, Ihr Verhältnis war auch nicht das beste, wie können Sie da so sicher sein?«
Ulrike presste die Lippen aufeinander und beobachtete, wie sich Antons Augen zu Schlitzen verengten. »Ich weiß, dass mein Vater kein Kinderficker war!« Die letzten Worte brüllte er.
»Beruhig dich, Schatz«, sagte Vanessa leise und streichelte ihm über die Schulter.
Ulrike schaltete sich wieder ein. »Herr Berger, mein Kollege versucht nur, der Sache auf den Grund zu kommen. Wir unterstellen Ihrem Vater gar nichts, aber wir müssen jeder Spur nachgehen.«
Anton Berger schien sich langsam zu beruhigen, er schaute wieder aus dem Fenster. »Schon in Ordnung«, sagte er. »Haben Sie schon was anderes? Irgendwas?«
»Es ist noch zu früh, etwas zu sagen, aber wir gehen allen Spuren nach. Wir werden denjenigen finden, der Ihrem Vater das angetan hat.«
Berger war am Ende seiner Kräfte. »Kann ich hin? Auf den Hof?«
Ulrike nickte. »Ich begleite Sie.«
Ulrike beobachtete den kleinen Opel Corsa in ihrem Rückspiegel. Vanessa saß am Steuer, Anton neben ihr, den Kopf gegen die Scheibe gedrückt, die Augen geschlossen. Dann richtete sie den Blick wieder auf die Straße. Langsam zogen erste kleinere Wolken über den strahlend blauen Himmel. Laut Wettervorhersage sollte es heute noch regnen, dafür sprach bislang aber noch nichts. Sie wünschte sich fast den Regen herbei, dass es bald ein Ende nahm mit dieser absurden Idylle.
Ulrike atmete tief durch und rekapitulierte, was Anton Berger ihnen erzählt hatte. Sein Vater wirkte in seiner Beschreibung wie ein Fähnchen im Winde, sprunghaft, leicht depressiv. Vor diesem Hintergrund schien der Hofkauf wie eine Impulstat, eine plötzliche Eingebung in der Hoffnung, das eigene Leben zu verbessern, egal wie, egal wodurch. Und gleichzeitig wirkte der Kauf wie eine Flucht. Eine Flucht vor sich selbst und vielleicht auch vor etwas, das ihn am Ende doch eingeholt hatte.
Durch den Wald fuhr Ulrike geradewegs auf den Hof zu, der Opel Corsa kam neben ihr zum Stehen. Anton Berger stieg aus und schritt langsam und bedächtig auf das Gebäude zu. Sein Blick blieb am Zwinger hängen. »Theo«, wisperte er und schaute Ulrike dann an, »wo ist er?«
»Im Tierheim, Sie können ihn dort abholen, wenn Sie möchten.«
Anton nickte, dann ging er weiter. Er bewegte sich langsam wie ein Raubtier über das Grundstück, ohne den Hof aus den Augen zu lassen. Auf der riesigen Wiese vor der Scheune ließ er sich ins Gras fallen.
»Sie heißt Tanja«, sagte Vanessa Lehmann plötzlich. Sie hatte sich neben sie gestellt, lehnte sich an den Wagen und zündete sich eine Zigarette an. Sie inhalierte und warf dann ihre langen braunen Haare zurück.
»Wie bitte?« Ulrike schaute sie an. Mit geschlossenen Augen pustete Vanessa den Rauch langsam aus.
»Sie heißt Tanja«, wiederholte sie, »die Schülerin. Ihr Name ist Tanja Grass.«
Ulrike war sprachlos.
»Ich weiß nicht, warum er es Ihnen nicht gesagt hat. Irgendwie ist er damit nicht klargekommen, dass sein Vater jahrelang den Tod der Mutter nicht verkraftet hat, und dann ist plötzlich alles wieder gut, weil er eine Teenagerin vögelt.«
»Anton wusste davon?«
Vanessa nickte. »Ja, er wusste davon. Leonard hat es uns damals gesagt, als er uns besucht hat. Hat gesagt, dass sich jetzt endlich alles ändert. Dass er jetzt Tanja hat.«
Sie inhalierte erneut. Wie sie da stand und Anton beobachtete, der sich ins hohe Gras gelegt hatte, wirkte sie wie eine Löwenmutter. »Leonard war ein Scheißkerl. Es ging immer nur um ihn. Dass Anton auch seine Mutter verloren hat, dass er einen Vater gebraucht hätte, der sich um ihn kümmert, das hat er nicht verstanden. Er hat Anton sich selbst überlassen und ist währenddessen im Selbstmitleid versunken.«
Vanessa überlegte, bevor sie weitersprach. »Ich hätte mich nie zwischen Anton und Leonard gestellt, aber ich konnte nichts mit ihm anfangen. Hat seinen Sohn komplett alleingelassen, nichts für ihn getan. Wir sind seit drei Monaten verlobt«, sagte sie und hob ihre linke Hand, an deren Ringfinger ein kleiner Diamantring blitzte. »Wir haben ihm aufs Band gesprochen, er hat nicht mal zurückgerufen.«
»Und Tanja?«
»Tanja war Abiturientin, gerade fertig mit allem. Er hatte schon länger einen Blick auf sie, hat er erzählt. Ich weiß nicht, wie lang das schon ging mit denen. Aber alles sollte anders werden, mit ihr auf dem Hof. Er hat gesagt, er fühlt sich wie berufen. Ich glaube, das war der Moment, in dem Anton es gecheckt hat.«
»Was gecheckt?«
»Dass Leonard ein Scheißkerl ist. Und das ist nicht leicht für ihn. Besonders jetzt, wo er tot ist. Ein lebender Scheißkerl als Vater ist immerhin besser als ein toter. Ich glaub, er hat das mit Tanja nicht gesagt, weil er ihn so nicht in Erinnerung behalten wollte.«
Sie trat die Zigarette auf dem Boden aus, dann ging sie auf die Wiese und setzte sich neben Anton ins Gras. »Komm, wir holen Theo«, hörte Ulrike sie sagen. Sie hatte den Arm um seine Schultern gelegt. Er schaute sie an und lächelte dann vorsichtig.
Als die beiden sich verabschiedet hatten und ins Auto gestiegen waren, fielen nun doch die ersten Tropfen vom Himmel.
6
Der Regen prasselte mit solch einer Gewalt auf Ulrikes Windschutzscheibe, dass sie zwischen den Wassermassen und den hektisch hin- und herschnellenden Scheibenwischern die Straße vor sich nur schemenhaft erkennen konnte. Sie hatte sich auf der A 3 hinter einem Lkw eingeordnet. Fast in dem Augenblick, als sie beim Max-Schultze-Steig über die Donau fuhr, hörte es schlagartig auf zu regnen. Bald schon sah sie die Türme des Regensburger Doms vor sich, die von der wolkendurchbrechenden Sonne angestrahlt wurden.
Sechs Monate waren vergangen, seit sie die Stelle in Regensburg angetreten hatte. Es hätte ein Neuanfang für sie und Thorsten werden sollen, der als Kinderarzt in Straubing arbeitete. Zunächst war sie bei ihm eingezogen, dann hatten sie beide monatelang nach einer neuen Bleibe gesucht. Ihr großes Zugeständnis, eine vierjährige Wochenend-Ehe zu beenden, war allerdings zu spät gekommen. Die einhundert Quadratmeter große Wohnung im Regensburger Westenviertel hatte sie in der letzten Woche allein bezogen. Thorsten hatte die Beziehung kurz vorher für beendet erklärt, als hätte er nur darauf gewartet, dass sie eine Wohnung fand, damit sie ausziehen könnte. Jetzt stapelten sich ihre Kisten in den leeren Zimmern, ein paar Möbel standen verstreut herum. Die Wohnung fühlte sich fremd an, wieder allein zu sein war ihr hingegen schmerzhaft bekannt. Heiraten … Warum sie darauf drei Mal hereingefallen war, konnte sie sich nicht erklären. Vielleicht deswegen, weil sie in einer Ehe rechtlich gebunden war, ein zusätzlicher Anreiz, sich etwas mehr Mühe zu geben.
Ulrike öffnete die schwere Tür der lichtdurchfluteten Wohnung. Nach einer schnellen Dusche steckte sie ein paar Klamotten in eine Reisetasche, überprüfte den spärlichen Inhalt des Kühlschranks auf verderbliche Produkte und warf einen Blick in den Spiegel, den sie neben der Eingangstür aufgehängt hatte. Sie sah müde aus, die roten Haare wirkten ausgewaschen, der graue Mantel hing schlaff an ihrem Körper.
Ulrike schnaubte, sie musste Haltung bewahren, also straffte sie die Schultern, hängte den Mantel an den Garderobenhaken und zog sich stattdessen eine hellbraune Lederjacke über, knetete etwas Gel in ihre Haare und trug braunen Lippenstift auf.
»Lass dich nicht so hängen«, hatte ihre Großmutter sie immer gerügt. »Die Dinge werden auch nicht besser, wenn du rumläufst wie ein nasser Sack.« Eine garstige Frau war sie gewesen, bisweilen geradezu bösartig. Aber damit hatte sie recht behalten.
Ohne sich noch ein einziges Mal umzublicken, als hätte sie es eilig herauszukommen, verließ Ulrike die Wohnung und ließ die Tür krachend hinter sich ins Schloss fallen. Auf der Straße angekommen, warf sie ihre Reisetasche in den Kofferraum und machte sich auf den Weg zum St.-Augustinus-Gymnasium in der Regensburger Altstadt, wo sie einen Termin mit dem Schulleiter hatte.
Ein Hinweis auf eine Tanja hatte sich weder in den persönlichen Unterlagen Leonard Bergers noch im Wohnhaus finden lassen. Ohnehin hatte Ulrike das Gefühl, dass die Ermittlungen nur schleppend vorangingen. Vor wenigen Stunden hatte Yusuf ihr den Bericht über die Befragungen in Schwanghaus auf den Schreibtisch gelegt und in knappen Worten geschildert, dass kaum etwas dabei herausgekommen war. Keiner dort wollte etwas bemerkt haben von Bergers Ermordung, keiner wollte etwas über ihn gewusst haben.
Die Genugtuung, mit der Yusuf ihr das mitgeteilt hatte, hatte Ulrike so sehr missfallen, dass sie nur allzu gern nach Regensburg gefahren war, um ein paar Kleidungsstücke zu holen, den Schulleiter zu befragen und Tanjas Fährte aufzunehmen. Sie hatte das Gefühl, aus dem Tritt zu sein, und abgesehen von Yusufs Impertinenz ärgerte sie das am meisten. Sie musste sich etwas einfallen lassen, um Yusuf stärker Paroli bieten zu können, sie musste sich eine Strategie überlegen, wachsamer werden, scharfsinniger – als müsste sie sich beweisen, dass sie trotz allem zumindest eine gute Kriminalpolizistin war.
Das St.-Augustinus-Gymnasium, in dem Leonard Berger mehrere Jahrzehnte als Biologie- und Erdkundelehrer gearbeitet hatte, lag mitten in der Altstadt von Regensburg. Der u-förmige Kastenbau mutete fast herrschaftlich an. Je näher man ihm allerdings kam, desto heruntergelebter wirkte er.
Ulrike stellte das Auto mitten auf dem Innenhof ab und lief geradewegs auf den Eingang zu. Kaum hatte sie das Gebäude betreten, in dem es wie in jeder Schule nach Turnschuhen und Pausenbroten roch, vernahm sie schon das dumpfe Hallen von Schritten auf dem schweren Steinboden.
»Frau Kork?«, hörte sie eine freundliche Männerstimme und sah einen etwas untersetzten Mann auf sich zukommen. »Schneider, wir hatten telefoniert. Ich bin der Schulleiter.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Hier entlang.«
Es war Punkt siebzehn Uhr, die Schule schien beinahe ausgestorben. Nur Schneiders Sekretärin saß noch hinter ihrem Schreibtisch im Vorzimmer des Büros. Sie lächelte, als sie Ulrike erblickte. »Käffchen?«, fragte sie mit einer quäkenden Stimme, sodass Ulrike unwillkürlich zusammenzuckte. Es hatte nur dieses Wort gebraucht, und Ulrike erkannte in der blonden hageren Frau eine Genossin aus Nordrhein-Westfalen.
»Schwarz«, sagte sie und reizte das dialektale Potenzial derart aus, dass die Augen der Frau kurz aufblitzten. Der Geheimcode war durchgedrungen, man hatte sich verstanden. In der bayerischen Provinz waren solche Begegnungen rar und deshalb erstaunlich. Ein seltsames Heimatempfinden machte sich in diesen Augenblicken jedes Mal breit in ihr, ein kleiner Stich, ein Hauch von Rührseligkeit, eine Erinnerung daran, wo sie herkam. Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit erlebte sie nur in diesen Momenten, wenn sie der Heimat in der Fremde begegnete, und weniger, wenn sie tatsächlich dort war, in der Heimat, in der sie sich fremd fühlte.
»Nehmen Sie Platz«, sagte der Schulleiter und ließ sich ihr gegenüber in einen riesigen schwarzen Schreibtischstuhl fallen, in dem er beinah wie ein kleiner Junge wirkte, der Chef spielte. Die hagere Sekretärin stellte den Kaffee auf einem Tablett auf dem Tisch ab und schloss dann die Tür.
Ulrike räusperte sich. »Sie haben schon gehört, was passiert ist, vermute ich?«
Sie beobachtete, wie Schneider den Kaffee ausschenkte, die Tasse vor ihr abstellte und dabei besorgt die Stirn in Falten zog. »Ja, ich habe davon gehört. Das gesamte Kollegium und unsere Schüler sind informiert. Es wurde in der Früh schon eine Morgenandacht abgehalten für Herrn Berger. Ein sehr geschätzter Kollege.«
»Was können Sie mir über ihn sagen? Was für ein Mann war er?«
Schneider ließ sich in seinen enorm großen Schreibtischstuhl zurücksinken und verschränkte die Arme vor der Brust. »Er war ein guter Lehrer, er war gern Lehrer. Hat sich immer was einfallen lassen, hatte jeden Schüler im Blick, seine Stärken und Schwächen. Die Kinder … Die waren ihm immer am wichtigsten.« Er seufzte und faltete die Hände vor sich wie zum Gebet. »Es war für uns alle eine sehr große Überraschung, als er plötzlich nicht mehr wollte.«
Ulrike trank einen Schluck Kaffee. Gut und stark hatte die Hagere ihn gekocht. »Sie wissen nicht, warum?«
»Nein«, sagte Schneider und schüttelte geistesabwesend den Kopf. »Das kann ich mir ganz und gar nicht erklären.« Er wirkte aufrichtig. »Man muss sagen, dass er zwischenzeitlich sehr niedergeschlagen war, nach dem Tod von Ingrid. Aber ich hatte das Gefühl, gerade in der Zeit vor seiner Kündigung, dass er sich wieder gut im Griff hatte, dass er richtiggehend aufgeblüht war.«
»Herr Schneider, wir haben Anlass, davon auszugehen, dass es durchaus einen Grund für diesen Stimmungswechsel gab. Wir haben davon gehört, dass Herr Berger ein Verhältnis mit einer Schülerin hatte, die im Jahr seiner Kündigung Abitur hier am Gymnasium gemacht hat.«
Schneider neigte den Kopf zur Seite, er schien zu überlegen. »Ach, diese Geschichte … Ich will nichts Falsches sagen … Einen Moment bitte.« Dann stand er auf und ging durch die Tür zum Sekretariat. »Petra? Weißt du, ob Paul noch im Haus ist? Kannst du mal im Lehrerzimmer durchklingeln lassen?«
Einen Augenblick später hörte man Petras quäkende Singstimme dumpf durch die leicht geöffnete Tür. Paul war offenbar noch im Haus und stand schon wenige Minuten später im Sekretariat. Er war groß gewachsen, hatte einen sauberen Seitenscheitel, graues Haar und eine randlose Brille auf der Nase.
»Paul, das ist Frau Kork. Sie ist Kriminalkommissarin und ermittelt im Fall von Leonard.«
Paul reichte Ulrike die Hand und folgte ihnen dann in das kleine Büro.
»Paul Heinzen war ein Kollege von Herrn Berger«, erklärte Schneider. »Die beiden haben lange und eng zusammengearbeitet.«
»Worum geht es denn?«, fragte Heinzen und setzte sich auf den Stuhl neben ihrem. Ulrike musterte den geradlinig wirkenden Mann neben ihr und riet, dass er Deutsch oder Latein unterrichtete.
»Diese Geschichte, Paul, diese dumme Geschichte, die rumging«, begann Schneider vorsichtig. »Dass der Leonard ein Verhältnis hatte mit …«
»Mit Tanja Grass«, vollendete Paul Heinzen den Satz barsch.
Ulrike stutzte. »Was können Sie mir darüber sagen?«
Paul blickte sie unvermittelt an, seine Direktheit hatte etwas Unangenehmes. »Tanja hat letztes Jahr bei uns Abitur gemacht. Sie hatte Biologie Leistungskurs bei Leonard. Sie hat ihm ab und an geholfen, kleinere Forschungsprojekte für die fünfte Klasse zu organisieren. Die beiden haben sich ineinander verguckt, da war sie noch siebzehn. Er ist aber erst ein Verhältnis mit ihr eingegangen, als sie volljährig war. Als sie kurz danach Abitur gemacht hat, wollten sie zusammen neu anfangen. Er hat deswegen gekündigt.«
»Wussten noch andere davon?«
»Ich glaube nicht. Leonard und ich waren nicht eng befreundet, aber er wollte jemandem davon erzählen. Das Ganze war vertraulich. Irgendwie hat dann aber doch jemand was mitbekommen, es wurde getratscht. Die große Runde hat das aber komischerweise nicht gemacht.«
»Was wurde aus dieser Geschichte?«
Paul sah aus dem Fenster. »Ich weiß es nicht. Ich habe nichts mehr von ihr gehört und von ihm auch nicht. Bis gestern.« Er fixierte gedankenverloren einen Punkt auf der Scheibe. »Gibt es noch weitere Fragen?«
Ulrike schüttelte den Kopf.
»Danke, Paul«, sagte Schneider.
Heinzen stand auf, murmelte eine schnelle Verabschiedung und verließ dann wie ein Zinnsoldat strammen Schrittes das Büro.
»Ich brauche den Kontakt von Tanja Grass, von ihren Eltern.«
Schneider nickte und ging aus dem Raum. »Petra!«
Ulrikes zweiter Mann Harald, genannt Harry, war fünfzehn Jahre älter als sie gewesen. Ein Kollege aus dem LKA, mit dem sie zuvor eng zusammengearbeitet hatte. Die Faszination für ältere Männer konnte sie gut nachvollziehen, doch bei Tanja und Leonard lag der Altersunterschied bei fast vierzig Jahren. Wie hatte diese Beziehung funktioniert, in der einer alles erlebt und gefühlt hatte und die andere noch so wenig? Welche Verbindung hatte zwischen ihnen bestanden?
Nachdem sie von Petra die Kontaktdaten der Familie Grass bekommen hatte, reichte sie Schneider zum Abschied die Hand.
»Melden Sie sich, falls Sie noch Fragen haben. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg«, sagte dieser und lächelte freundlich.
Gerade wollte sie das Sekretariat verlassen, da vernahm sie die quäkende Stimme von Petra hinter sich. »NRW?«, fragte sie.
»Recklinghausen«, antwortete Ulrike.
»Düren«, sagte die Hagere, und sie nickten sich verschworen zum Abschied zu.
Als Ulrike im Auto saß, wählte sie die Nummer, die auf dem Zettel stand.
»Ja?«, tönte eine schroffe Stimme.
»Herr Grass?«
»Wer will das wissen?«
»Kork, Kriminalpolizei Regensburg. Ich hätte gern mit Ihrer Tochter Tanja gesprochen.«
»Worum geht es?« Seine Worte stolperten, die Stimme hatte einen krächzenden Unterton. Ulrike vermutete, dass er schwer alkoholisiert war.
»Herr Grass, ich muss mit Ihrer Tochter in einer vertraulichen Angelegenheit sprechen.«
»Dann rufen Sie woanders an. Bei diesem Perversling zum Beispiel.«
»Herr Grass, wissen Sie, wo Ihre Tochter ist?«
»Ich hab meine Tochter seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie sie gefunden haben. Und wenn Sie sie haben, dann machen Sie Ihren gottverdammten Job und sperren Sie diesen Pädophilen weg.«
Es klickte in der Leitung.
***
Hallo du,
ich muss ein bisschen vorsichtig sein, deswegen kann ich nicht mehr so oft schreiben. Aber ich bin immer noch hier, hörst du? Ganz in deiner Nähe. Ich hab so oft an dich gedacht, du machst mich ganz verrückt, weißt du das eigentlich? Bald wird alles anders. Ich hab schon einen Plan. Du musst nur warten, bald verrat ich ihn dir. Und dann können wir zusammen sein, weil dann bin ich endlich frei.
Ich denk an dich. Jede Sekunde.
X.
7
Die Sonne strahlte genau wie gestern und hatte an diesem Mittag bereits jeden Winkel des Besprechungszimmers aufgeheizt. Sie waren zu fünft, neben Yusuf und ihr bestand die neu gebildete Sonderkommission nur aus drei weiteren Beamten, die rund um die Uhr mit der Aufklärung des Falles beschäftigt waren. Der Gedanke verursachte Ulrike Übelkeit. Alle Hebel waren in Bewegung gesetzt worden, um Tanja Grass ausfindig zu machen. Man hatte ihre Freundinnen aus Schulzeiten und ihre Lehrer befragt, und man hatte ihre Mutter in einer kleinen Mietwohnung in der Nürnberger Südstadt ausfindig gemacht.
»Zugedröhnt bis in die Haarspitzen«, war die Rückmeldung der Beamten gewesen, die Frau Grass aufgesucht hatten. Konnte man dem Bericht Glauben schenken, hatte es einiger subtiler Hilfestellungen bedurft, sie an die Existenz ihrer Tochter zu erinnern. Doch auch danach war nicht viel aus ihr herauszubekommen gewesen. Seit ihr das Sorgerecht nach der Scheidung des Ehepaars Grass vor zehn Jahren entzogen worden war, hatte sich der Kontakt zwischen Mutter und Tochter auf ein absolutes Minimum beschränkt.
Auch sonst hatte Tanja wenig Aufsehen erregt. So schilderte es Franka Brandl während der Besprechung. Sie hatte den ganzen Vormittag am Telefon verbracht. »Keiner ihrer Mitschüler hatte wirklich was mit ihr zu tun. Sie war manchmal dabei, irgendwie hat sie wohl niemanden gestört, nettes Mädchen anscheinend, aber sehr still, extrem schüchtern. Keines von den Mädels, mit denen ich gesprochen habe, wusste, dass es einen Mann in ihrem Leben gab. Generell konnte niemand etwas Konkretes über sie sagen, außer, dass sie gut in der Schule war und dass ihr Elternhaus wohl nicht unproblematisch gewesen ist.« Franka zuckte mit den Schultern. »Sonst absolut gar nichts.«