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So muß jedermann ein Opfer dieses Übels werden, denn die Verüber unsozialer Handlungen werden immer selbst die Opfer. Alle Arbeiter verabscheuen Spione und Spitzel; die meisten von ihnen verabscheuen Streikbrecher; bis dieses Gefühl der Abneigung nicht ausgedehnt worden ist auf alle, die unsoziale Arbeit, Arbeit, die schädlich für die Mitmenschen ist, verrichten, bis zu der Zeit sehe ich keine Hoffnung für die Zukunft. Das ist der zweite Punkt meiner einleitenden Bemerkungen, und so sind wir denn bei dem eigentlichen Thema angelangt, das ich umso kürzer behandeln kann, da die Begriffe durch obige Bemerkungen geklärt sind.
Ich habe die Form einer Aktion finden wollen, die große Massen des Volkes zu einem Begriff und einer Erkenntnis von wirklicher und ernsthafter Vereinigung der untrennbaren Gefühle menschlicher Würde, Freiheit und Solidarität führen würde.
Und ich glaube, eine derartige Aktionsform ist erreichbar, wenn die soeben besprochenen Elemente in gehöriger Weise vereinigt und angewendet würden. Nämlich: Die Notwendigkeit, die gesamte Öffentlichkeit (die Massen der Arbeiter) ökonomisch in gleicher Weise am Streik zu interessieren wie die Streiker selbst - und die Notwendigkeit des Verantwortlichkeitsgefühles der Arbeiter für das, was sie produzieren!
Eine solche Aktion würde einen mächtigen Anstoß für Gefühle der Selbstachtung und Solidarität bedeuten und würde große Massen auf den Weg zur Freiheit führen und sie weiterer Propaganda aufschließen. Die Lehren der Propaganda würden dann nicht mehr in dem gleich großen Maße zu ihrem und unserem Leben in Widerspruch stehen, wie es gegenwärtig der Fall ist. Die Umrisse derartiger Mittel liegen nach meiner Meinung für die Arbeiter in der Verweigerung jener Arbeit, die dem gesamten Volke schädlich ist; stärken könnten sie ihre Position dadurch, daß sie den Betrug, der an den Massen des Volkes geübt wird, klar und einfach bloßstellen. Und für die Öffentlichkeit liegen sie in der Unterstützung solcher Bewegungen, in aktiver Sympathie mit den Streiks, die auf solcher Basis geführt werden - und dem Boykott. Solche Streiks dürften mit einem Gewinn sowohl für die betreffenden Arbeiter wie auch für die Öffentlichkeit enden. Und die Kosten solcher Streiks hätten tatsächlich die Kapitalisten zu tragen; sie würden ihren Profit reduzieren. Gewiß werden derartige Streiks nicht die Grundfesten der bestehenden Ordnung zerstören können; kein Streik kann das, wenn er nicht die entschlossene Ablehnung der Arbeit für andere ist: der Generalstreik, die soziale Revolution. Aber Streiks solcher Art können die Arbeiterklassen fester aneinander gliedern, als sie es heute sind. Die Streiks werden ihren individualistischen Charakter verlieren und zu einer Angelegenheit der Allgemeinheit werden, was sie heute nur durch Gefühlsmomente und das persönliche Empfinden von einigen, nicht aber durch ihre ökonomische Basis sind.
Im praktischen Leben mag jene Taktik selbstverständlich mannigfaltige Formen annehmen; sie sollte Leib und Seele des Bewußtseins der Gewerkschaften, vor allem der Sozialisten werden, dann werden praktische Wege und Formen gewiß nicht fehlen.
Wenn beispielsweise die organisierten Bauarbeiter sich entschließen würden, keine Mietskasernen mehr anzurühren, weder welche aufzubauen noch zu reparieren und sie gleichzeitig der Öffentlichkeit den hoffnungslos ungesunden Charakter aller Flickarbeit in dieser Richtung klarmachen würden, so bekäme die gesamte Wohnungsfrage einen viel weiteren Sinn, als sie früher trotz aller Versammlungen, Zeitungskampagnen und Komitees gehabt hat. Es ist nicht verwunderlich, daß die breiten Massen des Volkes sich dieser Agitation gegenüber teilnahmslos verhalten haben, sahen sie doch, daß in Wirklichkeit alles seinen alten Gang ging. Ihre Nachbarn machten - soweit sie im Baugewerbe beschäftigt waren - durch ihre lächerlichen Ausbesserungen das Wohnungselend zu einem Dauerzustand, während sie selbst vielleicht im Ernährungsgewerbe beschäftigt waren und sie ihrerseits den Maurern, Bauarbeitern usw. giftige Stoffe zum Essen und Trinken lieferten. Einer schneidet dem anderen die Kehle durch, und die Kapitalisten geben die Direktive hierzu. Wenn Hausruinen zuletzt doch verdammt werden, so wird das weder getan von den Leuten, die die Häuser bewohnen, noch von den Arbeitern, die sie ausbessern, sondern von Autoritäten der Gesundheitspflege, die in Solidarität mit den reichen Klassen handeln, um sie durch Vernichtung der Krankheitsherde vor Ansteckung zu bewahren. Eigene Initiative und Selbstachtung sind wenig bekannt unter den Opfern des bestehenden Gesellschaftssystems, und keine Bemühung sollte unterbleiben, die sie hervorrufen könnten. Das Verantwortungsgefühl ist eines der Mittel, das zu diesem Ziele führen könnte.
Wenn die Baugewerbe von London sich entschließen würden, keine Hand mehr an die ungeheuren Gebiete der Armenviertel im Osten und Süden Londons zu legen, so würden mit einem Schlage nicht nur die Fragen der Wohnungsnot, sondern auch die des Grundbesitzes an der Tagesordnung stehen. Die Antwort der Öffentlichkeit würde der Schrei: “Keine Miete!” sein. Und die Handlungsangestellten ihrerseits könnten dadurch helfen, daß sie sich weigern, jene abscheulichen Nahrungsmittel, die sie heute ausbieten, weiter zu verkaufen. Das könnte manch einem Bewohner aus dem Ostende die Idee geben, die komfortablen Wohnungsmöglichkeiten im Westen Londons etwas näher zu studieren, ebenso die Nahrungsmittelbelieferung auf den Docks eingehender zu betrachten. Auf jeden Fall wäre eine gewisse Möglichkeit vorhanden, einige der schlechtesten Züge im Ostend zu beseitigen - das ist immerhin etwas - und die Menge neuer und sauberer Arbeit, die die Baugewerbe in schönerer Umgebung zu tun bekämen, würden ihnen reichlich die Opfer wieder aufwiegen, die sie für einen solchen Streik bringen müßten.
Die Textilgewerbe sollten die Minderwertigkeit der Shoddybekleidung dem Publikum vor Augen führen und sich weigern, derartiges weiter herzustellen. Selbst kleinere Abteilungen, die beispielsweise damit beschäftigt sind, die Gegenstände äußerlich glänzend und verlockend zu machen, selbst solche kleineren Abteilungen könnten den Anstoß nach solcher Richtung hin geben.
Wiederum in chemischen Werken, Bleiweißhöllen und dergleichen mehr, in denen die Arbeiter selbst, nicht aber die Produkte ruinierend auf die Gesundheit wirken und genug zu sein scheinen, um solche Plätze zu veröden. - Scham sollte auf jene gehäuft werden, die solche Betriebe in Gang halten und sich in ihnen ermorden lassen. Sie sollten für geringer als Streikbrecher betrachtet werden, was sie tatsächlich auch sind, denn sie halten diese Betriebe in Gang, und solange sie in Gang sind, werden immer neue Opfer - unwissend manchmal beim Arbeitsantritt - herangezogen; Tag um Tag kommen neue, um die Reihen wieder aufzufüllen, die gelichtet worden sind durch den Zusammenbruch unvermeidlicher Opfer.
Oder würden die Handlungsgehilfen nicht viele ihrer aufgestellten Forderungen gewinnen, wenn sie sich ernsthaft entschließen würden, es als unehrenhaft zu betrachten, dem Publikum Lügen zu sagen, würden sie so nicht schneller und direkter zum Ziele kommen als durch den Verkauf großer Quantitäten ihre Stellung zu halten oder zu verbessern? Das Publikum würde ihnen selbstverständlich beistehen. Jene hartnäckigen Ladeninhaber mit ihren minderwertigen verdorbenen Nahrungsmitteln würde es boykottieren. Es ist wirklich schwer für das Publikum mit der Arbeiterklasse wie sie heute ist, Sympathie zu haben: wir mögen ihre lange Arbeitszeit bedauern und Unannehmlichkeiten, die uns manchmal erstehen, durch frühes Schließen der Ladengeschäfte in guter Laune hinnehmen, aber wir wissen, daß unsere Sympathie den Verkäufer nicht hindern wird, uns statt frischer Nahrungsmittel verdorbene zu verkaufen, wenn es so im Interesse des Ladeninhabers liegt. Kurz: Als Konsumenten können wir keine Sympathie mit den Werkzeugen der Kapitalisten haben, und da die große Masse in beiden Fällen Arbeiter sind, sind sie geteilt und stehen sich selbst feindlich gegenüber, und nur eine praktische Aktion, gegenseitige Solidarität und Hilfe kann diese bestehende Feindschaft überbrücken; Überredung und Mitgefühl sind auch gewichtige Faktoren, aber in allen Fällen sind sie nicht ausreichend. Ich denke, daß die hier gegebenen Beispiele, ob sie gut oder schlecht gewählt sind, genügen werden, um zu illustrieren, was ich meine, und diese meine Meinung hängt durchaus nicht von den hier angeführten Beispielen ab. Vollständig anerkenne ich die Schwierigkeit, einen Anfang in der hier gewiesenen Richtung zu machen, und als ersten Schritt schlage ich die Diskussion des Begriffes “Verantwortlichkeit” vor. Wenn einmal ein Grundsatz verstanden wird, und Menschen sich zu ihm bekennen, so wenig es auch sein mögen, so dauert es nicht lange, bis wir Menschen auftauchen sehen, die unvorbereitet, unorganisiert danach handeln. In dem kleinsten Geschäft, in dem die Arbeiter ihre Werkzeuge niederlegen und verweigern, länger ihre wertlose unsoziale Arbeit fortzusetzen, mag eine solche Bewegung beginnen oder sie mag in der alten orthodoxen Weise feierlichst eingeleitet werden durch Resolutionen auf Kongressen; die Idee ist nach allem nur ein kleiner Schritt vorwärts in das Gebiet des
Altruismus: wenn ein Mann, der seine Arbeitskraft dazu hingibt, die Löhne seiner Mitarbeiter zu drücken auf Grund dieses unsozialen Aktes als Streikbrecher verachtet wird, so laßt uns die Verachtung auf alle unsoziale Arbeit ausdehnen. Und wenn die in Frage kommenden Arbeiter das nicht als erste erkennen, so soll das Publikum es erkennen und danach handeln.
Alles dieses mag hart und herzlos klingen, aber ich sehe nur zwei Alternativen: entweder sentimental sein, allen Vernunftsgründen die Augen verschließen, man bemitleide alles, entschuldige alles und ende dabei, daß man den verwundeten oder getöteten Soldaten beweint und auch den Schutzmann, der in der Ausübung seiner Dienstpflicht zu Schaden gekommen ist - oder logisch sein, logisch handeln! Dann kann man nicht Entschuldigungen für alles dieses finden, ausgenommen für den vollständig unvorbereiteten Zustand der öffentlichen Meinung in dieser Sache. Der nächste Schritt muß dann sein, die Öffentlichkeit Stellung nehmen zu lassen zu dieser Frage. Lehnen wir aber die Grundsätze der Verantwortlichkeit ab oder ignorieren wir sie, so folgen wir ganz einfach den betrügerischen Methoden der Oberflächlichkeit und Feigheit überlassen irgend jemand das zu tun, um das wir uns herumdrücken, verlieren uns in Sentimentalitäten, anstatt eine wenn auch unwillkommene Wahrheit anzunehmen. Unwillkommen nenne ich sie, weil sie für den Augenblick die Arbeit vermehrt, die getan werden muß, ehe ein wirklicher Wechsel der Verhältnisse zu erwarten ist. Aber wie ich vorher schon einmal sagte, dieser Wechsel wird nie eintreten, wenn die Menschen bleiben, wie sie gegenwärtig sind. Es ist aus dem Vorhergehenden klar, daß mein Vorschlag ein zweifacher ist: Die Erziehung eines Verantwortlichkeitsgefühles - und dessen Verwendung für einen sogenannten kollektivistischen Streik im Interesse der Gesamtheit. Wenn dieser zweite Vorschlag sich als unpraktisch erweisen sollte, bleibt der erste doch bestehen, und müssen andere Mittel gesucht werden, das über alles wichtige Gefühl der Verantwortlichkeit zu erwecken und in Taten umzusetzen. Ich habe das tiefe Gefühl, daß es eines Menschen unwürdig ist, seinem Mitmenschen Schaden zuzufügen, weil der Kapitalist es von ihm verlangt. Die Entschuldigung: Ich bin nur ein “Werkzeug” kann solches Tun niemals rechtfertigen. Für jene, die die gegenwärtige Ordnung anerkennen und die zufrieden sind, Werkzeuge des Kapitalisten und Versklavte ihrer Mitmenschen zu sein, mag es genügen, aber jene andern, die solche unsozialen Handlungen begehen und dennoch das bestehende Gesellschaftssystem ablehnen, sind unbewußt Feiglinge, und sie werden niemals die bestehende Ordnung der Dinge umwerfen. Wir wollen Menschen, die zuerst frei wurden in ihrem Geiste, die es ablehnen, Dinge zu tun, die das Elend und die Sklaverei ihrer Mitmenschen in einen Dauerzustand verwandeln, und die so einen breiten Strom von Sympathie und Solidarität, die die Basis aller zukünftigen Aktionen sein werden, ins Leben rufen.
Eine solche wirtschaftliche Aktion scheint mir Männern, die frei sind, und die die Grundlage ihrer Freiheit in der Freiheit und dem Wohlergehen aller anderen sehen, am nächsten zu liegen. Wenn sie nicht dadurch, daß sie es überhaupt ablehnen, für den Kapitalisten zu arbeiten, der gegenwärtigen Ordnung ein Ende bereiten können, so sollen sie doch auf jeden Fall versuchen, nicht zum Schaden ihrer Mitmenschen zu arbeiten. Und solches sollen sie aus eigener Selbstachtung tun, gleichgültig, ob ihre Solidarität sofort beantwortet wird oder nicht. Das ist anarchistisch: Tun, was wir wünschen, getan zu sehen.
Die alte politische und autoritäre Art und Weise ist die des “Wir waschen unsere Hände in Unschuld”; sie proklamiert diese Dinge als unvermeidlich und verewigt sie so, vertrauend, daß andere etwas tun werden, das wir nicht können oder nicht wollen. (Worte, die sehr oft austauschbar sind!) Da wir dieses Prinzip in der Politik ablehnen, sollten wir es auch in sozialen Dingen in weitestem Sinne verneinen und darum nachdrücklich die Verantwortlichkeit eines jeden für das, was er tut, betonen.
Ich will nur noch hinzufügen, daß bei der Diskussion dieses Gegenstandes das Wort “Moral” nicht in dem Sinne aufgefaßt werden soll, daß die Arbeiter moralischer werden sollten. In dieser Verbindung habe ich das Wort nicht gebraucht und leicht könnte es mißverstanden werden. Selbstachtung sollen sie bekommen, sollen zum Bewußtsein ihrer Würde kommen und vor allem sollen sie frei werden. Ihr eigenes Gefühl wird ihnen dann eingeben, unsoziale Akte in weitestem Sinne abzulehnen, wie es sie ja auch davor zurückhält, zum Streikbrecher oder zum Spion zu werden. Leicht kann man sagen, erst müsse das kapitalistische System zerstört werden und dann werden wir uns alle diese Eigenschaften aneignen. Aber wer soll dieses System zerstören, müssen wir fragen, seitdem das Dogma, daß ein Kapitalist den anderen verschlingen wird, bis keiner mehr übrig sein wird, uns nicht mehr genügt und befriedigt, wie bisher die Sozialdemokraten?
Zum Schlusse wiederhole ich, daß ich nicht beabsichtige, die Bedeutung anderer Propagandamittel herabzusetzen und die hier vorgeschlagene Methode besonders in Versammlungen von Anarchisten und Gewerkschaftlern diskutiert zu sehen wünsche. Eine Ausdehnung der gewerkschaftlichen Aktionen von bloßen Interessen der einzelnen Gewerbe oder Industriezweige bis zu umfassenden Befreiungstaten für die Massen der Gesellschaft könnte das Endergebnis solcher Diskussionen sein, und dürfte die Sympathien aller derer, die frei sind und die alle frei zu sehen wünschen, gewinnen.
London, November 1899
Einige Worte über konstruktiven Sozialismus (1930)
(Erstpublikation Februar 1930, erschienen in: „Die Internationale“)
Unter sechs von Nestor Machno an Malatesta gerichteten Fragen befindet sich die folgende: “(3) Welche Mittel soll der Anarchismus außer der sozialen Revolution benutzen und über welche verfügt er, um seine konstruktiven Auffassungen zu zeigen und hervorzuheben?”
Hierzu macht der Genfer Risveglio folgende seinen eigenen Standpunkt präzisierenden Ausführungen: “Der Anarchismus sucht vor allem den Tag zu beschleunigen, an dem die Massen zur Revolution als Mittel greifen, da er überzeugt ist, daß eine neue Entwicklung sich nicht auf andere Weise einen Weg bahnen kann. Wie unter dem Regime des Feudalismus alles zur Unterwerfung unter den Feudalismus führte, so löst sich unter dem kapitalistischen Regime alles in Einordnung in den Kapitalismus auf. Es gibt wohl die ganze tägliche Propagandaarbeit, Protestaktionen, Widerstand und Empörung und ebenso die Vorbereitungs- und Erziehungsarbeit, aber wir glauben nicht, daß man auf dem Gebiet der konstruktiven Auffassungen viel zeigen und hervorheben können wird, außer, versteht sich, theoretisch. In jedem Milieu gedeiht nur das sich demselben Anpassende, und wir möchten vor allem dieser Anpassung ein Ende machen. Fallen wir nicht unsererseits in den Irrtum der egalitären Sozialisten, den Glauben entstehen zu lassen, daß man schon mit dem heutigen Regime und seinen Einrichtungen viel erreichen könne, denn dann ist es natürlich, daß man nicht mehr an die Revolution denkt. Dies geschieht dann auch, wenn außerordentliche Verhältnisse eine solche Revolution erfordern, erleichtern und auf einmal hervortreten lassen wie 1918 bis 1919; man fühlt sich dann gar nicht dazu angeregt, ihr zu folgen und sie vorwärtszutreiben, ihrem Ziel zu, und läßt so den Feinden Zeit, sich von ihrer Überraschung zu erholen und dann zur grausamsten Unterdrückung zu schreiten.” Gewiß kann die Frage des konstruktiven Sozialismus durch diese Bemerkungen nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Das gegenwärtige Milieu beeinflußt und beeinträchtigt ja nicht nur unsere positive Tätigkeit, sondern unser ganzes Denken und Wesen, also auch unsere sozialistischen Auffassungen und den Rhythmus all unserer sozialistischen Betätigung. Trotzdem üben wir unser Denken und unseren Willen nach besten Kräften und sollten, schon um Einseitigkeit zu vermeiden, auch praktisch konstruktive Übungen nicht unterlassen. Der menschliche Fortschritt muß auf der ganzen Linie vorgehen, und Phantasie, Gefühl und Spekulation (reine Verstandarbeit) sollen stets eine praktische Betätigung befruchten und umgekehrt. Dem von so vielen gemachten geistigen Fortschritt, der Einsicht des Wertes der Zusammenarbeit und dem gefühlsmäßigen Fortschritt, der Neigung zu uneigennütziger und freiheitlicher Solidarität, sollte wirklich eine wesentlich größere praktische Betätigung der so zahlreichen vorgeschrittenen Sozialisten entsprechen, als das heutige Organisationsleben, die übliche Propaganda und allenfalls die Teilnahme an Vereinen zu Bildungs- und Erholungszwecken und die direkten Arbeitskämpfe darstellen. Die verhängnisvolle Trennung von Kopf- und Handarbeit hat die Menschheit genug gespalten und auf beiden Seiten solche Einseitigkeit geschaffen, daß sie sich nur schwer zusammenfinden; in gleichem Sinn ist nach meiner Auffassung der ganze Sozialismus im Bann einseitiger Entwicklung, wenn er die konstruktive Seite unentwickelt läßt.
So werden ganze Generationen alt, müde und finden nichts zu tun als die tägliche Propaganda- und Organisationsarbeit usw.; dies wirkt abstumpfend wie ein ewiger Elementarunterricht, von dem nie ein Aufstieg zu eigenem Denken, eigener Forschung, eigener Ausübung des Gelernten stattfinden würde. Solcher Routine sollte man sich entreißen; sie hat bei den großen Parteien und Organisationen ganz und gar zu einer Übertragung der Tätigkeit auf delegierte, angestellte, professionelle Kräfte geführt, die sich in ihre Rolle als Führer gründlich eingelebt haben, und die jede unabhängige Betätigung der Geführten schädlich für sich halten und instinktiv bekämpfen. Der Sozialismus wird so immer unproduktiver, mechanisierter, auf einige wenige Aktionen der leitenden Kräfte beschränkt, und seine Verwirklichung würde sich bei diesem Tempo auf Hunderte von Jahren verteilen. Demgegenüber kommen die vorauszusehenden anfänglichen Unzulänglichkeiten des noch so wenig geübten konstruktiven Sozialismus wenig in Betracht. Denn wenn man hier von jedem Fehler und Mißerfolg große Nachteile erwartet und deshalb gar nichts tut, wie kann man da hoffen, nach einem revolutionären Sieg ein neues soziales Gebäude aufzurichten, das nicht an allen Ecken und Enden etwa gerade solche Fehler zeigte und Mißerfolge hervorbrächte, wie diejenigen, die man bei vorhergehender Übung zu vermeiden gelernt hätte? Wir sind leider groß in der Ängstlichkeit vor den Folgen einer unzureichenden Leistung, eines momentanen Mißerfolgs, nicht nur auf diesem praktischen, sondern auf dem Gesamtgebiet unserer Auffassungen. Nie fehlen die Kassandrarufe, die alles von der Routine Abweichende als demoralisierend, korrumpierend, parteizerstörend verschreien; nichts leichter als auf solche Weise kaltes Wasser über jede neue Initiative zu schütten. Wer aber hätte je gehen gelernt, wenn er jeden Fall gescheut hätte? Wagen wir uns also trotz allem auf das verpönte Gebiet des konstruktiven Sozialismus.
Von grundlegender Wichtigkeit scheint mir die Frage der richtigen Proportionen zu sein. Zwerghafte Organismen mit intim-kameradschaftlichem Charakter sind immer möglich, gerade so wie in sich geeinte Familien, deren Mitglieder verschiedene Berufe ausüben und unter sich, wo es zweckmäßig oder nötig ist, Solidarität ausüben. Solche Zwerggruppen sind für die Beteiligten oft sehr angenehm, ebenso oft lockern, sie sich oder zerfallen, wie Familien. Hierin liegt nichts Neues. Wenn die zum sozialistischen Leben neigenden sich auf solche Weise betätigen, mag ihnen dies Befriedigung oder, bei Disharmonie, Enttäuschungen bringen, und sie mögen ein gutes oder ein schlechtes Beispiel geben. Es wäre aber nichts gewonnen, wenn der konstruktive Sozialismus sich hiermit erschöpfen würde, und es wäre ein Verlust, wenn seine tüchtigsten Anhänger sich hierauf beschränkten, sich isolierten und ihrer Tätigkeit also selbst sehr enge Schranken setzten.
Eine kooperative Produktion in größerem Maßstab müsste in jedem Herstellungszweig in Bezug auf Größe des Betriebes, Maschinen, Absatzkreis, laufendes Kapital und Kredit usw. mindestens über dieselben Einrichtungen und Mittel verfügen wie normale kapitalistische Betriebe, oder das Unternehmen wäre von Beginn an hoffnungslos im Nachteil. Wenn dann innerhalb eines richtig ausgestatteten und gut proportionierten Betriebes an Stelle von niedrigen Arbeitslöhnen, hohen Direktionsgehalten und dem Betrieb entzogenen Profit, höhere Arbeitslöhne und eine sie nicht wesentlich überschreitende Entlohnung der technischen Leitung treten würden, und der Profit auch hierfür oder zur allmählichen Vergrößerung des Betriebes verwendet würde, so wären lebens- und leistungsfähige Organismen geschaffen, deren günstigere Arbeitsverhältnisse den Ansporn bilden sollten, solche Betriebe möglichst zu vermehren. Aber erst wenn Derartiges für eine Reihe von Produktionszweigen besteht, und wenn in zahlreichen Sozialisten der Wille erwacht ist, nur diesen Betrieben ihre Kaufkraft zuzuwenden, dann kann aus den Arbeitern und dem Käuferkreis eine sich gegenseitig mit allem Wesentlichen versorgende Gemeinschaft werden, die festbegründet dasteht und innerhalb welcher dann ein neues soziales Leben sich aufbauen kann durch neue soziale Einrichtungen, die besten Arbeitsverhältnisse, freiwilligen Wechsel in der Beschäftigung usw. Solche kleinen kooperativen Städte, oder wie man es nennen will, in denen auch das Wohnungswesen gartenstadtartig, der jetzigen Härten beraubt ist, und die in direkter Wechselbeziehung mit landwirtschaftlichen Unternehmungen auf gleicher Grundlage stünden, hätten sich in Ländern ungestörten ökonomischen und sozialen Lebens wie England, Holland, Schweden usw. längst einrichten lassen, wie Letchworth und einiges wenige andere an Gartenstädten, Gartenvorstädten, Siedlungen usw. tatsächlich ins Leben traten. Gewerkschaften und Genossenschaften, wo sie altbegründet, zahlreich und permanent sind, hätten zusammen die Anfangsmittel und Arbeitskräfte meist hinreichend beistellen können, ebenso die sozialistischen Bewegungen ihre Kaufkraft als Konsumenten. Es ist nicht geschehen, weil eben, von den Genossenschaften abgesehen, allen anderen der Glaube an die Sache fehlt. Wenn aber Derartiges nicht in dem erforderlichen Umfang, sachlich, zweckmäßig und mit rechnungsmäßiger Genauigkeit begründet und betrieben wird - wie es bei den Unternehmungen großer Genossenschaften, den gartenstadtartigen Siedlungen usw. wohl schon manchmal geschehen ist -, so entstehen betriebstechnisch minderwertige Gründungen, die ein schlechtes Ende nehmen.
Zwanglosigkeit , Reichlichkeit, ein bequemes Treiben sind dabei nicht möglich, und hierdurch scheint die Anziehungskraft solcher Organismen, deren werktätige Kräfte, wenn alles gut zusammenginge, in wesentlich verbesserten Verhältnissen leben könnten, wesentlich vermindert. Psychologisch scheint dies unvermeidlich zu sein: dem kapitalistischen Zwang steht bei den Arbeitern volle Verantwortungslosigkeit gegenüber. Mangel an Interesse an dem Unternehmen ihrer Ausbeuter, und dafür eine Arbeit mit intensivem Verantwortungsgefühl einzutauschen, erscheint dem Durchschnittsmenschen als eine Verschlechterung seiner Lage, auch wenn die Arbeitsverhältnisse wesentlich besser würden.
Dies ist auch der Grund, warum die Arbeiter in der jetzigen Vorbereitungsperiode des Sozialismus so leicht alle Macht in die Hände der Führer gleiten lassen, wodurch sie die eigene intensive Bemühung und die Verantwortung von sich abgewälzt sehen, und ebenso ist ihnen deshalb der kommunale und der Staatssozialismus so genehm, wo erst recht andere festbegründete Organismen jedem die Arbeit zuweisen und für ihn denken und ihm die Verantwortung abnehmen. Dieses passive Verhalten ist fest eingewurzelt, da es, seit in aller Urzeit Stärkere den Schwächeren den Arbeitszwang auflegten, eine Verteidigungswaffe der Ausgebeuteten war, wenn sie schon arbeiten mußten, möglichst wenig, schlecht und gleichgültig zu arbeiten. Je intensiver die Ausbeutung, bis zur heutigen Rationalisierung, desto mehr wird diese Abwehrwaffe gebraucht, und so kommt es, daß, je näher große soziale Krisen heranrücken, die, wenn ein neuer Aufbau stattfinden kann, an die Arbeitslust und Arbeitsenergie eines jeden sehr hohe Anforderungen stellen werden, desto mehr der Arbeitsprozeß den Arbeitern verhaßt und in seinem Resultat gleichgültig geworden ist.