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Deshalb sollte man sich nicht bei dieser Konstatierung beruhigen und diese Verhältnisse, weil sie die heutigen Kapitalisten schädigen, prinzipiell gutheißen, sondern versuchen, entgegenzuwirken, und hier zu ist der konstruktive Sozialismus wohl das eigentliche Gegenmittel. Durch ihn würde, in tüchtig aufgebauten Produktivorganismen wie die im vorigen geschilderten, die freie Arbeit in ihrer Würde und ihren Leistungen gezeigt werden, und die Masse der Arbeiter könnte allmählich lernen, solche freiwilligen selbstbegründeten Verhältnisse der kommunalen und staatlichen Arbeitsknechtschaft vorzuziehen. Dies mag noch so schwer praktisch durchzuführen sein - es muß doch eine unserer Aufgaben bleiben, diese große Lücke auszufüllen, bevor bei einer neuen sozialen Krise weitere Teile der Menschheit der sozialen Staatsknechtschaft verfallen, wie seit dem Herbst 1917 in Rußland.
Denn es ist leicht, den Arbeitswillen einer befreiten Menschheit in den Himmel zu erheben, wie die Propagandaliteratur dies tut; man vergißt dabei die sehr großen Erholungs-, d.h. Nichtarbeits- oder Wenigarbeitswünsche, die sich dann mindestens ebenso intensiv geltend machen würden. Um da Zusammenstößen vorzubeugen, könnte eine in der vorbereitenden Übungs- und Erfahrungszeit erzielte Erziehung zum Verantwortlichkeitsgefühl und sozialer Arbeit für ein soziales Milieu gewiß nur nutzen. Vor allen Dingen sollten wir die konstruktive Arbeit des autoritären Sozialismus nicht übersehen, der seit vielen Jahren seine Mitglieder in unzählige gesetzgebende, beratende und verwaltende Stellen hineinzusetzen weiß, dazu zahllose Arbeiter aus seiner Anhängerschaft, die so aus dem privatkapitalistischen in das kommunale und staatliche System übergehen, von dem einmal zum sogenannten sozialistischen Staat und der sozialistischen Gemeinde nur ein Schritt sein wird, den diese bereits dem ganzen Organismus eingefügten Anhänger zuerst machen werden. Wenn man das Adaptation (Anpassung) nennt, ist sein Wesen dadurch nicht erschöpft; es ist bereits ein Teil des neuen autoritären Aufbaus, und wenn wir nicht wünschen, daß im entscheidenden Moment die großen Massen blindlings dieser Strömung folgen, die so plausibel und mühelos erscheint und sie von neuem des Verantwortungsgefühls enthebt, so müßten wir ein freiheitliches Gegengewicht zu schaffen versuchen. Die Genossenschaftsbewegungen sind uns bereits entgangen, weil man die für ihren Betrieb in der gegenwärtigen, über die Rohstoffe, Naturschätze und Arbeitswerkzeuge nicht frei verfügenden Zeit notwendige methodische Regelmäßigkeit und Sparsamkeit für autoritär, entwürdigend und egoistisch-pedantisch hielt. Für die Sozialdemokraten waren sie zu unabhängig, außerstaatlich und außerparteilich und so wurden sie, ihrem Schicksal überlassen, vielfach indifferent, kleinlich und weitgehenderen Zielen entfremdet. Der Syndikalismus ist von seinen unmittelbaren Aufgaben absorbiert und umschloß in den Zeiten seiner größeren Entfaltung so viel unmittelbare revolutionäre Hoffnungen, daß er irgendeine vorbereitende, teilweise, nicht das Endziel direkt anpackende Tätigkeit gar nicht ins Auge faßte und jedenfalls nicht in Angriff nahm. Unter Anarchisten besteht die erwähnte Besorgnis, die ich für übertrieben halte, durch irgendeine nicht direkt revolutionäre Handlung den Sündenfall zu begehen und der Zersetzung oder Korruption rettungslos zu verfallen, wobei aber doch der Fall eintritt, daß gerade sehr viele Anarchisten sich an Seitenbewegungen aller Art sehr eifrig beteiligen und dadurch vielfach der allgemeinen Bewegung verlorengehen. Diese bot eben ihrem Tätigkeitsbedürfnis keine direkte, irgendwie konstruktive Aufgabe, und sich der Revolution unmittelbar zum Opfer zu bringen, ist nicht jedermanns Sache; so bleiben nur die angedeuteten Spezialisierungen übrig, die unsere Idee manchmal viel zu sehr überwuchern.
Gustav Landauer, einer der wenigen, die diese Verhältnisse übersahen, versuchte zweimal, durch die Schrift “Ein Weg zur Befreiung der Arbeiterklasse” (Berlin, 1. Mai 1895; 30.S.) und durch die Gründling des Sozialistischen Bundes (1908), einen Anstoß zu praktisch-sozialistischer Betätigung zu geben, von seinem Interesse für Die Neue Gemeinschaft ganz abgesehen (“Durch Absonderung zur Gemeinschaft”, 1900). Sein zweiter “Sozialist”, seit dem 15. Januar 1909, sein Aufruf zum Sozialismus (1911) und vieles in seinem Briefwechsel begründen seinen Standpunkt überreichlich; daneben steht die harte Tatsache, daß der Bund Ende 1910 17 Gruppen zählte: fünf in Berlin und Umkreis, je eine in Breslau, Leipzig, Hamburg, Köln, Hof an der Saale, Mannheim, Heilbronn, Stuttgart und München, Bern, Zürich, Luzern. Im Februar 1912 waren es 18. Diese Organisation und Landauers persönliche Arbeitskraft und Prestige reichten gerade aus, den “Sozialist” bis zum 15. März 1915 am Leben zu erhalten als die schönste, inhaltsreichste, wirklich wertvollste anarchistische Zeitschrift , die es bis dahin in Deutschland gab. Die Mitgliederstärke der Gruppen ist mir nicht bekannt. Zu einer praktischen Tätigkeit der Gruppen als Gemeinschaft kam es nicht, und wenn lokal irgendetwas geschehen ist, blieb es vereinzelt. Ob nun diese weniger als zwanzig Gruppen 500 oder 1000 Mitglieder zählen mochten, jedenfalls sah Landauer den Miniaturcharakter der Anteilnahme und ebenso die Abneigung, der seine Initiative bei den deutschen Anarchisten begegnete, z.B. auf dem Kongreß in Halle, 16. Mai 1910, und seitens des Leipziger “Anarchist” (s. “Sozialist”, 15. August 1912), und von einem wirklichen Versuch war bald kaum mehr die Rede. Der “Sozialist”, wie Landauer ihn zusammenstellte und großenteils schrieb, war übrigens selbst ein solcher Versuch, dem Anarchismus von allen Seiten, aus dem bestem Denken aller freien Männer neues Blut zuzuführen und ihn vor der Enge und Verknöcherung zu bewahren, der er schon damals zu verfallen drohte; Landauer versuchte ihn weit, geräumig, für die verschiedenen freiheitlichen Richtungen geistig bewohnbar zu machen, auch ein Stück konstruktiver Anarchismus.
Wenn in dem großen deutschen Sprachgebiet in sechs Jahren sich kaum zwanzig kleine Gruppen für freiheitlich-konstruktiven Sozialismus zusammenfinden und auch diese keinerlei Anfang machen, ist das nun wirklich ein Beweis für die Wertlosigkeit, Bedeutungslosigkeit oder Unmöglichkeit dieses Vorschlages oder zeigt es vor allem, wie weit wir es in der Abkehr von einer in den Verdacht, praktisch unter uns sozialistisch leben zu wollen geratenden Tätigkeit gebracht haben? Landauer schrieb einmal: “Wer mich nicht versteht, braucht nicht unbedingt mir die Schuld zu geben”, und diese kecken Worte passen wirklich auf gar manche Situationen.
Würden sich jetzt, nach zwanzig Jahren, wieder nur 500-1000 zusammenfinden, wäre ein Versuch aussichtsloser wie damals. Würden sich 5 -10 000 oder 50 -100 000 für konstruktiven Sozialismus, wenn auch auf gemäßigster Grundlage erklären, so könnte wohl etwas geschaffen werden, dem der einzelne seine gewissenhafteste Arbeitsleistung geben müßte, um es sicher zu begründen, und dann könnte jeder, der etwas an Geist und Talent zu geben hat, das neue Gebäude freiheitlich ausschmücken, und jeder, der für ein freies Milieu empfänglich ist, würde sich in demselben wohl fühlen. Solche Schöpfungen des freien sozialistischen Willens würden unter dem solidarischen Schutz der ganzen Arbeiterschaft stehen, und so weit sind wir schon, um zu erreichen, daß sie dadurch vor kapitalistischen und staatlichen Eingriffen geschützt würden. Sie würden nicht auf ein Land beschränkt bleiben und sich international verbrüdern. So können wohl eine Reihe freiheitlicher Oasen geschaffen werden, die sich, wozu es auch an Anregungen nicht mehr fehlt, teilweisen oder ganzen Austritt aus den Staaten erringen würden, was alles möglich wäre, wenn eine sympathisierende Menge, seien es die organisierten Arbeiter, seien es die radikalen und humanitären freiheitlichen Kreise aller Art, neben ihnen stehen und wenn sie selbst Hervorragendes leisten und ein wirklich der freien Zukunft den Weg weisendes Beispiel geben.
Ist also der freiheitliche Sozialismus aller Richtungen, der Anarchismus und Syndikalismus einer solchen Leistung von Zehntausenden, neben denen Hunderttausende mit solidarischen Sympathien stehen, fähig, dann wäre eine solche Tätigkeit für all diese Richtungen wohl das Zweckmäßigste, durch das sie dem beständig neue Positionen okkupierenden autoritären Sozialismus endlich wirkungsvoll entgegentreten würden. Ist eine solche Grundlage für den Anfang nicht vorhanden, sollte an ihrer Begründung gearbeitet werden; denn wenn einmal wirkliche soziale Krisen Dutzende von Millionen in Bewegung setzen werden, haben wir wenig zu erwarten, wenn wir jetzt nicht einmal einige Zehntausend aktionsfähig finden würden, mit einigen hunderttausend Sympathisierenden neben sich.
Jeder Versuch, groß oder klein, müßte im Geist hingebender Arbeit für das künftige große Ziel gemacht werden und nicht zur Erreichung unmittelbaren persönlichen Lebensgenusses. Auch für letzteren Zweck tun sich Personen zusammen, und es ist ihre Sache, und ich gönne ihnen den Genuß, nur ist eben ihre Mitarbeit am großen Bau der Zukunft gering und sie sollten auf jeden Fall nicht dabei das große Wort führen wollen. Im Übrigen ist auch ihr Wille, sich dem Druck des heutigen Systems auf irgendeine Weise zu entziehen, willkommen und zu begrüßen.
Klassensozialismus und Menschheitssozialismus (1931)
(Erstpublikation August 1931, erschienen in: „Die Internationale“)
Unzählbare Jahrtausende uns in ihrem wahren Wesen unerforschbarer Entwicklungen belasten die heutige Menschheit, die in ihren ältesten geschichtlich erreichbaren Zeiten schon überall dort, wo Bodenverhältnisse usw. umfangreiche Eroberungen erleichterten, ausgebildete Herrschaftssysteme zeigt, vom Typus, den man den “orientalischen Despotismus” nennt (Westliches Asien, Ägypten usw.). Diesem expansiven Despotismus leisteten kleinere Bergvölker heroischen Widerstand, entwickelten aber dadurch meist einen derartigen Militarismus, daß sie ihrerseits darauf brannten, sich als Eroberer auf weniger geschützte Völker des Flachlandes zu stürzen. Seevölker endlich benutzten früh die Waffe des Schiffes, das Waren, aber auch Krieger trägt, und begründeten die Stadtkolonien an den Seeküsten, denen das friedliche Hinterland bald auf jede Weise tributär wurde. So ist in den uns bekannten etwa zehntausend Jahren der Geschichte unaufhörliche Eroberungslust am Werk, die noch von den der Ausdehnung zur See parallelgehenden zeitweiligen Völkerwanderungen und nomadischen Invasionen vermehrt wurde.
All dies bedingte eine schon durch endlose Generationen gefestigte Trennung der Menschen in Herrschende und Beherrschte, Befehlende und Gehorchende, Besitzende und Besitzlose, relativ Gebildete und der Bildungsmöglichkeiten beinahe oder gänzlich Beraubte, und all diese Ungleichheit, gesichert und konsekriert durch physische und geistige Mittel, durch den grausamsten Zwang und die beständige Aufsicht der Werkzeuge der Obrigkeit und durch einen auf jede Weise gezüchteten Unterwürfigkeitssinn, der an Empörung gar nicht denkt oder sie mindestens als gänzlich aussichtslos betrachtet. In diesem Rahmen schleppen sich die geschichtlichen Jahrtausende dahin, und es gibt nichts, aber auch gar nichts von dem Uralten, das man als “heutzutage unmöglich” bezeichnen könnte. Sucht man die Folter, man hat sie in den Untersuchungskerkern einer Reihe von Ländern gefunden; sucht man Kannibalismus, man fand ihn soeben bei den Zigeunern der Slowakei. Wann wurde ein grausamerer Krieg geführt als der Weltkrieg, wann wurden grausamere Friedensbedingungen diktiert und auch den kommenden Generationen aufgezwungen als nach diesem Krieg? Wann haben Hunger und Armut so gewütet wie in unseren Jahren, von China und Rußland bis Deutschland und Österreich? Wann gab es ärgere Horden als die faschistischen? Ist etwa der finstere Aberglaube verschwunden, der nationale Haß, irgendeine der rohesten Leidenschaften? Nichts hat sich wesentlich verändert, nur daß für die im Lauf der Jahrtausende geschwächten Nerven vieles aus der Öffentlichkeit weggeräumt ist und sich im Stillen vollzieht, oder es wird eine Kompensation durch Sport und anderes Nervenaufpeitschende geboten. Die Menschheit konnte diesen Raubbau an sich selbst wohl nur dadurch ertragen, daß bis zum achtzehnten Jahrhundert ihre Zahl, ihre Produktionsverhältnisse und Lebensbedingungen doch verhältnismäßig gering, einfach und wenig kompliziert waren und daß sie sich beständig ungeheuren nichterschöpften, oft kaum berührten, ja in ihrer Benutzbarkeit unbekannten Naturreichtümern und -reserven gegenüber befand. Alles spielte sich in einem kleinen Maßstab innerhalb eines riesigen Rahmens ab, während seit damals dieses Verhältnis mit tödlicher Sicherheit sich gänzlich umkehrt: großer Maßstab, kleiner Rahmen!
Dieser Umschwung ist der größte, den die menschlichen Lebewesen seit den katastrophalen eiszeitlichen Perioden der Urzeiten durchmachen, gleichfalls Perioden unerbittlicher Einschnürung der Lebensbedingungen, die furchtbare Tragödien zeitigen mußten. Nach einer gewissen Vorbereitung durch den im Zeitalter der Entdeckungen sich ausdehnenden Seehandel, durch lebhaftere innere Produktion (Manufaktur) und durch ein beginnendes wissenschaftliches Leben, das die Natur und ihre Produkte zu erschließen begann, erfolgte seit 150 Jahren in rapid gesteigertem Grade die Vervielfältigung der Produktion durch den Maschinismus, die unendliche Erleichterung der Transportverhältnisse durch Dampf und Elektrizität, die Erschließung der Naturschätze in allen Teilen der Erde und ihre beständig intensivierte Einfügung in den Produktionsprozeß aller Länder, kurz, mechanische Zauberhände überwinden jedes technische Hindernis, und absolut all und jedes in allen Teilen der Erde ist dem kontinuierlichen Produktions-, Handels- und Verbrauchsprozeß in den Rachen geworfen oder für die baldmöglichste Zukunft hierzu bestimmt. Dieser ungeheure Wechsel traf nun eine gänzlich unvorbereitete Menschheit, welche die vorbereitenden Jahrhunderte, vom sechszehnten ab, mit religiösen und synastischen Kriegen, bürokratischem Staatsallmachtsaufbau, Monarchendienst usw. zubrachte, in ihrer überwiegenden Masse von der Bildung abgeschnitten und auf jede Weise versklavt, mißhandelt und meist der äußersten Dürftigkeit, dem chronischen Hunger preis gegeben. Alle künstlerischen, gelehrten und manchmal moralisch und sozial gefühlvollen und auch rebellischen Leistungen und Tätigkeiten einzelner täuschen hierüber nicht hinweg, und nach der Niederschlagung aller Volksempörungen des ausgehenden Mittelalters in England, Frankreich, Deutschland, Spanien usw. waren grade in jenen Jahrhunderten, vom sechszehnten bis zum achtzehnten, die Volkskräfte gelähmt, und der Empörungsgeist verlief sich meist auf religiöse Irrwege, 16. und 17. Jahrhundert, um, als hier im 18. Jahrhundert die Aufklärung durchdrang, sich der an den antiken Republiken und alten Volkstraditionen nährenden demokratischen Illusion hinzugeben, den gerechten Himmel nunmehr in den gerechten Staat verlegend und dort suchend. Sozial war das Volk damals blind, bis die physische Unerträglichkeit des Fabriksystems in seiner rohesten ältesten Form Koalitionen, bald die Trade Unions und die Arbeiterschutzbestrebungen als Notwehr ins Leben rief.
Eine ihr soziales Leben auf Grund irgendwelcher gemeinsamer Menschlichkeitsgefühle einrichtende Menschheit hatte es bis dahin nicht gegeben und gibt es auch heute nicht. Der zur Arbeit durch seine Armut Gezwungene wurde so rücksichtslos verbraucht wie ein Werkzeug abgearbeitet wird. Als die amerikanischen Indianer durch Sklavenarbeit abstarben, begann der Import der Negersklaven, und mit derselben kühlen Sachlichkeit wurden die aus unerträglichem Elend auf dem Land flüchtenden Besitzlosen, Männer, Frauen und Kinder, in die neuen Fabriken gesperrt und verarbeitet und durften europäische Auswanderer, Nachfolger der Sklavenimporte, Nordamerika urbar machen und gewissermaßen als “Trockenwohner” bewohnen, bis seitdem das organisierte Kapital sie meist wieder ruiniert und in neue Dienstbarkeit einzwängt. Die im neunzehnten Jahrhundert als gemeinsame Stimme der Menschheit funktionierenden Faktoren, die öffentliche Meinung, die Presse, die Parlamente und Parteien, die organisierten Religionen, viele und oft wertvolle Denker und Redner usw., alle vermochten keinen Teil der alten sozialen Struktur wirklich zu erschüttern und nahmen nur endlose Reparaturen, Verdeckungen der nacktesten Schäden, Namensänderungen usw. vor, durch die der Ausbeutungsmechanismus ein zeitgemäßeres Aussehen gewann. Einiges gewannen die Ausgebeuteten selbst durch Zusammenhalten, die Arbeiter durch Gewerkschaften, die Bauern durch agrarische politische Mittel und Wege, ohne daß aber selbst nur zwischen diesen beiden großen Gruppen, den Arbeitern und den Kleinproduzenten, Handwerkern und Bauern, irgendwo ein Zusammenwirken gegen die Großausbeuter, Kapital und Staat, sich entwickelt hätte; vielmehr gibt es wenig Länder und Gegenden, wo nicht zwischen diesen beiden für den Produktionsprozeß entscheidenden Gruppen Mißtrauen und Feindschaft bestünde.
In diese trübe Flut uralter brutalster Herrschaft der Privilegierten und ebenso uralter sehr großer Hilfs- und Willenlosigkeit der Unterdrückten mündete nun seit über einem Jahrhundert die reine Quelle des Sozialismus: ist es da zu verwundern, daß sie sich beständig In der Flut verliert? Eine Quelle vermag einen Strom nicht zu reinigen, sie geht darin unter. Die seit der Vorzeit autoritär gedrillte Menschheit hörte als Masse die Freiheitsrufe einiger Sozialisten der letzten hundert Jahre in ihrer ursprünglichen echten Form einfach nicht, während sie den Lockungen autoritärer Verfälscher des Sozialismus um so leichter Gehör schenkte, je müheloser ihr dies gemacht wurde und wird. So entstanden die heutigen Scheinerfolge, sozialistische Majoritäten bei englischen und deutschen Wahlen, während zugleich ein Magdeburger Parteitag und Moskauer Parteikongreß die bekannten Taten sozialistischer Machthaber gegen das Volk und andersdenkende Sozialisten, als selbstverständliche Begleiterscheinungen der Macht betrachten. So ist das einstige Gold sozialistischer Ideen und Gefühle auf wertloses Schaumgold verflattert, von dem sich einzelne Atome über Millionen verteilen. Ich sehe vollkommen ein, daß es nicht anders kommen konnte, sobald man die abschüssige Ebene der Erfolgshascherei betrat, die zugleich für alle militanten Parteisozialisten eine sichere persönliche Versorgung in immer steigendem materiellen Umfang bedeutete. Aber diese Parteien wurden dadurch zu Gauklern, die mit Vorspiegelungen arbeiten, die den Vertröstungen der Geistlichkeit aller Zeiten auf das Himmelreich immer ähnlicher sehen, und es kann nicht der Wille der wirklichen Sozialisten und aller human denkenden Menschen sein, zuzusehen, wie sich systematisch ein neues Pfaffentum neben oder an die Stelle des alten Pfaffentums stellt.
So viele sentimentale Bande noch immer auch die freiheitlichsten Sozialisten mit allem verbinden, was sie noch immer als relativ volksfreundliche Aktionen betrachten, sollten wir doch endlich einmal versuchen, in diesen Dingen ganz klar zu sehen und entsprechend zu handeln. Sonst vergehen die Jahre umsonst, unsere Reihen verfallen und der ganze Sozialismus verläuft im Sande. Denn nichts garantiert ihm dauerndes Leben, wenn er sich selbst aufgibt, das heißt von dem allgemeinen autoritären System wieder absorbiert wird, das im Lauf der Zeiten unzählige seiner Bekämpfer lahmzulegen und in ihren Folgen fast oder ganz spurlos verschwinden zu machen verstand und das wahrlich vor dem Stimmzettel, dem Mitgliedsbuch und selbst zeitweiligen Diktaturen nicht kapitulieren wird, da es sich zu fest auf die autoritäre Mentalität ungeheurer Massen stützen kann.
Ist deshalb der freiheitliche Sozialismus aussichtslos? Nicht im geringsten, nach meiner Überzeugung, sobald er nur endlich beginnen wird, sich an die freiheitswilligen und in nennenswertem Grade freiheitsfähigen Teile der Menschheit direkter zu wenden als dies bisher geschieht. Hierzu müssen wir zunächst mit uns selbst ehrlich sein. Bei aller Anerkennung der Gleichberechtigung aller Menschen und unserem Wunsch, in jedem möglichst viele Keime und Möglichkeiten einer gedeihlichen und solidarischen Entwicklung als Mensch und Bruder zu erkennen und zu fördern, wissen wir doch daß die Menschen unendlich verschieden sind, daß sie ebenso sehr verschieden schwer oder leicht in besserem Sinn beeinflußt werden können und ebenso, daß bei all dem die Klassenzugehörigkeit wirklich nichts zu sagen hat. Der Sozialismus in seinen uneigennützigsten, opfermutigsten, revolutionärsten Richtungen hatte seit jeher auf die besten Elemente absolut aller Klassen eine Anziehungskraft, die alle Klassenschranken durchbrach. Dasselbe gilt von allen freiheitlichen und humanitären Richtungen, von denen keine einzige ein Klassenmonopol war. Klassenangelegenheiten sind unmittelbare praktische Kämpfe, die Gewerkschaftsbewegung also und ähnliche agrarische Schutzbewegungen, aber selbst hier ist der reine Klassenstandpunkt durchaus nicht immer allein maßgebend, wie z.B. das Zusammengehen der Schutzzollbestrebungen (Importe und Einwanderung) von Arbeitern und Kapitalisten in Nordamerika, die häufige Interessengemeinschaft von Bauern und Großagrariern usw. beweisen.
Nicht eine einzige wertvolle menschliche Bewegung ist also reine Klassenangelegenheit: wie sollte dies also die wertvollste aller Bewegungen, die Sache der Befreiung der Menschheit von Herrschaft und Ausbeutung sein?
Die marxistische Klassenideologie bildete sich aus, weil man zuerst in den durch das Fabriksystem als unvermeidliche Abwehr ins Leben gerufenen Trade Unions dann in den von der demokratischen Illusion zu Massen gruppierten, nach Wahlrecht dürstenden Chartisten und in den sowohl vom bonapartistischen, wie vom republikanischen allgemeinen Stimmrecht in Frankreich rekrutierten Wählermassen Armeen zu sehen glaubte, denen man mit einiger Geduld und Ausdauer eine sozialistische Führerschaft aufoktroyieren zu können glaubte, was ja auch in unerwartetem Umfang gelang. Es blieb aber immer dieselbe Masse, die noch nie einen wirklichen Willen zu einer Tat im Sinn der ihr suggerierten Ideen gezeigt hat; denn wenn man einmal die Geschichte ihrer legendären Hüllen entkleiden würde, würde sich zeigen, in welchem Grade jedes revolutionäre Kapitel der Geschichte der Initiative kleiner Minoritäten entstammt und die Masse sich nur mit der sehr günstigen Konjunktur oder erst nach der vollendeten Tatsache einstellte. Jede Klassenmasse ist eben trotz dem äußeren Anschein ohne innere Konsistenz, verschiedenartig und daher brüchig und träg. Treibende Faktoren waren immer individuelle und kollektive Initiativen, bestehend aus für einen Zweck bewußt zusammenarbeitenden Elementen der verschiedensten Herkunft. Auch dies wäre leicht für jede Sphäre des Fortschritts nachzuweisen. Es müßte also mit Wunder zugehen, wenn dies für die Zusammenfassung aller Fortschritte anders sein sollte und hier sich auf einmal alles anders, als Kulissenwechsel der Klassen voll, ziehen sollte. Nur wer gänzlich marxgläubig ist, kann dies glauben, und für diesen hat jeder sonstige Sozialismus seinen Sinn verloren, und es ist vergeblich, mit ihm zu diskutieren: seine Antwort an alle anderen Sozialisten sind nur Kerker oder Tod, wenn er wie im heutigen Rußland über diese staatlichen Machtmittel verfügt.
Glaubt nun etwa jemand, dem diese Klassenideologie heute noch unentbehrlich erscheint, daß ihm durch Aufgeben derselben wirklich etwas genommen würde? Ich fasse es so auf, daß ihm dadurch nur etwas gegeben würde, der innere Zusammenhang mit allen guten Elementen der Menschheit, ohne die nie eine gute Sache wirkliche Ausdehnung gewann. Diese Elemente sind auch von selbst zum Klassensozialismus gekommen, wird man einwenden. Gewiß, aber es wird immer eine offene Frage bleiben, ob sie nicht in diesen hundert Jahren einem wirklichen Menschheitssozialismus einen ganz anderen Umfang und Inhalt zu geben verstanden hätten. Der klassenexklusive Sozialismus verstand es nicht, und wollte es meist auch gar nicht, mit irgendeiner Menschen im Allgemeinen bewegenden Frage und Richtung in ein klares Verhältnis zu treten.
Betrachten wir z.B. die Freidenker; hier fürchtet man Wähler- und Mitgliederverlust und proklamiert Religion zur Privatsache, oder man fürchtet Kontakt mit anderen Menschen und organisiert proletarische Freidenker. Oder die Kooperationsbewegung, die man einerseits als verbürgerlichend perhorresziert oder andererseits parteimäßig gefärbt und isoliert selbst betreibt. Oder die antimilitaristischen und Friedensbewegungen, die man durch einige Worte in den Parteiprogrammen und gelegentliche Internationalitätsversicherungen in friedlichen Zeitläufen zu ersetzen glaubt. Von jeder der lebenden Bewegungen ist der Sozialismus verachtungsvoll getrennt oder er sucht sie mit Parteifärbung nachzuahmen. Komisch ist, daß schließlich doch all diese partiellen Besserungsbestrebungen in den Sozialismus eingedrungen sind, aber notgedrungen, als unwillkommene Gäste und durch Isolierung und Parteianstrich verkümmernd. Statt zuerst und aus sich heraus die Welt mit humanitären Ideen und Anregungen zu überschütten, wie vor hundert Jahren Robert Owen, die Saint-Simonisten und viele andere Sozialisten es taten, ist längst der organisierte Sozialismus von heute so ziemlich der letzte geworden, der einer allgemeinen freiheitlichen und fortschrittlichen Anregung folgen würde.