Uwe Johnson

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Herr Hoppenrath ist mit mir durchaus nicht verwandt, oder verschwägert. [...] Wir lernten uns besonders kennen im Juli des Jahres 1951, gelegentlich gemeinsamer Betrachtungen über pädagogische Ethik, Betrachtungen die sich zusehends mit Salz anreicherten. [...] Herr Hoppenrath unterrichtete am gleichen Institut in den Fächern Musik und Deutsch [...] Doch war Herr Hoppenrath nicht nur bei wenigen beliebt. Man freute sich allgemein ihn zu sehen, denn er führte ergötzliche Reden. Er bemühte sich, im Gegensatz zu der obligaten Parteilichkeit marxistischer Wissenschaft, seinen Stoff einiger Massen objektiv darzustellen – es ist, heute und hier, begeisternd, jemand sagen zu hören was er denkt, um so mehr: wenn alle dasselbe denken. – Er leitete den John Brinckman-Chor: das war eine seltene Gelegenheit zu wirklich musikantischer Arbeit; das Lied der Gewerkschaften brauchten wir nicht zu lernen, aber das deutsche Volkslied haben wir begriffen (mitunter ward uns auch besondere Kenntnis, etwa von der Scheusslichkeit des Dreiklanges Es-E-D).
Wie Weserichs Dissertation über Fontanes Schach von Wuthenow in Göttingen gedruckt wurde, so promovierte Kurt Hoppenrath im Juli 1964 an derselben Universität über Eduard Krüger (1807–1885). Leben und Wirken eines Musikgelehrten zwischen Schumannscher Tradition und Neudeutscher Schule. Uwe Johnson liebte die romantische Musik. Neben Johann Sebastian Bach waren ihm Franz Schubert und auch Robert Schumann durchaus vertraute Komponisten. Hoppenrath schmiedete die Schülerschaft beim Chorsingen zusammen. Dies hat ihm sein ehemaliger Schüler denn auch noch 1954 ausdrücklich bescheinigt: »Der Chor war das einzige wahrhafte Kollektiv an dieser Schule, meine ich.« Das einzige Kollektiv mithin an einer sich als sozialistisch verstehenden »Neuen Schule«.
Die politische Atmosphäre der John-Brinckman-Schule in den Jahren der »Formalismus«-Kampagne 1951/52 schließlich hallt in den folgenden Formulierungen nach, die auch die Annahme nahelegen, daß Uwe Johnson diesen Brief wohl nicht der Post der »Demokratischen Republik« anvertraut haben wird:
Es ist hierzulande das merkwürdige Phänomen gebräuchlich, dass manche Schüler auftragshalber an jeder Äusserung ihres Lehrers erwägen, ob sie für die Schulleitung von Interesse sei, oder nicht. (Übrigens ist der stellvertretende Direktor der John Brinckman-Oberschule Sonderbeauftragter des Staatsicherheitsdienstes zumindest 1951 gewesen.) Auf solchen Wegen pflegen sich allerlei Gefährlichkeiten an unrechter Stelle anzusammeln; ich bat Herrn Hoppenrath bereits im Herbst 1952, die DDR zu verlassen, und hatte wahrlich Anlass das zu tun. (ebd., S. 105)
Der Kandidat Weserich und der Lehrer Hoppenrath: Mit beider Promotion in Göttingen endet die Parallele. Nach Erscheinen der Mutmassungen übrigens bekam Kurt Hoppenrath das Buch zugesandt, soll es aber aufgrund der eigenwilligen Kommasetzung dem Autor mit dem Bemerken zurückgesandt haben, dieser solle um Gottes willen nie behaupten, daß er bei ihm Deutschunterricht gehabt hätte – was Uwe Johnson denn auch nie getan hat.
Bleibt Kurt Hoppenrath als Hauptzeuge für die Existenz einer Vorversion der Ingrid Babendererde, indem er im Frühsommer 1952 gegenüber Horst Dehn geäußert hat: »Der Johnson macht die Schule nur nebenbei; er hat ja schon sein erstes Buch geschrieben.« Zur Zeit seines Abiturs im Mai/Juni 1952 hatte Johnson Hoppenrath die Mitteilung gemacht, er habe die Babendererde fertig. Diese erste Fassung der Babendererde wird dann der Abiturient und angehende Student aus Güstrow mit nach Rostock nehmen.
WILHELM GIRNUS VERSUS ERNST BARLACH.
DER SCHÜLER JOHNSON IM RAHMEN DER
»FORMALISMUS«-DEBATTE
Wir wissen, auch aus den Begleitumständen, daß die Abiturienten in Güstrow 1951/52 auf ihre Reifeprüfung nicht zuletzt durch intensive Lektüre des Neuen Deutschland, insbesondere von Artikeln aus der Feder Wilhelm Girnus’, vorbereitet wurden. Girnus war Vorsitzender der staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten, die am 31. September 1951 zur besseren Gängelung der Künste – neben anderen auch gegen Einwendungen Bertolt Brechts – installiert worden war. Girnus, ein Schüler des seinerzeit in Leipzig lehrenden Literaturhistorikers Hans Mayer, erschien der Partei als der richtige Mann, gegen Barlach und andere »Formalisten« anzutreten. Johnson schreibt über Mayers entlaufenen Schüler:
»Eine Begabung ist eine einmalige und kann in jedem Fall etwas anderes sein«, das war Originalton Girnus. Er war ja kein Unbekannter. Unter seiner Ägide, als er der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten vorsass, hatte ein Oberschüler lernen müssen für die Reifeprüfung, was ein Girnus unter Formalismus verstand, nämlich eine typische Verfallserscheinung der bürgerlichen Kunst, der als einer Mode-Erscheinung auch fortschrittliche Künstler verfallen können, siehe Picasso. Wer dann Picassos Taube gesehen hatte auf dem Vorhang in Brechts Theater am Schiftbauerdamm, hatte leichte Wahl. Weiterhin war es eben dieser Girnus gewesen, der den Oberschülern ins Pensum geschrieben hatte, es gebe eine so schlimme Abweichung wie den Kosmopolitismus, eine von, vorzugsweise jüdischen, Imperialisten ausgesäte Ideologie, die die Einschränkung der staatlichen Unabhängigkeiten als gesetzmässig ausgebe, mit freundlichen Grössen von Stalin, der die Vaterschaft an dem jüdischen unter seinen Völkern in den Wind schlagen wollte. (Begleitumstände, S. 107)
Die staatliche Kunstkommission unter Vorsitz von Girnus erscheint als ein Resultat des ersten Kulturkampfes, den die SED in ihrem Staat meinte führen zu müssen. Die Auseinandersetzung begann ein Jahr vor Johnsons Abitur. Sie wandte sich unter anderem gegen eine Ausstellung von Werken Ernst Barlachs in Berlin. Die SED erwirkte die vorzeitige Schließung der Ausstellung und die Entlassung des Verantwortlichen. Nachdem Ernst Barlach von den Nationalsozialisten als »entartet« gebrandmarkt worden war, sahen die neuen Machthaber und Girnus in Barlachs Plastiken den volksfremden »Formalismus« exemplarisch realisiert.
Selbstverständlich machte die Schließung der Berliner Barlach-Ausstellung ein vieldiskutiertes Thema in der Barlach-Stadt Güstrow aus. Uberdies dachte, was Barlach anging, der Güstrower Uwe Johnson wohl immer schon eigen. Bereits der Schüler besaß eine enge Beziehung zu Barlachs Vertrautem »Lütten Schult«, der als Zeichenlehrer an der John-Brinckman-Schule unterrichtete und dessen Sohn Friedrich-Ernst Schult Johnson später das wesentliche Ambiente für den Beruf des Heinrich Cresspahl in den Jahrestagen liefern wird. Und nicht nur den schwebenden Engel im Dom hat Johnson bewundert. Er ließ auch seine Gesine mit dem Barlachschen Fries der Lauschenden im Gepäck nach Düsseldorf umziehen.
Vor allem aber erscheint Ernst Barlach untrennbar mit jener Landschaft verbunden, die auch Uwe Johnson geprägt hat. Der Güstrower Heidberg, an seinem Fuß liegt Barlachs Atelierhaus, stellt den Heiligen Berg von Johnsons norddeutschem Yoknapatawpha-County dar. Den Blick vom Heidberg als den Wunsch Gesines für die Stunde des Sterbens hat der Autor Johnson später in den Jahrestagen festgehalten. Am Beispiel des Heidbergs lernte Uwe Johnson nichts Geringeres als die »Unentbehrlichkeit der Landschaft«. Nach den »Wellen der Mecklenburgischen Landschaft« hatte Barlach einst seine Plastik eines Liegenden entworfen. Heinrich Cresspahl im Werk des Uwe Johnson aber erscheint entworfen nach der Plastik eines Spaziergängers, den Barlach gegen Mecklenburgs Wind anschreiten ließ. Ernst Barlach und seine Plastiken: Für Uwe Johnson waren sie aufs engste verbunden mit seiner Heimatlandschaft; sie waren ihm eins mit jener einmalig-unwiederholbaren Formation aus Wald, Hügeln und Wasser, »in der Kinder aufwachsen und das Leben erlernen«, wie Gesine sagen wird (Jahrestage, S. 1822). Größere Nähe erscheint kaum vorstellbar. Jedenfalls nicht im Fall des Güstrowers Uwe Johnson, der dann auch seine Examensarbeit bei Hans Mayer über Ernst Barlachs Gestohlenen Mond schreiben wird.
Durch seine Nähe zu Barlach gehörte Uwe Johnson folglich zu den Betroffenen in jenen Debatten um den »Formalismus«, wie sie seit 1951 geführt wurden in der DDR. Unter dem Druck des zu bestehenden Abiturs identifizierte sich der Oberschüler mit den aggressiven ideologischen Forderungen der Schule. Zum letzten Mal in Johnsons Leben wiederholte sich ein emotionales Muster, das seine Präfiguration bereits auf der »Heimschule« erfahren hatte. Wie die »Quexe« gegen den lesenden Johnson, so gingen die Ideologen des Antiformalismus-Kampfes gegen den Barlach-Verehrer Johnson vor. Deren orthodoxer Wortführer Wilhelm Girnus stellt dann auch folgerichtig jene Person dar, die Johnson in der Rückerinnerung der Begleitumstände mit größtem direktem Ingrimm und nahezu haßerfüllter Erbitterung bedenkt. In ihm sah er nichts anderes als den ideologischen Jugendverderber seiner Abiturstage. Wilhelm Girnus stand selbstverständlich, nicht nur in der Barlach-Frage, auch gegen Bertolt Brecht, wie vor ihm bereits Georg Lukács. Auch hierin wurde ein »Erbe« bewahrt.
Am 4. Januar 1952 hatte Wilhelm Girnus nachfolgenden Artikel veröffentlicht, und man kann davon ausgehen, daß diese Ausführungen Stoff für den Deutsch- und Gegenwartskunde-Unterricht in Güstrow abgaben:
Die Akademie der Künste zeigt gegenwärtig Werke des Plastikers und Zeichners Ernst Barlach, der 1938 in Mecklenburg verstorben ist. Die Akademie hat sich offensichtlich von dem Bestreben leiten lassen, der deutschen Öffentlichkeit das Werk eines Künstlers vorzuführen, von dem sie glaubte, daß in ihm das Streben zur Verbindung mit dem Volke, besonders mit der Bauernschaft lebe. Unzweifelhaft ist in ihm ein echtes Bedürfnis des Mitleidens mit dem leidenden Volk, den Beleidigten, Verfolgten, Unterdrückten, Ausgestoßenen vorhanden. Den Nazis, die im Deutschen den Herrendünkel, den Rassenwahn züchten wollten, mißfiel Barlach, weil er nicht die »blonde Bestie« verherrlichte. Aber die neuerliche Betrachtung seines Werkes zeigt doch so deutlich wie noch nie, daß Barlach ein auf verlorenem Posten stehender, in seinem Grundzug rückwärts gewandter Künstler war. Barlach hatte keine Vorstellung, wie das menschliche Leid überwunden werden kann, und daher ist er nicht in die Tiefe der Seele des unterdrückten Menschen gedrungen. Seine Geschöpfe sind eine graue, passive, verzweifelte, in tierischer Dumpfheit dahinvegetierende Masse, in denen auch nicht der Funke eines starken, lebendigen Gefühls des Widerstandes zu spüren ist. Mit Vorliebe sucht Barlach seine Typen in Bettlern, Vagabunden, Landstreichern, jenen passiven Schichten des Lumpenproletariats, die ohne jede Hoffnung leben.
Charakteristisch bezeugen Girnus’ Ausführungen den stalinistischen Geist in der Kunstdebatte jener Jahre. Der Künstler Barlach ließ allen Optimismus vermissen und war folglich untragbar für die glorreiche Neue Zeit. Ihm fehlte das Positive, Konstruktive.
Uwe Johnson hat im Abschlußband der Jahrestage direkt auf die zitierte Girnus-Passage Bezug genommen. Das geschah mit zahlreichen wörtlichen Übernahmen und einem Verweis auf Stalin, so daß der Leser meinen kann, der Woschd selbst spräche, wo in Wahrheit lediglich Wilhelm Girnus zitierend zum Sprechen gebracht wird:
Die S.E.D. hatte ihren Sachbearbeiter für Kunst entsandt in die Akademie, einen Girnus, wohlbewandert in den volksfeindlichen Praktiken des Formalismus, der wollte dem Verstorbenen wenigstens zugute halten, daß die Nazis ihn behandelt hatten als ihrer Art fremd. Aber Barlach habe auf verlorenem Posten gestanden, ein im Grundzug rückwärts gewandter Künstler sei er gewesen. Unberührt vom Hauch der russischen Revolution von 1906. Bekleidete eine Welt der »Barfüßler« mit einem Glorienschein. Was hingegen hat Stalin in seinem Werk »Anarchismus oder Sozialismus« über diese Welt der »Barfüßler« gesagt? Er hat erwidert: Richtig ist, daß ... Barlachs Orientierung auf eine verfaulende Gesellschaftsschicht hat ihm den Zugang zu dem großen progressiven Strom des deutschen Volkes verschlossen. Von ihm sich isoliert. Das das ganze Geheimnis seiner selbstgewählten Vereinsamung. (Jahrestage, S. 181)
Die paraphrasierende Genauigkeit der Wiedergabe zeigt, wie sehr hier einem das Gedächtnis geschärft war durch große Verletzung. Denn nichts deutet daraufhin, daß Uwe Johnson den Girnus-Artikel aufbewahrt hätte.
Was der Abiturient wohl nicht kannte, war die von Brechts Autorität getragene Gegenposition, wenngleich deren Argumente zugunsten Ernst Barlachs, mit erheblicher Verzögerung freilich, 1952 in Sinn und Form (4. Jg., Heft 1) veröffentlicht worden waren:
Ich halte Barlach für einen der größten Bildhauer, die wir Deutschen gehabt haben. Der Wurf, die Bedeutung der Aussage, das handwerkliche Ingenium, Schönheit ohne Beschönigung, Größe ohne Gerecktheit, Harmonie ohne Glätte, Lebenskraft ohne Brutalität machen Barlachs Plastiken zu Meisterwerken. [...] Auch einige seiner schönsten Werke erwecken den traurigen Gedanken an die deutsche Misere, die unsere Künste so geschädigt hat. (ebd., S. 182 ff.)
Nicht zuletzt die Tatsache, daß Güstrower Schüler in den Jahren 1951 und 1952 an Material wie dem zitierten für ihr Abitur haben lernen müssen, wurde Uwe Johnson zum Schreibantrieb für die uns bekannte, deutlich politisierte Fassung der Babendererde. Und nicht nur hierfür: Da der Erstling zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht wurde, wird er im Abschlußband der Jahrestage die Schulgeschichte noch einmal neu und anders schreiben. Sie wird dann vollends zeigen, daß in der Güstrower Abiturs-Realität von 1952 es paradoxerweise jene leichter hatten, die zuvor schon von den Nazis indoktriniert worden waren.
DER ABITURAUFSATZ: VON LENIN ÜBER SHDANOW UND
LUKÁCS BIS ZU WALTER ULBRICHT
Folgende deutschlandpolitische Situation stellte den Hintergrund für Johnsons Abituraufsatz: Im März 1952 waren die sowjetischen Vorschläge zu Friedensverhandlungen für ein wiedervereinigtes Deutschland von den Westmächten zurückgewiesen worden. Der Abiturient Johnson verfolgte den Fortschritt bzw. Nicht-Fortschritt dieser Verhandlungen. Las, wie er in den Begleitumständen berichten wird, fiebrig Zeitung. Die Bundesrepublik hatte im gleichen Monat Mai (der also auch deutschlandpolitisch ein heißer war) den Deutschlandvertrag abgeschlossen, mithin ihren Beitritt zur Nato erklärt. Was bedeutete, daß die SED nun ihrerseits die eigenständige Entwicklung der DDR im Sinne eines eigenständigen sozialistischen Staates forcierte. Johnsons Reifeprüfung fiel zudem in die Vorbereitungsphase zur 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952. Dort wurde die neue Politik in Richtlinien gefaßt und der planmäßige Aufbau des Sozialismus mitsamt der Kollektivierung der Landwirtschaft und des verstärkten Ausbaus der Schwerindustrie beschlossen. Ferner auch der »verschärfte Klassenkampf« gegen die Kirchen und ihre Organisationen. Als weitere Gegner wurden der bürgerliche Mittelstand und dessen Intellektuelle namhaft gemacht. Schulen und Hochschulen beanspruchte die Staatspartei jetzt verstärkt als die Gelenkstellen der von ihr gewünschten Ideologievermittlung. Dabei kam selbstverständlich der FDJ eine zentrale Rolle zu. Bis 1953 sollten alle diese Beschlüsse verwirklicht sein. Der Student Johnson wird ihnen in Rostock erneut begegnen.
Im Mai 1952 schrieb Uwe Johnson seinen Abituraufsatz, und möglicherweise siedelt der Reifeprüfungsroman Ingrid Babendererde das Abitur in memoriam realitatis just in der Woche zwischen dem 26. und dem 30. Mai an. Die Themenstellung zielte aufs Eigentliche und lautete: Die Kunst gehört dem Volke. Sie muß ihre tiefsten Wurzeln in den breiten schaffenden Massen haben. Sie muß von diesen verstanden und geliebt werden. Sie muß sie in ihrem Fühlen, Denken und Wollen verbinden und emporheben. Sie muß Künstler in ihnen erwecken und entwickeln (Lenin). Unverblümt verpflichtete das Lenin-Motto zu einer Stellungnahme gegen den »Formalismus« und »Kosmopolitismus« in der Kunst. Darüber hinaus sollte der Aufsatz sich auf die aktuelle kulturpolitische und überhaupt politische Lage der DDR beziehen. Der Abiturient Johnson fertigte, wie es sich gehört, dazu eine »Disposition«, gewidmet der »Lage der Kunst in der DDR«. Die »Ausführung« dann griff das vorgegebene Lenin-Zitat auf, indem sie es durch Absätze unterteilte in die Aspekte 1. Volkstümlichkeit, 2. Notwendigkeit positiver Perspektive und 3. gewünschte Erweckung schöpferischer Fähigkeiten bei den Massen. Als »Schluß« fragte der Schüler rhetorisch: »Welche Aufgaben ergeben sich aus diesen Forderungen für unseren Kampf um eine realistische deutsche Kunst?« Um dann die geforderte Parteilichkeit unter Beweis zu stellen. Diese erschien ihrerseits sorgfältig gegliedert: »Erstens«, »Zweitens«, »Drittens« und »Viertens«. Auf die Analyse der Wirklichkeit habe die Aneignung des »Erbes« zu folgen. Darauf das Studium der »Volkskunst« und dann, viertens und apotheotisch abschließend, das Studium der Kunst in der »sozialistischen Sowjetunion [...], die es in vorbildlichem Maße versteht, die Menschen für den Aufbau und Schutz ihrer Heimat zu begeistern«.
Johnsons Aufsatz war gleichsam als ein doppelter angelegt. Er enthält eine Anzahl von Klammern, die ihrerseits, je nachdem, ob man ihren Inhalt nun mitliest oder nicht, zwei verschiedene Textfassungen ergeben. Beide Versionen erweisen sich dabei in syntaktischer sowohl wie in grammatikalischer Hinsicht als vollständig und »richtig«. Wie der fast 18jährige diese beiden Texte ineinander gearbeitet hat, zeigt seine Sprachbeherrschung. Ein Beispiel:
Jede dieser beiden Richtungen behauptet, (die) schöpferisch(e) zu sein. Kann eine Kunst, die (eine Kraft der) Kriegshetze und (der) Unterdrückung freien Menschentums unterstützt, auch nur im mindesten Anspruch darauf erheben, schöpferisch zu sein?
Schülerhaft scheint daran allenfalls noch, daß diese Sprachbeherrschung auf solche Weise demonstriert werden sollte – zumal beide Textversionen in ihrer Aussage kongruent sind.
Der Abiturient Johnson berief sich nicht ausschließlich auf Lenin. Sondern weiterhin auch auf Stalins Hauptfachmann in aestheticis, Alexej Shdanow, den Erfinder jenes goldenen Wortes, dem zufolge man im Dichter einen »Ingenieur der menschlichen Seele« zu erblicken habe. Shdanows Schrift »Über Kunst und Wissenschaft« war gerade 1951 in einer Massenauflage erschienen. Der Band enthielt zwar alte Texte, entstanden bereits zwischen 1934 und 1948, gleichwohl markierte sein Erscheinen die Übernahme der stalinistischen Kunstbetrachtung durch die Führung der DDR. Weiterhin lag seit demselben Jahr die Sammlung von Äußerungen zu Kunst und Literatur von Marx und Engels (in der Babendererde wird die DDR in karikierender Anlehnung an die Physiognomie dieser beiden das »Land der Bärtigen« geheißen) im Aufbau-Verlag vor. Johnsons einleitende Anrufung des Alexej Shdanow glich einer quasireligiösen Eröffnung. Er stellte seinen Tribut an die große Sowjetunion dar, die den Faschismus besiegt hatte, war aber keineswegs nur als Taktik eines Schülers zu verstehen, der das Abitur gut bestehen wollte. Der vormalige »Jungmann« Uwe Johnson kannte Shdanows Kunstkonzept in dessen Mischung aus »Volkstümlichkeit« und Widerstand gegen den »kosmopolitischen Formalismus« ja eigentlich bereits, stimmte es doch wesentlich mit dem überein, was er einst in der »Heimschule« gelernt hatte.
Der Abituraufsatzschreiber wandte sich in seiner »Einleitung« dann dem zu, was er die DDR-deutsche »realistische Kunst als Teil des Überbaus« nannte. Dabei fallen die Namen Becher, Brecht, Seghers, Willi Bredel und Friedrich Wolf, wobei die Reihung nicht alphabetisch gehalten ist, was wiederum auf eine Rangfolge in der damaligen Wertschätzung dieser Künstler durch den Schreibenden selbst hindeuten mag. Daneben verweist die Auswahl dieser Namen (und vor allem auch die Nennung von Stephan Hermlins Manfelder Oratorium) darauf, daß im Unterricht der Text der Zentralkomitee-Entschließung zum »Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur« eine Rolle gespielt haben muß. Auch am Zustandekommen dieses vom Zentralkomitee am 17. März 1951 verabschiedeten Dokumentes hatte Girnus »verdienstvoll« mitgewirkt. Es lautete:
Kulturelle Erfolge in der Deutschen Demokratischen Republik.
Das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands stellt fest, daß in der Deutschen Demokratischen Republik auch auf dem Gebiet der Kunst und Literatur Leistungen erzielt wurden, auf die alle fortschrittlichen Deutschen mit Recht stolz sind. Dazu gehören die Werke der Schriftsteller und Dichter Arnold Zweig, Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Anna Seghers, Bernhard Kellermann, Friedrich Wolf und Willi Bredel, Erich Weinert, Hans Marchwitza, Bodo Uhse, Stephan Hermlin, Kurt Bartel (Kuba), Alfred Kantorowicz, die während der Emigration oder nach 1945 geschrieben und in den letzten Jahren veröffentlicht wurden. Diese Werke haben an der Bewußtseinsänderung des deutschen Volkes einen bedeutenden Anteil. [...] Mit dem Mansfelder Oratorium haben seine Schöpfer ein Werk geschaffen, das einen besonderen Platz im kulturellen Leben in der Deutschen Demokratischen Republik einnimmt.
Auch das hatten die Schüler also lernen müssen. Daher rühren die von Johnson genannten Namen. Weiterhin hatten Johnson wie seine Mitabiturienten gelernt, daß man sich für den Kampf gegen den »Formalismus« am besten jenes kanonisierten Engels-Ausspruches bediente, der lautete: »Realismus bedeutet, meines Erachtens, außer der Treue des Details die getreue Wiedergabe typischer Charaktere unter typischen Umständen.« (Engels an Margaret Harkness, April 1888) Bei Engels schien andererseits aber nicht angelegt, was die faschistische und die »marxistische« Kunstanschauung in der Argumentation zusammenführte: der Vorwurf nämlich, daß der »kosmopolitische Formalismus« »zersetzend« wirke. Der Ausdruck »zersetzen« findet sich in einem ZK-Beschluß (»Der Formalismus bedeutet Zersetzung und Zerstörung der Kunst selbst«) ebenso wie in Johnsons Aufsatz. Letzterer schreibt vom »Kampf zwischen der zersetzenden, antinationalen Kunst des Imperialismus und der [...] Kunst des Fortschritts«. Mit der durchaus systematischen Zusammenkopplung von Kosmopolitismus und Formalismus aber befand man sich nicht weit vom Vorwurf entfernt, daß es eine jüdische Internationale sei, die alle nationale, völkische bzw. volksverbundene Kunst zersetze. Im Rückblick der Begleitumstände hat Johnson, mit Erbitterung wiederum, an die antisemitischen Untertöne dieser Kampagne erinnert. Im Abituraufsatz lesen wir:
Wenn wir uns diese unsere Ziele vor Augen führen und sie gründlich durchdenken, dann erst erkennen wir die ungeheure Bedeutung des Kampfes gegen Formalismus und Kosmopolitismus, diese beiden reaktionärsten und volksfeindlichsten Strömungen im Kulturleben des Westens. Diese Kunst ist ein Instrument der imperialistischen und kriegshetzerischen Bestrebungen der Feinde der Menschheit. Der Formalismus verzerrt durch Überbetonung formaler Dinge die seit jeher gültigen Gesetze der Ästhetik. Er verwirrt die Menschen, vernichtet ihr gesundes Empfinden und hat das Ziel, sie unter den Einfluß des amerikanischen Imperialismus zu bringen. Der Kosmopolitismus, das »Weltbürgertum« soll den Begriff der Nation vernichten und damit die nationale Eigenart der Völker unterdrücken. Die USA-Imperialisten hoffen sich eines nicht in Nationen gegliederten Europa leichter bemächtigen zu können. [...] Der selbstverständliche Ton des Satzes »Die Kunst gehört dem Volke« ist durchaus begründet. Hier wird etwas Richtiges und von jeher Natürliches ausgesprochen und in das wahre und richtige Licht gestellt. Gerade aus der Tiefe des Volkes entstanden in der deutschen Vergangenheit die schönsten und reinsten Werke deutschen Wesens und Volkstums.
Der vormalige »Jungmann« und seine Lehrer hatten in ihrer »Neuen Schule« nicht viel Neues lernen müssen. Im Zeichen des Antimodernismus und des National-»Volksverbundenen« erscheinen die beiden Totalitarismen einander zum Verwechseln ähnlich – gerade in ihrem Nachdenken über die Kunst. Und dennoch versprach der sich etablierende Sozialismus, die Verbrechen der Nazis wiedergutzumachen. Beides in seinem widersprüchlichen Miteinander erleichterte für so manchen Überbauarbeiter den Übergang.
Der Abiturient Johnson fuhr sehr nah am Originalton eines Kulturschutzbundobmannes fort: