Uwe Johnson

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Ob wir hier noch die widerlichen Auswüchse des Jazz, die entwürdigenden Auswirkungen der Schmutzliteratur oder anderes erwähnen –: Es ist eine der vordringlichsten Pflichten aller deutschen Kulturschaffenden und kulturbewußten Deutschen, für die Reinhaltung und Natürlichkeit unserer deutschen Kunst zu kämpfen, damit sie »von den Massen verstanden und geliebt« wird.
Was, im Fall des Jazz, beim Abiturienten Johnson tatsächlich noch eigener Überzeugung, was bereits bloßer Taktik entsprang, ist heute nur sehr schwer unterscheidbar. Um so weniger, als der Schüler gleich nach bestandenem Abitur in seinen Gedichten den Jazz frenetisch feiern wird. Gegen den Jazz stand, jedenfalls im Frühjahr 1952, das Gemeinschaftslied. Für dieses schwärmte Uwe Johnson, der Abiturient:
Es gibt so eine Art geniale Überheblichkeit, die ein schönes Volkslied mit der verächtlichen Bezeichnung »momentane geniale Improvisation« abtut. Hieraus entwickelt sich dann die (absolut) exklusive Schicht der Kulturschaffenden, die individualistischen und, da die Verbindung zum Volk fehlt, idealistischen Bestrebungen und Zügen freien Lauf läßt. Jede Tendenz dieser Art müssen wir entschieden bekämpfen. Gerade im Volk liegen die kräftigsten und schöpferischsten Impulse, die es für die Entwicklung unserer Kunst auszunutzen gilt. Darum müssen wir die Bewegung der Laienkunst stärken, damit der Zusammenhang, die Verbindung der Kunst mit dem Leben des Volkes gewahrt und gefestigt wird.
Dank eines glücklichen Fundes läßt sich die unmittelbare Quelle der Themenstellung für den Abituraufsatz benennen. Es war kein Geringerer als der »kalte Walter«, so Wolf Biermann, selbst. Der themenstellende Lehrer hatte die Ausführungen des Staatschefs Walter Ulbricht dem Neuen Deutschland vom 31. Oktober und 1. November 1951 direkt entnommen. Aus Ulbricht sprach der Kleinbürger, der sich als Revolutionär verstand. Der wandte sich wie selbstverständlich gegen jede – so wörtlich: »entartete« Kunst. Walter Ulbricht auch war es gewesen, der auf dem Formalismus-Plenum des Zentralkomitees, als Otto Nagel attackierte Malerkollegen verteidigte, arglos und mit augenzwinkernder List gefragt hatte: »Gab es nicht auch vor Hitler Entartete?«
Ulbricht forderte, sich auf Lenin berufend, ein volksverbunden-realistisches »Gestalten«. Das sollte das Leben schöner machen und »die Helden unseres Volkes so realistisch (darstellen), daß sie jeder Jugendliche als sein Vorbild betrachtet«. Der Jugendliche Uwe Johnson singularisierte in seinem Abituraufsatz dann die Helden des Volkes zum »Mechaniker Schulz von der Warnow-Werft«. Man sieht: Die Lehrerschaft war bei den Abiturvorbereitungen kein Risiko eingegangen. Die Schüler hatten die Ansichten des Staatschefs geradezu auswendig lernen müssen. Hatte der spitzbärtige Staatschef gemeint:
Wir brauchen weder die Bilder von Mondlandschaften noch von faulen Fischen und ähnliches,
so traf der Abiturient den gewünschten Tonfall genau, wenn er seinerseits formulierte:
Es entstehen dort Bilder von Mondlandschaften und faulen Fischen, jedoch keine, die den Aufbau und den Friedenskampf der DDR zum Gegenstand haben.
Hier scheint sich ein Paradefall des kleinbürgerlichen Kommunismus in Sachen der modernen Kunst zu artikulieren. Noch Ernst oder schon Ironie? Wie hat er ausgeführt, wissend, was seine Lehrer lesen wollten?
Die Kunst hat doch als höchsten Zweck die Aufgabe, den Menschen Freude und neue Kraft zu schenken. Hierzu steht in aufreizendem Gegensatz die Tatsache, daß wir oft in Gemäldeausstellungen vor einem Bild stehen und es für eine Darstellung besonders merkwürdig geformter Kartoffeln halten; nachher hieß das Bild dann »Interpretation des Nietzscheschen Übermenschen«. Interessant ist in diesem Zusammenhang der widerliche Zynismus Westberliner Zeitungen, die den Vorschlag machen, die von Dissonanzen und Atonalität strotzenden Werke Strawinskys dem Publikum doch zehnmal vorzuführen, dann werde es sich schon daran gewöhnen.
Anzeichen ironisierenden Umschreibens offizieller Forderungen, wie sie sich wenig später in den Rostocker Klausuren finden werden, fehlen hier noch zur Gänze. Des weiteren wird Uwe Johnsons damals noch gewünschte Verbundenheit mit der Gemeinschaft seine Einstellung bestimmt haben. Walter Ulbricht lobte gleichfalls die »Laienkunst« und das ihr entspringende Lied. Der Abiturient immerhin, dem der Chor unter Kurt Hoppenrath – wie erwähnt – als die einzige wahre Gemeinschaft an der John-Brinckman-Schule erschien, korrigierte hierin seinen Staatschef, nannte das »Chor- und Volkslied« anstelle des »Massenliedes«.
Am 3. Juni 1952 erhielt der Abiturient Uwe Johnson sein Zeugnis: »Uwe Johnson hat sehr gute Leistungen in Deutsch« erbracht. Bis fast zur Unleserlichkeit durchgestrichen wurde irgendwann später ein anderer Passus dieser Beurteilung, der dem Schulabgänger bescheinigt: Er »überragt die Leistungen der übrigen Schüler«. Der als ein Primus begonnen hatte, schloß seine Schule als ein solcher ab.
II.
VON WARNOW UND PLEISSE BIS AN DIE SPREE
ERSTES KAPITEL
EINE AUFNAHMEARBEIT UND EIN LYRISCHES INTERMEZZO
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DER ABITURIENT ALS ANGEHENDER STUDENT
Uwe Johnson hat unter dem 25. Mai 1952 eine Arbeit über ein aktuelles Allgemeininteresse, das in Beziehung zu dem künftigen Beruf steht, abgefaßt und an seine künftige Universität Rostock gesandt. Das geschah unmittelbar nach seinem Abitur. Der Text war handschriftlich, sehr lesbar und übersichtlich gehalten. Er handelte über Arnold Zweigs Der große Krieg der weißen Männer. Hier schrieb der angehende Student übrigens noch, was sich mit der ersten Klausur während des Studiums für immer ändern wird, das ß anstelle eines durchgehenden Doppel-s. Johnsons Denken zeigt sich noch weitgehend geprägt durch den »marxistisch« orthodoxen Deutschunterricht. Für Lukács’ Konzept ebenso wie für den Kampf der SED gegen den »Formalismus« war Arnold Zweig ein wichtiger Autor – einer, der als vormals bürgerlicher Intellektueller zu den Kräften des Fortschritts gefunden hatte.
Georg Lukács hatte seine Einschätzung Zweigs zuerst 1945 in der Internationalen Literatur Nr. 3, dann im selben Jahr in einer Buchveröffentlichung im Aufbau-Verlag zum Ausdruck gebracht. Publikationen, in denen sich Sätze finden, die auch des Schülers Johnson vitales Interesse an der Vorgeschichte und der Verstrickung der Eltern in den Nationalsozialismus formulierten. Erkenntnisinteressen, die sich bereits in der Babendererde und dann reich orchestriert in den Jahrestagen finden: Wie werden aus harmlos-»wehrlosen« Kleinbürgern am Ende »Faschisten«? Lukács hat dazu geschrieben:
Reich entfaltet wird das Motiv der deutschen Wehrlosigkeit in Arnold Zweigs Kriegsromanen aus dem ersten imperialistischen Krieg behandelt. Der Zyklus [...] zeigt auch, wie unter den Bedingungen des preußischen Militarismus aus normalen Kleinbürgern widerliche sadistische Verbrecher herangezüchtet werden. (Lukács, Deutsche Literatur im Zeitalter des Imperialismus, S. 68)
Uwe Johnson hatte also eine ganze Reihe von Gründen, auch subjektive, seine Aufnahmearbeit für die Universität gerade über Arnold Zweig zu schreiben. Er sah den Zyklus denn auch noch durchgehend mit den Augen eines Lukács-Adepten. Lobte, daß Zweigs Gestalten für »ihre Klasse und Gesellschaftsschicht typisch« seien. Betrachtete als verwirklicht, was große Kunst laut Lukács kathartisch-pädagogisch vom Betrachter fordert: »Du mußt dein Leben ändern.« Man habe, so Johnson, in Zweigs Romanen einen antimilitaristischen Zyklus vor sich, der »jeden Menschen zum Kampf für das Gute in der Welt begeistern« müsse. Das klingt noch schülerhaft. Und weist doch schon auf einen differenzierteren Blick voraus. Zweig lieferte in seinem Zyklus die Analyse des deutschpreußischen Militarismus mit den Mitteln epischen Erzählens. Der Studienbewerber, der in dem Zweig-Aufsatz die Literatur als generelles Mittel zur Humanisierung der Welt auffaßte, zeigte sich beeindruckt von der konkreten Dehumanisierung, wie er sie damals in der eigenen Familiengeschichte erblickt haben mochte. In der Aufnahmearbeit von 1952 geschah mehr, als daß ein angehender Germanist mit Hilfe der analysierenden Aufzählung von Personen und einer Wiedergabe der Handlung unter Beweis stellte, daß er Zweigs umfänglichen Zyklus genau gelesen hat – und daß er ihn als »höhnische Satire auf die Phrasen des ›preussischen Mannestums‹« auffaßte.
LYRISCHES INTERMEZZO, SOMMER 1952.
»DER SINGENDE« ODER JOHNSON ALS »SPITTA«
Der Singende, eine von Ernst Barlachs Plastiken, beeindruckt durch seine glückliche Einfältigkeit. Den gleichen Eindruck erweckt der Abiturient Johnson, wo er Lyrik, vielleicht besser: Gedichte, Gereimtes geschrieben hat. Uwe Johnsons frühe Gedichte waren, im genauen Sinn des Wortes, »Gebrauchslyrik«. Ihnen war aufgegeben, Gemeinschaft im Kreis Gleichgestimmter herzustellen. Stets sind sie dabei auf ferienhafte Umgebung abgestellt. Sie sollten ein Wir-Gefühl möglich machen und die Gemeinschaft des Augenblicks in Gereimtem feiern. Leopold Tober, der heute in Schweden lebende Bruder von Johnsons Schulfreundin Antonie Landgraf, erinnert sich, daß der Schüler Johnson gern sogenannte Katschmarek-Gedichte, also Verse im Slawen-Deutsch, improvisierte. Auch diese stellten Unterhaltung für eine Gemeinschaft dar. Sie konnten lauten: »Gut wenn sich im Grase liegt/Schlecht wenn sich in Fresse fliegt/Abgeschrieben wenn Granatsplitter.«
Das Insel-Tagebuch, eine Art Gedicht-Sammlung, die Kurt Hoppenraths Witwe Louise aufbewahrt hat, ist auf den 25. bis 28. Juni 1952 datiert, also binnen weniger Tage in der Zeit unmittelbar nach bestandenem Abitur entstanden. Da war der frischgebackene und gewiß vom Gefühl neu gewonnener Freiheit beschwingte Abiturient zusammen mit Schulkameraden beiderlei Geschlechts auf einer Insel im Krakower See, dem Großen Werder vermutlich. Teilnehmer erinnern sich, daß Johnson damals leidenschaftlich »Kann denn Liebe Sünde sein« sang. Daß er andererseits häufig allein am Wasser saß. Da wird der Schulabgänger dann gedichtet haben. Einige Resultate dieser Mußestunden werden im folgenden zum ersten Mal vorgelegt. Ihnen vorangestellt war ein gleichfalls gereimtes Vorwort:
Statt eines Vorwortes
Auf dem Landungssteg der Insel
Stand ein Hund, der mit Gewinsel
Mir eine herzliche Begrüßung machte.
(Weil ich für ihn das Futter brachte.)
Weiter stand da noch ein Schild,
Wirklich ein sehr schönes Bild,
Daß das Betreten verboten sei,
Andernfalls sei Strafe dabei.
Als der Schreiber stellt sich vor
Ein gewisser Berthold Mohr.
Dadurch wurde mir sehr klar,
Daß es hier nicht anders war
Als da, von wo ich hergekommen,
Doch hab ich das nicht tragisch genommen.
Man kann ja nicht gleich bis zum Nordpol verreisen,
Schon wegen der Aussicht, da zu vereisen.
Auch hier war ich nun ganz allein
Und wollte versuchsweise glücklich sein.
Davon, wie dies mir gelungen,
sei hier nun ein Lied gesungen.
Was im konformen Stil dieser Gedichte umgeht, ist eine Sehnsucht nach Gemeinschaft, zu der unabdingbar das gemeinsame Singen gehört. In den hier zur Rede stehenden Versen hat Uwe Johnson, der nicht eben gut singen konnte, gesungen. Hat sich so noch einmal der verbindenden Nähe einer Gruppe anvertrauen wollen. Gemeinschaftliches, gemeinschaftsbildendes Singen, wie Johnson es von seinen Schulen kannte, jetzt als literarische Handlung. Für die Feriengemeinschaft auf der Insel im Krakower See, auf ihr hatte die Familie Mohr einmal eine Pacht besessen, schrieb Uwe Johnson Verse wie die folgenden:
Nieder-Geschlagenes
Große und auch kleine Tropfen
Leise an die Scheiben klopfen.
Es regnet. Es regnet ungebührlich
Und viel zu sehr kontinuierlich
Große und auch kleine Tropfen.
Ich frage nur: Ist dieses nötig?
Wenn nicht, so bin ich gern erbötig,
Für morgen und auch übermorgen
Für lauter Sonnenschein zu sorgen.
Doch bin ich nicht als Petrus tätig.
Ich sitze den ganzen Tag im Haus,
Denn der Regen läßt mich nicht raus.
Er macht da draußen große Pfützen.
Da kann die Sonne tagelang sitzen
Und trocknen die wieder aus.
Der Regen katzenähnlich schnurrt
Und äußerst geistverwirrend surrt.
Als ich den Hund vorhin mal fragte,
Was er zu diesem Wetter sagte,
Hat dieser Kerl mich angeknurrt.
Vielleicht über Irland ein neues Tief
Oder es regnet mal ohne Motiv.
Vom Trübsinn des Wetters angesteckt,
Habe ich Bosheit in mir entdeckt
Und mache aus posi-negativ.
Das Barometer: Veränderlich,
Doch nichts am Wetter ändert sich
Außer der Stärke des Regens
Und Hoffnung klammert sich vergebens
An das tröstliche Wort: Veränderlich.
Oder auch:
Verschlafenes
Dieweil nach stattgehabter Kauung
Empfiehlt sich gründliche Verdauung,
Ging mitten ich in die Natur
Mit einer Badehose nur
Und sonst nichts weiter angetan.
Im starken, unbewußten Tran,
Ließ ich mich dort, wo Rindvieh weidet,
Das ungewöhnlich unbekleidet,
Zu dem Verdauungsschlafe nieder
Und streckte meine langen Glieder
Unbekümmert, ungehindert in das Gras.
Da Platz genug war, konnt’ ich das.
Als mir dann die Augen sanken,
Hatte ich nur den Gedanken:
O wie ist das schön!
Dann habe ich gegähnt.
Man konnte sich im Himmel wähnen,
Genau so schön ist es gewesen.
Und wenn dies jemand sollte lesen,
So möge er recht herzhaft gähnen!
Ferien in der Gemeinschaft als der Himmel auf Erden. Doch eines: Die erotische Erfüllung läßt sich hinter der so erfrischend kalauernden wie häufig verunglückten Melodik dieser Zeilen als ein Wunsch verspüren. Man schlief, nach Geschlechtern getrennt, in einer scheunenartigen Behausung. Der sehnsüchtig-erschreckte Ruf aus Mädchenmund »Die Jungen kommen« wurde neben der Frage, ob Liebe denn Sünde sein könne, zum Schlager dieser Saison. Es blieb beim bloßen Rufen. Die Disteln, die die Mädchen in hoffnungsvoller Furcht in die Eingangsluken der Schlafscheunen legten, blieben ohne Funktion.
Kalamität
Ich schlief dort unterm Dach.
Darauf wies ich das Fehlen nach
Einer Leiter, mittels derer
Mein an siebzig Kilo schwerer
Körper auf den Boden käme,
Ohne daß er Schaden nähme.
Schließlich fand ich dann auch eine
Besser war sie schon als keine,
Doch war sie außerdem gebrechlich:
Tatsächlich lebensgefährlich schwächlich.
Den ersten Abend trug sie mich,
Nur knarrte sie absonderlich,
Denn sie war, wie schon gesagt
äußerst schwach, da hoch betagt.
In Heu und Decken eingepackt
Verschlief ich meine erste Nacht,
Nur träumte ich von einer Leiter!
Die ich hochstieg, immer weiter – – –
Bis das Ding, das altersschwache
Zusammenbrach mit viel Gekrache.
Davon bin ich aufgewacht.
Es war schon mitten in der Nacht,
Ich hab es noch drei Mal geträumt
Und morgens wild vor Wut geschäumt.
Man liebt doch eine romantische Nacht
Nur, wenn man sie ohne Aufregung verbracht.
Ein psychoanalytischer Interpret würde diesen »Traum« vielleicht als einen von gefürchteter Bestrafung bei geträumter Erfüllung erotischer Sehnsucht verstehen: die zusammenbrechende, sich hoch erstreckende Leiter. Wie auch immer: Die Landschaft und die Atmosphäre der engeren Heimat des Abiturienten Uwe Johnson, zwischen Güstrow und Müritz, erscheinen in diesen Versen aufbewahrt. Es wird genau diese Wasser-Landschaft sein, die zunächst auch die Spiel-Welt der Babendererde abgeben wird. Erst im Zuge der Überarbeitung des Textes wird sie durch die großartigere Müritz (deren Name »Meer« bedeutet) ersetzt werden. Die aber würde erst der Student Johnson in seine Erfahrung bringen.
Bereits in den beiden Jahren vor dem Abitur waren die Oberschüler der Brinckman-Schule am Krakower See gewesen. Man fuhr mit dem Fahrrad bis Krakow, setzte dann auf die Insel über. Ein Wandervogel-Leben griff Platz. Man schlief auf Heuböden, schwamm in den Seen, sammelte Möweneier und beobachtete Fischreiher auf einer Nebeninsel. Wenn Johnsons Schulkameradin Brigitte Stüwe, damals noch Martens, aus dem Wasser stieg, spielte die Clique auf einem von Hand aufgezogenen Grammophon das allseits beliebte »Kann denn Liebe Sünde sein«. Unbeschwerte Tage, die dann in den Abschlußband der Jahrestage und in das Verhältnis zwischen Pagenkopf und Gesine eingehen durften:
gemeinsam kamen wir zu dem Rest der Klasse zurückgeschwommen, und offensichtlich hatten wir die ganze Zeit miteinander geredet. War ich da einmal ohne ihn, sangen sie noch manchmal die Frage, ob denn Liebe Sünde sei. (Jahrestage, S. 1588)
Daneben fanden die von der Schule organisierten Reisen des Chors statt, an denen Uwe Johnson als Begleiter teilnahm. Sie führten vor allem an der Ostseeküste entlang und fanden, wie die Schulkameradin Brigitte Stüwe – ihr Vater kehrt als der Fabrikant »Hünemörder« in den Jahrestagen wieder – sich entsinnt, größtenteils unter den gleichen Wandervogel-Bedingungen statt wie die Privatausflüge der Schüler. Auch bei diesen Reisen mußte man zuweilen in Scheunen übernachten.
Uwe Johnsons unglückliche Liebe zur Musik, Martin Walser hat sie in Brandung diagnostiziert, bestimmte den Oberschüler zum Ansager bei den Gesangsveranstaltungen des Chors der John-Brinckman-Oberschule. In den Begleitumständen hat der Güstrower über diese Zeit berichtet, dabei das einzige Mal seine frühe »Poeten«-Tätigkeit selbst erwähnt:
Danach ist für diesen Jugendfreund (denn so war die Titulatur für Angehörige der F.D.J. und ihre Anrede unter einander) vorläufig nur noch etwas zu melden, was aber gedeutet werden kann als zusätzliche »gesellschaftliche Betätigung«: er machte die Ansage für den Chor seiner Schule, wenn dieser Gastspielreisen unternahm. Der Ehrlichkeit halber ist einzugestehen, es war fast eine Conference, in der dem Publikum eine leicht verquere Vorschau auf die dargebotenen Kunst- und Volkslieder geboten wurde. Um ganz ehrlich zu sein: sie war gereimt. Um der letzten Wahrheit die Ehre zu geben: sie wurde in einer Zeitung rezensiert. Wie hiess es da? »In humorigen Zwischentexten versucht sich glückhaft ein junger Güstrower Poet«, folgt ein Name. (Begleitumstände, S. 59 ff.)
Auch der Erhalt dieser Texte des »jungen Güstrower Poeten« ist der Witwe des damaligen Chorleiters, Louise Hoppenrath, zu danken. Sie seien an dieser Stelle auszugsweise erstveröffentlicht:
Ein sogenanntes Vorwort
Der Chor und die Tanzgruppe der John Brinckman-Oberschule Güstrow unternahmen im Auftrag der Landesregierung Mecklenburg vom 14. bis zum 28. Juli 1952 eine Konzertreise durch die mecklenburgischen Ostseebäder Kühlungsborn, Rerik, Wustrow, Dierhagen und Grode. Der Bericht umfaßt weiterhin die Zahlen der Auftritte und der Besucher, die namentliche Aufführung der Mitglieder der Kulturgruppe, des begleitenden Lehrpersonals und natürlich der Leitung sowie eine Beschreibung und Erläuterung des Programms. Das ist alles. Das ist durchaus nicht alles. Es fehlt noch etwas. Es fehlen Dinge, die zwar in keinem offiziellen Bericht stehen dürfen, die ich aber – da sie wahrscheinlich noch keiner von uns vergessen hat – auf meine Art noch einmal zu erzählen mir erlaube. Es sind keine Namen genannt worden, teils aus Pietäts-, teils aus Zweckmäßigkeitsgründen. Nur Herr Mahn kommt namentlich vor, aber der ist ja sowieso blamiert. Wer sich hier nicht wiederfinden sollte, dem sei gesagt, daß das nicht etwa auf die viel bemühte Pietät zurückzuführen ist. Sondern auf Zweckmäßigkeitsgründe. Diese in Skizzenform bereits während der Reise entstandenen Gedichte haben nicht den Zweck, den verlängerten Arm meiner Privatrache zu spielen oder meiner sagenhaften Bosheit ein Betätigungsfeld zu verschaffen. Was man möglicherweise für Bosheit oder Privatrache halten wird, ist ganz etwas anderes. Vielleicht weiß es unsere Kreuzworträtselspezialistin?
Der soziale Kontext bestimmte neben der Form auch die Themen: schülerhaft gehemmte Liebe; die Eifersucht auf die Erwachsenen; der geraubte Kuß; das Gefühl, das einer nicht zu offenbaren wagt; die Scham, die überwinden muß, wer die Angebetete zum Tanz auffordern will. Es sind die Verse eines Tonio Kröger, der sich noch nicht zum Abseitsstehen entschlossen hat, sondern immer noch versucht, im Kreis der Blonden mitzuhalten:
Pietät
Dies war einer Jungfrau Bitte:
Daß man ihr erlauben täte,
daß sie zu ihrer Tante ginge,
an der sie so von Herzen hinge.
Und Herr Mahn voll Pietät
gern erlaubt ihr, daß sie geht.
Leider war man indiskret
(Was nicht zeugt von Pietät!)
und man konnte nicht umhin,
zu bemerken immerhin,
daß die Tante, welche bärtlich,
tat sie küssen äußerst zärtlich.
Wenn man nun mit Pietät
dies zu untersuchen geht,
dann ergibt sich sonnenklar,
daß das wohl ihr Onkel war
(übrigens, der Onkel sächselt)
und sie hat das nur verwechselt.
Und aus dieser Perspektive,
(die wahrscheinlich eine schiefe)
sich mit Deutlichkeit ergibt
(da der halbe Chor verliebt):
daß der halbe Chor verwandt.
Dieser Zustand ist bekannt
als ausschließlich erster Grad,
was vergnüglich, in der Tat.
Ewig dem vor Augen schwebt,
der dies alles miterlebt:
Verwandtschaftliche Pietät
oft wunderliche Wege geht.
Soviel zur poetischen Behandlung erotisch verursachten Neids durch den Abiturienten Uwe Johnson. Eine andere Talentprobe lautete:
Vorbildlicher Lerneifer
oder:
Ich kam, ich sah –: Er siegte
Um nach stattgehabter Kauung
zu befördern die Verdauung,
ging am Abend ich spazieren –
und tat schöne Waldeslüfte
durch die angenehmen Düfte
von der Turf verzieren.
Plötzlich ward mir augenscheinlich
(und es war mir schrecklich peinlich!)
eine Tante und ihr Onkel.
Denn das Wandern ist ergötzlich
und in manchem Sinne nötzlich
in dem Walde, wo es donkel.
Es verdienen alle Achtung
solche, die Naturbetrachtung
noch im Dunkeln unternehmen.
Doch wenn nicht einmal die Sterne
sichtbar sind in weiter Ferne,
spricht man über andre Themen.
Hierbei kann man viele Wissenschaften,
wie z. B. Kü-dunkünste
auf das gründlichste erlernen.
Doch bei aller Pädagogik,
die bezieht sich auf Erotik,
muß ein dritter sich entfernen.
Um das nicht mitanzusehen,
wandte ich mich, wegzugehen
davon ab, von Neid gepeinigt.
Doch daß ihre edle Liebe
(zu dem Lernen) Vorbild bliebe
ewig nur, wird hier bescheinigt.
»In Wessen Leben ging nicht einmal das Wunderbare, in tiefster Brust Bewahrte Geheimnis der Liebe auf!« (E.T.A. Hoffmann, Die Elixiere des Teufels, Band II)
Der dies geschrieben hat, der hatte allerdings seinen Wilhelm Busch gelesen. Und blieb wie dieser im Rahmen des Erlaubten. Von Wedekindscher Jugend-Erotik sind diese Verse weit entfernt. Und doch starren sie gebannt auf »das Wunder der Liebe«, auf daß es sich ereignen möge im Kreis derer, die das gemeinschaftliche Lied verbindet:
Ein Jüngling verliebte sich.
In eine Jungfrau vom Sopran.
Die Jungfrau arg verfärbte sich,
als sie dies vernahm.
Sie ward darob nicht so erfreut,