Uwe Johnson

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Das Grundwissen reichte aus zu dem F.D.J.-Abzeichen »Für Gutes Wissen« in Bronze. Das Abzeichen reichte aus für die Bestellung zum Org.-Leiter der Z.S.G.L. Das eine ist die Zentrale Schulgruppenleitung einer Oberschule, und der andere befasst sich mit der Organisation der Unternehmen, denen sich an die dreihundert Schüler gemeinsam unterziehen, als da sein kann die Suche nach den Kartoffelkäfern, die Flugzeuge der U.S.A. auf Beschluss der Regierung der D.D.R. seit dem Frühjahr 1950 auch über Mecklenburg abgeworfen haben. Ernte-Einsätze, Entlade-Einsätze. Der Org.-Leiter berichtet der Z.S.G.L., was wiederum die Org.-Leiter der einzelnen Klassengruppen ihm berichten. Er führt die Mitgliederlisten, er stellt die Anwesenheiten bei Versammlungen fest, er füllt die unzähligen Berichtsschablonen aus für den Zentralrat der Freien Deutschen Jugend in Berlin. An den Org.-Leiter kommt die Anfrage der Kreisleitung über das »politische Bewusstsein« eines Mitschülers, die verkleidete Neugier des Ministeriums für den Dienst an der Staatssicherheit, und ehe er darüber befindet mit den Angehörigen der Z.S.G.L., wird er jenen Mitschüler unterrichten über das gefährliche Interesse an seiner Person. (Der zieht es vor, die Warnung in den Wind zu schlagen, und bekommt seinen Prozess, während der Org.-Leiter eben abzuwarten hat, ob der als Staatsfeind erkannte Doemlack ihn benennen wird als Beihelfer zu seinen Albernheiten.) Wenn Angehörige seiner Schulgruppe verschwunden sind, nämlich verhaftet, geht der Org.-Leiter auf die Suche nach ihnen in den sicheren Häusern des Volkseigenen Betriebes Horch & Greif, wo er sagt: immerhin bin ich der Org.-Leiter. Dies alles neben der Schularbeit, durchaus ehrenamtlich, durchaus unehrenhaft in der Sicht mancher Mitschüler; aber wenn beim Abitur die Zeugniskonferenz fragt nach seiner »gesellschaftlichen Betätigung«, wird jemand sagen müssen: Immerhin war der fast zwei Jahre lang Org.-Leiter. (Begleitumstände S. 50 ff.)
Seit dem 1. März 1949 wurde Uwe Johnson als ein »Kulturbundmitglied«, seit dem 10. September 1949 als »FDJ«-Mitglied geführt. Seine Beitritte stehen parallel zu seinem Wechsel auf die Oberschule, standen ganz sicher in ursächlichem Zusammenhang damit. Seit dem 18. Dezember 1952 gehörte er zudem der »Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft« an. Nahm auch vom 15. November bis zum 21. Dezember 1950 an einem Bezirksleiter-Lehrgang mit dem Titel ABC des FDJlers auf der FDJ-Bezirksjugendschule Dobbertin im Kreis Goldberg teil. Hier brachte der Schüler es immerhin bis zum Ersten Vorsitzenden des Lehrgangskollektivs. Entführte, auch darin einer der Besten, am Ende das »Bronzene Abzeichen für gutes Wissen« mit genau 48,5 Punkten nach Güstrow. Damit freilich war ein so Ehrgeiziger kaum zufrieden, wie die Schilderung der Episode im Abschlußband der Jahrestage nahelegt:
Diesen unseren Lockenvitz suchten wir aus, als die Elf A Zwei plötzlich jemanden abstellen sollte für einen Lehrgang der F.D.J. in Dobbertin bei Goldberg. [...] Dann fragte Pius, wie es ihm zustand als Leiter der Klassengruppensitzung: was denn der Kandidat über so einen Ausflug denke. – Als Organisationssekretär der Z.S.G.L. muß man in einem fort die Erweiterung der Kenntnisse in der Theorie im Auge haben: antwortete der wie jemand, der will uns ein Opfer bringen. Zweite Abstimmung: einstimmig, wie es für schick galt. [...] Das Ende in Dobbertin, er hat es für sich behalten.
Es wird so gewesen sein, daß einer der Instruktoren besser Bescheid wissen wollte über das dritte Grundgesetz der Dialektik; das kann einem eine ungünstige Schlußnote einbringen und statt eines »Abzeichens für Gutes Wissen« in Gold eines in Bronze. (Jahrestage, S. 1728 f.)
– Das dritte Grundgesetz der Dialektik handelt übrigens vom notwendigen Umschlagen der Quantität in die Qualität. Es mußte damals zur Begründung der Notwendigkeit revolutionärer Umwälzungen, zur Kritik des »Reformismus« und der SPD, herhalten. Johnson hat ihm gar ein längeres Gedicht gewidmet, in einem Brief an seine Recknitzer Lehrerin Charlotte Luthe und unter dem Titel »Ein Elefant, die Funktion des Denkens und das dritte dialektische Grundgesetz«. Dort heißt es u. a.: »Das dritte Gesetz ist bewiesen/ein Dummkopf, der das nicht sieht!/Der Marxismus sei gepriesen!/Wir singen zum Abschied ein Lied.«
Hinzu kam, daß der Organisationsleiter Johnson auch das allen Schülern auferlegte Einsammeln von feindlichen Kartoffelkäfern allzu nachlässig, zudem ungläubig betrieb. Photos vom sogenannten Kartoffelkäferprozeß zeigen diesen Unglauben noch heute. Es handelte sich um eine satirische Aufführung, bei der man die subversiven Tierchen, an Haken aufgehängt, vorwies – eine Praxis, die so unweigerlich wie unheimlich an die Fleischerhaken erinnert, an denen Hitler die Verschwörer des 20. Juli vom Leben zum Tode hatte befördern lassen.
Und Lockenvitz wurde uns kenntlich zumindest als Sohn eines Biologen, mit dem ging ein Andenken durch, als er sagte: Ha! diese schlauen Imperialisten! Der Kartoffelkäfer überwintert in zwei Handbreit Bodentiefe und erscheint, sobald die Temperatur über zehn Grad anzeigt. Also Anfang Mai. Wann ist das Deutschlandtreffen? Ende Mai [...] Wenn sie hier gedeihen, dann weil die Bodenreform die Knicks abgeschlagen hat, in diesen Hecken saßen nämlich Vogelnester, darin hinwiederum die Vertilger dieses Quarantäneschädlings! (Jahrestage, S. 1726 f.)
In diesem Bereich mochte es möglich gewesen sein, mit Argumenten die eigene Skepsis zu behaupten.
Doch Johnsons Funktion besaß durchaus auch unangenehmere, ernsthaftere Seiten. Am 12. Juli 1951 unterschrieben Uwe Johnson – als »Organisationsleiter« – und sein Klassenkamerad und Mit-Funktionär Fritz Möllendorf für den »Zentralen Schulvorstand der Schulgruppe John Brinckman« das folgende Gutachten zur Beurteilung der gesellschaftlichen Tätigkeit des Jugendfreundes Peter Zollenkopf:
Der Jugendfreund Peter Zollenkopf ist seit 1949 Mitglied unseres Verbandes. Er ist Träger des Abzeichens für Gutes Wissen in Bronze. In seiner bisherigen Mitarbeit hat Peter sich nicht genügend bemüht, dieses Wissen anzuwenden. Er zeigt auch nicht immer die Haltung, die ein Abzeichenträger in der gegenwärtigen Situation einnehmen müsste. An kollektiven Aufgaben beteiligt er sich. Peter muß auch weiter bei seiner ideologischen Festigung angeleitet werden.
Der so Beurteilte hatte allerdings selbst um diese Einschätzung gebeten, seine Chancen in der »Demokratischen Republik« zu testen.
Andererseits schrieb Johnson als der Leiter der gleichen »Z.S.G.L.« für seinen Schulkameraden Hans-Jürgen Schmidt eine diesem dienliche Beurteilung. Schmidt, Sohn der Schweriner Musikalienhandlung »Schmidt & Sohn«, wollte, obwohl ein »Bürgerlicher«, Musik studieren. Schmidt hatte vom anderen FDJ-Sekretär der Schule, Fritz Möllendorf, zuvor ein negatives Gutachten erhalten. Sein erstes Gutachten hätte Schmidt jegliche Chancen genommen, wenn es denn zum Zuge gekommen und nicht erfolgreich von einem Mit-Funktionär konterkariert worden wäre. Uwe Johnson brachte es tatsächlich fertig, das Papier und den nötigen Stempel für eine brauchbarere Beurteilung kraft seiner eigenen Funktion als stellvertretender FDJ-Sekretär illegal aufzutreiben. Solche Handreichung stellte einen nicht ungefährlichen Akt des Widerstandes dar, ist um so erstaunlicher, stellt man Uwe Johnsons damals ganz zweifellos vorhandenen Willen zu einem persönlichen Neuanfang in Rechnung.
In anderen Zusammenhängen blieb Johnson wenig mehr denn die Rolle des ohnmächtigen Opfers. Im Frühjahr 1950 wurde der Schüler Johnson mit dem Ministerium für Staatssicherheit, vulgo Stasi, bekannt. Von einem FDJ-Treffen in Berlin, die Grenze war damals noch offen, hatten Mitschüler politische Flugblätter mit nach Güstrow gebracht. Darauf folgte ein Schulbesuch der besonderen Art. Er ist im vierten Band der Jahrestage beschrieben:
Wir sind vom M.f.S. aus der Geschwister-Scholl-Strasse in Schwerin; wir kümmern uns um jene Flugblätter, die heute nacht im Bahnhof Gneez ankamen und ausgehändigt wurden an insgesamt vier Verteiler. (Jahrestage, S. 1674)
Der subversive Akt führte zu Verhaftungen, Vernehmungen, Verurteilungen. Johnson, verliebt zudem in eine der Verhafteten, was die Sache zusätzlich verkomplizierte, war gleich mehrfach betroffen, stand einmal mehr zwischen zwei Loyalitäten. Er war FDJ-Funktionär, und das nicht aus Opportunismus. Ungeachtet dessen suchte er den Aufenthaltsort der Verhafteten aufzuspüren. Die hörten ihn im Nebenraum Erkundigungen einziehen. Auch dies findet sich, wiederum am Beispiel des Lockenvitz, in den Jahrestagen beschrieben. In der Schulleitung seiner Brinckman-Schule vermutete Johnson Informanten für die Stasi. Gerade also durch seine Tätigkeit in der »Kampfreserve der Partei« wurde Johnson aus nächster Nähe mit jener totalitären Art bekannt, mit der die SED ihre Herrschaft rigoros befestigte.
Nach Beendigung des Dobbertiner Lehrgangs rückte der Güstrower aus der Funktion des Organisationsleiters seiner Klassengruppe in die des Organisationsleiters der Zentralen Schulgruppe auf. Auch stellte er den Zirkelleiter des Kreises, der sich dem Studium des gesellschaftlichen und staatlichen Aufbaus der Sowjetunion widmete. Erst seine Abiturvorbereitungen setzten dieser Tätigkeit ein nun bereits sehr willkommenes Ende. Im September 1951 schied Johnson aus seinen Funktionen aus, nicht aber zugleich aus der FDJ, was er selbst wiederum für sein Alter ego Lockenvitz geschildert hat:
Zu Beginn des Schuljahrs 1951/52, aufgestellt zu einem zweiten Turnus als Org.-Leiter, schlug er die Kandidatur aus; Begründung: Förderung seiner schulischen Leistungen. [...] Er stand auf Eins in Latein, Englisch, Deutsch, Gegenwartskunde, auf Zwei in den übrigen Fächern, bis auf die Drei in Chemie, ihm lästig wie eine Zecke. (Jahrestage, S. 1731)
Uwe Johnson verstand seine Mitgliedschaft in der FDJ als Engagement zur Verbesserung der Gesellschaft. Sie mochte teils auch aus der jugendlichen Opposition dem eigenen Elternhaus gegenüber resultieren und verweist doch auf die Prägekraft des Antifaschismus als ideologische Ausrichtung zumindest der frühen DDR. Des Oberschülers Kritik an diesem Staat und seinen Institutionen war folglich nicht als prinzipielle, sondern als eine solidarisch-moralische zu verstehen. Uwe Johnsons FDJ-Karriere muß ihn bei mannigfachen Gelegenheiten mit dem Direktor der Schule zusammengeführt haben. Deutlicher als andere erlebte er dabei die Schwächen der Leitenden. Mit der FDJ gebrochen hat Uwe Johnson erst im April des Jahres 1953 in Rostock. Formal ausgetreten aus der FDJ ist er hingegen nie, wie immer man dazu auch anderes lesen kann.
DER DEUTSCHUNTERRICHT AN DER »NEUEN SCHULE« ODER
DIE TOXISCHE WIRKUNG DES »BLONDEN GIFTS«.
UWE JOHNSONS ERSTE LESUNG
Dem Deutschunterricht kam bei der Vermittlung der richtigen sozialistischen Weltanschauung und des Marxismus zentrale Bedeutung zu. Die Lehrerin dieses Fachs an der Güstrower »Neuen Schule« war, in der Realität wie in der Babendererde, das »Blonde Gift«. In ihr traf der Schüler Johnson neben Pius Siebmann auf die andere bedeutende Negativ-Figur seiner Schulzeit. Keine andere »Lehrerpersönlichkeit« repräsentiert im Erstling vergleichbar ausgeprägt die »Neue Schule« als eine bornierte »sozialistische« Zwangsanstalt wie das Paar Siebmann/Behrens. Daß beide biographisch mühelos wiedererkennbar sind, kann als Programm verstanden werden.
Die ehemalige Güstrower Junglehrerin Liselott Prey, sie ist inzwischen verstorben, ging als Frau Behrens in die Babendererde ein. Liselott Preys fachliche Ausbildung muß sich reziprok zu ihrer sozialistischen Überzeugung verhalten haben. Als »Bettinchen« Selbich kehrt sie dann im Abschlußband der Jahrestage wieder. Auch dort eine »hübsche und sehr blonde Frau«, beeindruckt sie den Schüler Lockenvitz noch immer genauso stark wie den Jüngling Jürgen Petersen im Erstling. Liselott Prey zog die schüchterne Zuneigung des 18jährigen auf sich, während sich dieser zugleich ihrer fachlichen Begrenzungen und ihrer ideologischen Borniertheiten bewußt wurde – ein Sachverhalt, der das Dilemma verschärft haben muß.
So gesehen, begründet das »Blonde Gift« jene stattliche Reihe von jeweils älteren Frauen, zu denen Johnson eine Zuneigung ganz besonderer Art empfand. Alle diese Damen befaßten sich mit der Literatur. Jede auf ihre Weise stellten sie Autoritäten dar auf diesem Gebiet. Ihre Reihe reicht vom »Blonden Gift« über die Hochschullehrerin Hildegard Emmel in Rostock und Margret Boveri in Berlin bis hin zur Verlegerin Helen Wolff und der Philosophin Hannah Arendt in New York. Dazwischen liegen immerhin rund dreißig Jahre.
Zunächst also Liselott Prey alias das »Blonde Gift«. Für die Festschrift der John-Brinckman-Schule von 1953 hat sie selbst zur Feder gegriffen und ihre Lehrmeinungen skizziert:
Die germanistische Forschung hatte 12 Jahre lang geschwiegen. Lukács’ Arbeiten zur Literaturkritik wurden erst nach 1945 bekannt. Die neueren Arbeiten von Nationalpreisträger Prof. Frings konnten nur Anregung geben. Der erste Lehrplan, der 1946 erschien, zeigte deutlich, wie schwierig es war, unter diesen Bedingungen zu arbeiten. Er war ein Notbehelf und gab nur Hinweise für den völlig neuen Inhalt des Unterrichts, den Weg mußte sich jeder Lehrer zunächst selbst bahnen [...] Der Lehrplan von 1951 bedeutete einen großen Fortschritt, er stützte sich auf die ersten konkreten Ergebnisse aus dem Studium der Arbeiten J. W. Stalins über den Marxismus in der Sprachwissenschaft und gab dem Grammatikunterricht und der Sprachwissenschaft auch im Unterrichtsplan der Oberschule endlich eine beherrschende Stellung. Auch der Literaturunterricht erhielt einen Aufschwung. Die Tatsache, daß die Literatur eine Form des gesellschaftlichen Bewußtseins, des Überbaus ist, verpflichtete Schüler und Lehrer zur stärkeren Beachtung des Prinzips der Parteilichkeit, zum klassenmäßigen Herangehen an jede Literatur im Sinne von Marx und Stalin. [...] Das hieß, von der Leninschen Widerspiegelungstheorie als erkenntnistheoretischer Voraussetzung ausgehen und die Schüler lehren, das literarische Kunstwerk als eine besondere Form der Spiegelung der objektiven Wirklichkeit zu erkennen. Denn jede realistische Dichtung in ihrer Gestaltung der Widersprüche, Auseinandersetzungen und Kämpfe des gesellschaftlichen Lebens ist ein Weg zur Erkenntnis der außerhalb des menschlichen Bewußtseins existierenden objektiven Wirklichkeit.
»Marx und Stalin« schrieb diese Junglehrerin in selbstverständlich-naiver Zusammenstellung. Methodologisch berief sie sich auf Georg Lukács, gebrochen durch das, was ein Wilhelm Girnus in den Jahren 1951/52 daraus gemacht hatte. – Girnus schrieb damals im Neuen Deutschland gegen den »Formalismus«, worauf noch näher einzugehen sein wird. Nicht zufällig bezieht sich die enthusiastische Zustimmung Liselott Preys zu den Änderungen des Lehrplans im Jahr 1951 just darauf. Im selben Jahr hatte der Kampf der SED gegen den »Formalismus« begonnen – ein Schlüsselereignis auch für die angehenden Abiturienten der John-Brinckman-Schule. Schulfreunde entsinnen sich, daß Uwe Johnson dieser Lehrerin wiederholt in sanft-ironischer Opposition (aber eben auch, um imponierend sein Wissen vorzuzeigen) nachwies, wo bei Lukács sie gerade ihre Weisheit hergeholt hatte. Girnus’ Formalismusverdikt jedenfalls berief sich auf den ungarischen Literaturpapst und dürfte von »Bettinchen« ex cathedra verkündet worden sein. Gegen solche Orthodoxie mobilisiert dann Klaus Niebuhr in der Babendererde die Position des Bertolt Brecht, dessen Bürgschaft-Parodie zitierend. Und in
all diesem Betrieb schritt einsam Das Blonde Gift auf und ab, Nachdenklichkeit darstellend und Aufsicht führend (zweite Grosse Pause Hofaufsicht: Frau Behrens). Dies war eine füllige und nahezu hübsche und sehr blonde Frau. Streng aufgerichtet in langem blauem Kostüm ging sie hin und her und war in ihrer Würde Pius nahe verwandt. (Babendererde, S. 93)
Der Unterricht, den diese Frau erteilte, lebte offenbar von soziologischästhetischen Begriffsmonstren. Sie wurden zudem in einer stilistisch denkbar ungelenken Art ins didaktische Treffen geführt.
Zu jener Zeit war in Deutschland der Feudalabsolutismus die herrschende Kraft. Territoriale Aufgespaltenheit. Unterdrückung des Volkes. Grosses Elend. Wirtschaftlicher Niedergang. Die Romantik. Die Blaue Blume als Symbol des Schönen/Hohen/Reinen/Guten. Die Wendung gegen die Klassik. Die Romantik als bewusstes Werkzeug der herrschenden Klasse. Die Junge Gemeinde als amerikanisch geförderte Spionage-Organisation: ein Eiterherd im Schosse der Republik. Die Hochromantik. (Babendererde, S. 102)
»Bettinchens« Deutschunterricht war also für sich genommen schon geeignet, die altersbedingte Oppositionsbereitschaft der Oberschüler hervorzurufen. Das verstärkte sich im Falle Johnsons noch dadurch, daß dieser bereits selbst schrieb. Was immer der Deutschunterricht behandelte, es betraf eo ipso Johnsons ureigene Sache. Die erste Fassung der Babendererde-Geschichte war seit 1951 im Entstehen begriffen, geplant noch als eine Novelle über Schülerliebe und Segeln, der es deutlich ermangelte an der politischen Dimension des späteren Romans. Erhalten ist diese Babendererde-Vorstufe nicht; die Johnson-Forschung registrierte bislang noch nicht einmal ihre Existenz. Indes werden Zweifel an ihrer Existenz widerlegt durch Zeugenschaften unterschiedlichster Provenienz: So etwa die des Sport- und Erdkundelehrers Horst Dehn, der Güstrow ebenfalls verließ und seit Mitte der fünfziger Jahre im Westen lebt, des Deutsch- und Musiklehrers Kurt Hoppenrath, mit dem Johnson eine Bekanntschaft verband, auf die noch näher einzugehen sein wird, sowie des Güstrower Kritikers Dr. Günther, dem Johnson das Manuskript 1951 zur Begutachtung vorgelegt hat – mit übrigens positivem Respons.
Noch im selben Jahr veranstaltet der Oberschüler Johnson seine erste Lesung als Literat: Unweit der Schule, am Goetheplatz, existierte seit 1949 eine Volksbücherei, die auch er benutzte. Die Geschichte dieser Bibliothek findet sich dokumentiert in Erika Silberstorffs Güstrower Volksbücherei:
Nach 1945 erfuhr das Bibliothekswesen eine besondere Förderung. Große Mittel wurden bewilligt zum Einkauf neuer Bücher. Die Güstrower Volksbücherei, die jetzt nicht mehr ehrenamtlich, sondern von Bibliothekaren und technischen Angestellten betreut wurde, zog im Jahre 1949 in das damalige »Haus der Kultur« am Goetheplatz. Drei schöne Räume, die zweckmäßig eingerichtet wurden, und in denen die Leser sich wohl fühlen sollen, stehen hier zur Verfügung. [...] Jeder Einwohner ab 16 Jahren konnte diese Bücherei unentgeltlich benutzen.
Auf seine Weise nahm der Güstrower Oberschüler den letzten Satz beim Wort. Beorderte seinen Schulfreund Heinz Lehmbäcker eines Nachmittags zu dieser Bibliothek. Beide stiegen durch ein Fenster in die Stätte der Volksbildung ein, wo Uwe Johnson seinem Freund dann aus der ersten Stufe der Babendererde vorlas. Eine runde Stunde voll mit Segeln und der schüchternen Liebe zu einer Ingrid. Diese Ingrid wiederum hatte eine Schülerin zum Urbild, die Lehmbäcker aus der gemeinsamen Klasse kennen konnte. Da freilich endete die Parallele zur Güstrower Schulrealität auch schon. Denn die Ingrid in der ursprünglichen Novellenfassung protestierte (der Erinnerung Hildegard Emmels zufolge, die diese Fassung später in Rostock gelesen hat) gegen den Deutschunterricht des »Blonden Gifts«. Das wird später nicht mehr so sein.
Wie es Uwe Johnson daneben als Literaturrezipient im Deutschunterricht ergangen sein mag, illustriert der Schüler Lockenvitz – wenn auch in einem anderen Deutschunterricht als dem des »Blonden Gifts«. Lockenvitz erweist sich als der Thomas Mann-Kenner, der Johnson damals bereits war. Der Kandidat Weserich liest mit seiner Klasse Theodor Fontanes Schach von Wuthenow. Lehrer und Klasse stellen zunächst Übereinstimmung darüber her, daß »ein Personenname immer die ehrlichste [Titel]-Ankündigung ist«. Diese Einsicht, sagen die Jahrestage in ihrem vierten Band, stamme von Thomas Mann. Das ist gewiß richtig. Doch Weserich legt diese Maxime geradezu brechtisch aus, wenn er folgert, daß Fontane einen Namen als Titel gewählt habe, weil die erwogenen »anderen fast alle ein Urteil enthalten, dem Leser sein eigenes vorwegnehmen. Fontane wünschte seine Leser unabhängig!« In diesem brechtischen Geist beginnt die Klasse mit Interesse, Fontanes historische Erzählung zu lesen. Das gute Ende freilich
verdarben wir uns. Lockenvitz, der vermasselte es. [...] Lockenvitz, nunmehr Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Pagenkopf/Cresspahl, fragte uns nebenbei, ob Herr Weserich wohl selber eine Prüfung aushalte. Es ist wahr, wir gaben ihm die Erlaubnis. (Jahrestage, S. 1705)
Lockenvitz holt, seinen Lehrer zu triezen, das Gutachten Georg Lukács’ zu Weserichs Thesen ein. Was der »Widerspruchsgeist« Lockenvitz anbrachte, war
eine Zeitschrift aus der halben Hauptstadt, mit farbiger Bauchbinde, Form hieß sie, oder Sinn, die Botschaft der ostdeutschen Staatskultur an den Rest der Welt, darin schrieb der amtierende Fachmann für sozialistische Theorie in der Literatur, Heft 2, Seite 44–93 über Fontanes »Schach von Wuthenow«: die Erzählung sei ein »Geschenk des Zufalls«. Die darin geübte Kritik am preußischen Wert sei »absichtslos«, sei »unbewußt«. (Jahrestage, S. 1706)
Soweit das angebliche Zitat aus der Kulturzeitschrift Sinn und Form, das sich zwar nicht an der von Johnson angegebenen und auch nicht anderswo im Wortlaut findet, annähernd aber in der Buchfassung von Lukács’ Aufsatz, wie sie im Aufbau-Verlag und anderswo erschienen ist. Lockenvitz hatte sich ein Duell erhofft zwischen »einer Schulklasse in Mecklenburg und einem Grossdialektiker« in Budapest. Am Ende resultiert aus seiner Aktion die »Republikflucht« des einzigen Deutschlehrers, bei dem man das Deutsche wirklich hätte lesen lernen können. Was Johnson alias Lockenvitz sich in der Weserich-Episode zuschrieb, man mag es zuallererst als Verbeugung des Fontane-Preisträgers gegenüber Fontanes Literatur lesen. Andererseits beinhaltet die Weserich-Episode einen deutlichen Hinweis darauf, daß der Oberschüler und Abiturient von 1952 noch ein Anhänger der Lehren des Georg Lukács gewesen war.
KURT HOPPENRATH, DEUTSCH- UND MUSIKLEHRER
IN GÜSTROW.
INDIZIEN FÜR DIE EXISTENZ EINER UR-»BABENDERERDE«
Die geschilderte Episode aus dem vierten Band der Jahrestage stellt ihrerseits auch eine – erfundene – Erinnerungs-Hommage an den Deutsch- und Musiklehrer Kurt Hoppenrath dar, der Güstrow seinerseits verlassen mußte und der, ganz wie der Kandidat Weserich im Roman, in Göttingen promovierte. Dem Lehrer Hoppenrath und dessen Familie sah der Oberschüler Johnson sich nahezu freundschaftlich verbunden. Glaubt man seinem damaligen Sportlehrer Horst Dehn, schien er sich bei den Hoppenraths zeitweilig mehr zu Hause zu fühlen als bei der eigenen Mutter am Ulrichplatz. Zudem verfügten die Hoppenraths über den Zugang zu einem Bootshaus am Inselsee. Auf dessen Steganlage hat der Oberschüler Johnson, damals bereits ein Pfeifenraucher und Segler auf dem schuleigenen Piraten, Teile seiner frühesten Produktion, darunter das verschollene Babendererde-Fragment, Gedichte und wohl auch die Beschreibung Gabrieles verfaßt. Andererseits sollte man sich unter seinem häufigen Aufenthalt im Hause Hoppenrath doch keine allzu große Vertrautheit oder gar Seelenfreundschaft vorstellen. »Problemgespräche« hat man nicht miteinander geführt. Insgesamt vollzogen sich die Unterhaltungen eher auf der Ebene eines unverbindlichen »Blödelns« als auf der eines fachlich-literarischen Austauschs. Noch Ende der fünfziger Jahre in Göttingen glaubte Johnson es im übrigen seinem oppositionellen Schülerimage schuldig, das Mitbringen von Blumen für Louise Hoppenrath glatt zu verweigern – auch dann noch, als der Ehemann ihm, die Form zu wahren, das Geld dafür verstohlen in die Hand drückte.
Aus der Hoppenrathschen Bibliothek lieh Uwe Johnson zwischen 1950 und 1952 häufig Bücher aus. Ihr verdankt sich seine Vertrautheit mit dem Gesamtwerk Thomas Manns – die erste entscheidende Begegnung resultierte, wie die Begleitumstände vermerken, aus dem Jahr 1949. Nachfragen der Hoppenraths machten deutlich, daß der Schüler in der Tat die Gesammelten Werke gelesen, sie geradezu durchstudiert hatte – ein Hinweis überdies auf Johnsons erstaunliches Gedächtnis, zumal die Lektüre jeweils innerhalb kürzester Zeit abgeschlossen war. Natürlich »ist« Hoppenrath keineswegs der Weserich des Romans. Doch hat Johnson diesem Lehrerfreund mutatis mutandis nachgesandt, was der Lockenvitz der Jahrestage, »unberaten«, »unbefohlen«, seinem Deutschlehrer Weserich nachsandte: zwanzig zu begutachtende Aufsatzseiten. 1954 schrieb der Schüler seinem Lehrer eine Art Offenen Brief (veröffentlicht 1992 in Entwöhnung von einem Arbeitsplatz, S. 104 ff.); Kurt Hoppenrath hatte sich da bereits in Göttingen eingerichtet. Daß dieser sich, als es Zeit für ihn zu gehen war, die Umzugskartons noch vom Schulmeister der John Brinckman-Schule besorgen ließ, wahrhaftig »in cold blood«, das hat Uwe Johnson außerordentlich imponiert. Im erwähnten Offenen Brief unter dem 6. Oktober 1954 schreibt er: