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„Manche Christen bekämpfen die Juden, weil sie sagen, sie seien die Christusmörder“, wandte Aaron ein.
„Unsinn! Es waren heidnische Römer, die Christus gekreuzigt haben. Juden waren auch beteiligt, sicher. Aber nicht das ganze Volk. Letztlich schuld am Tod Jesu am Kreuz sind alle Sünder, denn ihretwegen ist er als Mensch erschienen und hat den Tod auf sich genommen, als Sühne.“
„Ich weiß, dass die Christen das lehren“, sagte Aaron, und er klang dabei etwas unwillig. Ludwig wird das nicht bemerkt haben, weil Aaron natürlich unseren freundlichen Helfer nicht angreifen wollte, aber ich, der ich meinen Mann seit langem kenne, hörte es wohl. Er fuhr fort: „Die Nazis sehen das leider nicht so wie du. Es ist ja ein furchtbarer Hass, den sie uns gegenüber haben. So fanatisch, dass mir scheint, die Erklärungen, die du gerade gegeben hast, reichen nicht aus, ihn zu begründen.“
„Manche Nazis brauchen auch keine logische Begründung für ihren Hass. Sie freuen sich nur, wenn sie irgendwo draufhauen können, statt ihren Ärger nur runterzuschlucken. Sie freuen sich, wenn sie sich irgendjemandem gegenüber besser und stärker fühlen können. Da kommen sie sich heldenhaft vor. Überhaupt – Stärke zu beweisen scheint die neue Religion in unserem Land zu sein.“
Aaron nickte. „In unseren Heiligen Schriften, die zum Teil euer Altes Testament sind, wird von Lamech erzählt. Ich habe noch vor einigen Wochen über ihn gelesen. Der erfand am Anfang der Menschheitsgeschichte das Schwert. Und dadurch fühlte er sich stark genug, sich siebenfach zu rächen. Einen Mann zu töten, wenn der ihm nur eine Beule beigebracht hat. So denken viele heute.“
„Genau so denken die Ideologen der neuen Zeit“, bestätigte Ludwig. „Man könnte die Nationalsozialisten Lamechbewegung nennen. Nur hat man heute keine Schwerter, sondern Panzer und U-Boote und Flugzeuge.“
„Aber Gott hat dieser Denkweise sein Gebot entgegengestellt: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die Strafe soll nicht über die Tat hinausgehen. Rache darf nicht maßlos werden.“
„Und Jesus ging noch weiter“, sagte Ludwig. „Wenn dich jemand auf die eine Backe schlägt, halte ihm die andere auch noch hin. Liebt eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen.“
Aaron lächelte. „Aber du tust uns nicht wohl, weil du uns hasst, nicht wahr? Scherz beiseite – ich kenne nicht viele Christen, die mit solchem Handeln beweisen, dass sie das Wort von Jesus ernst nehmen.“
„Leider.“
„Und wegen dieses Liebesgebotes, das kaum jemand beachtet, glaubst du, das Christentum sei wertvoller als das Judentum?“
„Wertvoller? Ich weiß nicht, was ich mir darunter vorstellen soll. Ich möchte so sagen: Das eine ist eine Weiterführung des anderen. Eine Steigerung. Ein Schritt weiter in der Geschichte Gottes mit den Menschen.“
„Aber du verachtest uns und den Glauben der Juden trotzdem nicht?“
„Jesus sagte – das steht bei Johannes: Das Heil kommt von den Juden.“
Es wunderte mich, dass ein solcher Satz im Neuen Testament stehen sollte, aber ich sagte nichts dazu, wusste ich doch, dass meine Kenntnis dieser Dinge äußerst mangelhaft war.
Ich habe hier versucht, das Gespräch möglichst genau festzuhalten. Aber natürlich kann ich mich nicht mehr an jeden einzelnen Satz erinnern. Sinngemäß lief aber unser Gespräch so ab.
Aaron und ich haben uns dann noch ein wenig über das Thema unterhalten, kamen aber nicht wesentlich weiter, weil wir über den christlichen Glauben nicht genug wussten. Es war uns nur geläufig, was zur Allgemeinbildung gehört. Wir hatten aber den Eindruck, damit nicht bis zum Kern vorgedrungen zu sein. Im Übrigen wussten wir über unseren eignen Glauben auch nicht genug.
Gestern hörten wir lautes Reden unten im Hof.
Wir können durch einen kleinen Schlitz zwischen den Dachziegeln hinuntersehen. Allerdings können wir nicht den ganzen Hof mit einem Blick erfassen.
Wir beobachteten, dass Ludwig sich mit einem Mann im braunen Hemd stritt. Es war ein ziemlich dicker Mann, bei dem das militärische Gehabe etwas unpassend und lächerlich wirkte. Nach dem heftigen Wortwechsel drehte sich der Dicke um und stapfte wütend davon.
Später berichtete uns Elisabeth, was geschehen war. Sie stieg die Leiter hinauf, aber nicht ganz. Nur ihr Oberkörper lugte durch die geöffnete Klappe. Der Mann, erzählte sie, war der Ortsgruppenleiter der Partei. Er wollte, dass Ludwig eine Hakenkreuzfahne vorn an der Straße aufhängt. Er erwartete einen Gauleiter – oder wie die sich nennen – für morgen zu einem Besuch. Der sollte würdig empfangen werden. Da Borns Haus direkt an der Hauptstraße steht, sollten sie sich an dem Fahnenschmuck beteiligen und damit ihre Begeisterung über den neuen Geist ausdrücken. Diese Begeisterung war aber bei Ludwig nicht vorhanden, eher das Gegenteil. Er weigerte sich. Er habe keine Fahne, sagte er dem Nazi. Das brachte ihm den Ärger dieses Mannes ein.
Elisabeth meinte: „Hoffentlich bewirkt das nicht, dass er uns nun mit mehr Sorgfalt beobachten lässt. Es wird erzählt, dass die Gestapo manche Leute drängt, andere zu bespitzeln. Nachbarn, Geschäftspartner, sogar Verwandte.“
„Könnt ihr euren Nachbarn trauen?“, fragte Aaron.
„Nun ... “ Elisabeth wiegte den Kopf. „Ich sage ihnen nichts Schlechtes nach. Wir haben eigentlich nach beiden Seiten und gegenüber ein gutes Nachbarschaftsverhältnis. Aber wer weiß schon, wie Menschen reagieren, wenn sie unter Druck gesetzt werden und persönliche Nachteile befürchten müssen. Eine kleine Beobachtung, aufgebauscht oder sogar erfunden, ist ein einfaches Mittel, sich für irgendeinen kleinen Ärger zu rächen, oder zumindest, um sich bei den Machthabern beliebt zu machen.“
„Es wäre leichter, wenn euer Hof weiter draußen läge. Aber er liegt nun mal mitten im Ort. Und mit der offenen Seite zur Straße, sodass jeder, der vorbeikommt, hineinsehen kann.“
Elisabeth nickte. Nach einer Weile fuhr sie fort: „Der Ortsgruppenleiter scheint gut über unsere Familie informiert zu sein. Er erwähnte unseren Sohn.“
Ich sagte: „Es spricht doch für euch, dass euer Sohn an der Front kämpft.“
„Ja, eigentlich schon. Aber es kann ihm auch schaden, wenn wir gegen das Regime sind. Ein Nazifeind wirft sofort einen Schatten auf die ganze Familie.“
„Wie denkt denn Harald darüber? Wir haben ihn ja in Wuppertal selten gesehen und uns nie – soweit ich mich erinnere – über Politik unterhalten.“
Elisabeth antwortete nicht. Sie sah unter sich. Dabei musste ihr wohl der Gedanke gekommen sein, wie sie vom Thema ablenken könnte. „Ach, ich wollte ja noch die Tenne kehren.“ Sie stieg zwei Sprossen nach unten. Das Ablenkungsmanöver war aber so offensichtlich, dass es ihr selber auffiel. Sie zögerte einige Augenblicke und stieg dann wieder drei Sprossen hinauf.
„Leider ... “, sagte sie leise und sah uns dabei nicht an, „leider denkt Harald in diesen Dingen nicht wie wir. Er ... er ist mit dem gegenwärtigen Regime durchaus einverstanden.“
Aaron wollte ihr wohl ein wenig aus der Verlegenheit helfen, bereute sicher auch, die Frage gestellt zu haben. „Nun ja, wenn er Offizier ist ... Dazu gehört ja auch Gehorsam. Mehr noch: eine unbedingte Identifikation mit der Sache, für die man kämpft.“
„Das allein ist es nicht.“ Ich konnte sehen, wie schwer es Elisabeth fiel, das zu sagen. „Er geht ganz in dieser Ideologie auf.“
„Ist er denn auch ... “ Aaron hatte unüberlegt angefangen zu sprechen. Aber er biss sich auf die Lippen und vollendete die Frage nicht.
Elisabeth wusste allerdings, was er fragen wollte. „Ich weiß nicht, ob man ihn als Antisemit bezeichnen kann. Ich fürchte, weit entfernt davon ist er nicht.“
Eine Weile war es still. Jeder hing seinen Gedanken nach.
Dann meinte ich, etwas Tröstliches sagen zu müssen. „Du musst dir deswegen keine Vorwürfe machen, Elisabeth. Erziehung kann in diesen Dingen nicht viel bewirken. Schon gar nicht, wenn ein Sohn seine Einstellung erst als Erwachsener gefunden hat. Da ist der Einfluss der Eltern gleich null.“
Elisabeth nickte. „Nett, dass du das sagst. Aber was mich belastet, sind nicht eventuelle Erziehungsfehler. Ich bin betrübt, dass er so denkt, egal, wie er dazu gekommen ist. Es ist nicht im Sinne Gottes.“
Weder Aaron noch ich wussten etwas dazu zu sagen, obwohl wir sie gern getröstet hätten. Elisabeth sah unsere Verlegenheit und meinte: „Belastet ihr euch nicht damit! Gott wird uns, Ludwig und mir, die Kraft geben, damit fertig zu werden, wenn wir es nicht ändern können.“
Sie stieg noch zwei Stufen höher und setzte sich auf den Rand der Öffnung. „Natürlich ist es fast unmöglich für alte Eltern, an der Einstellung eines erwachsenen Sohnes etwas zu ändern. Besonders wenn diese Einstellung fanatisch ist und von der Mehrheit der Menschen seiner Umgebung gestützt wird. Ich dachte nur, als Kind und Jugendlicher in unserem Haus hätte er durch den Umgang mit der Bibel und christusgläubigen Eltern gefestigt sein müssen. So gefestigt, dass diese antigöttliche Ideologie bei ihm keinen Nährboden hätte finden können. Aber das war ein Irrtum.“
Nachdem wir alle drei wieder einige Zeit geschwiegen hatten, sah Elisabeth plötzlich auf. „Oh – entschuldigt! Ich habe euch mit meinen Sorgen belastet, dabei sind doch eure Sorgen viel größer! Reden wir nicht mehr davon!“
„Aber Elisabeth!“, sagte ich. „Wir wären wirklich sehr egoistisch, wenn wir die Sorgen der Menschen nicht mittragen wollten, die unsere größeren Sorgen mittragen! Die unsere Sorge zu ihrer eigenen machen! Und das ganz praktisch. Wir danken dir für den Vertrauensbeweis, dass du uns an deinem Kummer teilhaben lässt.“
Ich rückte ein wenig näher und legte die Hand auf ihre Schulter. Sie lächelte mich dünn an.
„Ihr müsst aber keine Angst haben“, sagte sie dann. „Wenn Harald Fronturlaub hat, besucht er Frau und Kind in Wuppertal. Hierher kommt er nicht. Unser Verhältnis ist viel zu ... wie soll ich sagen? ... angespannt, als dass er von den wenigen Tagen Urlaub noch einige bei seinen total altmodisch denkenden Eltern verbringen würde.“
„Das klingt bitter“, stellte Aaron leise fest.
„Ich weiß, bitter soll man nicht werden. Aber, offen gesagt: Ich fürchte, innerlich haben wir unseren Sohn verloren, auch wenn er natürlich unser Sohn bleibt. Und wenn unsre Liebe ihm weiter gilt.“
Ich sagte: „Wohl wissend, dass es kein Trost ist, sage ich es trotzdem: Wenn ihr auch euren Sohn innerlich verloren habt, mit uns habt ihr Freunde gewonnen. Freunde, die euch allerdings nichts nützen, eher belasten. Und wenn es stimmt, was Ludwig neulich sagte, dass Gott irgendwann einmal fragen wird, wo ihr Bedürftigen geholfen habt, dann zeigt auf uns.“
Aaron tadelte mich: „Ach, Rebekka! Es stimmt zwar, dass wir dankbare Freunde sein wollen, aber du kannst uns doch nicht mit ihrem Sohn vergleichen!“
Ehe ich antworten konnte, meinte Elisabeth: „Lass nur, Aaron! Ich weiß, wie Rebekka es meint. Und ich danke ihr dafür. So – jetzt muss ich mich aber um die Hühner kümmern. Und um die Schweine. Und ich meine nicht die Nazis.“
Sie lächelte uns an, während sie rückwärts die Leiter hinunterstieg.
6
Ein schmutziger kleiner LKW fuhr auf den Hof, und ein Mann in ölverschmiertem blauem Arbeitsanzug stieg aus. Zielstrebig ging er auf die Tenne zu, in der Harald Born seinen Oldtimer stehen hatte.
Stefanie sah ihn durchs Fenster und kam auf den Hof. „Guten Morgen. Kann ich Ihnen helfen?“
„Ich bin angemeldet“, sagte der Fremde. „Ich soll den Wagen von Herrn Born ... “
„Ist schon in Ordnung!“, rief Harald vom Fachwerkhaus aus und kam herüber. „Ich habe Herrn Wehmeier hergebeten, wieder mal“, erklärte er der Frau seines Enkels. „So ein Oldtimer muss immer mal bewegt werden. Und kontrolliert.“
Der Mechaniker nickte. „Und es gibt Teile, die lösen sich auf, auch wenn man gar nichts damit macht. Dichtungen zum Beispiel.“
Harald Born öffnete die beiden hölzernen Flügel. Da stand das Prachtstück, beigefarben und leicht verstaubt.
„Da geht einem das Herz auf!“, behauptete Herr Wehmeier mit einem Blick auf den alten Wagen. „Eine echte Borgward Isabella! Ein Schatz aus einer anderen Zeit!“
Stefanie konnte die Begeisterung der beiden Männer für das alte Auto nicht nachvollziehen. Sie wollte sich wieder zurück an ihre Hausarbeit begeben, entschloss sich dann aber doch, noch eine Weile zuzusehen.
Wehmeier setzte sich in das Auto und wollte es offenbar starten, was aber nicht ging. Lag das an der Batterie? Stefanie hatte keine Ahnung von so etwas. Sie musste aber wohl mit ihrer Vermutung recht gehabt haben, denn der Mechaniker fuhr nun sein eignes Auto dichter heran, klappte beide Motorhauben hoch und stellte eine Kabelverbindung her. Tatsächlich lief bald der Motor des alten Borgward.
Wehmeier fuhr seinen eigenen Wagen etwas zur Seite, um für den Oldtimer den Weg frei zu machen, stieg in diesen ein und fuhr ihn auf den Hof.
„Hier ist mehr Licht und mehr Platz“, sagte er zu dem stolzen Besitzer. „Ich sehe mir erst mal alles an, und dann fahre ich in meine Werkstatt. Heute Abend, spätestens morgen, bringe ich ihn wieder her. Mein Auto lasse ich solange hier stehen. Da stört es doch niemanden, oder?“
„Ist recht, Herr Wehmeier“, nickte Harald.
„Setzen Sie sich mal rein und betätigen Blinker, Bremse und so weiter! Ich kontrolliere die Lichter.“
Er musste jetzt seine Stimme etwas anheben, da gerade in Pauls Werkstatt die Schleifmaschine anfing zu laufen und ein kreischendes Geräusch zu machen.
Offenbar fiel die Kontrolle der Lichter befriedigend aus. Herr Wehmeier setzte sich nun wieder hinter das Steuer des Borgward und kurvte ein wenig auf dem Hof herum.
Stefanie fragte: „Sag mal, Großvater, willst du dir nicht mal ein neues Auto kaufen? Ich meine, es kann ja ruhig gebraucht sein, aber nicht so uralt wie das. Bei dem weißt du ja nie, ob du auch da ankommst, wo du hinwillst.“
„Ich fahre ja sowieso nicht damit. Wo sollte ich denn hinfahren?“
„Na, da muss man doch erst recht fragen, warum du die alte Kiste noch behalten willst und pflegen lässt.“
„Das verstehst du nicht. Es ist ein wertvoller Oldtimer. Der dient nicht zum Fahren, jedenfalls nicht hauptsächlich.“
„Sondern? Als Geldanlage?“
„Auch. Aber vor allem als Liebhaberstück.“
Der Mechaniker hielt kurz an, öffnete die Tür und rief: „Alles klar. Ich fahre dann.“ Er legte den Gang ein und ließ behutsam die Kupplung gehen. Sanft fuhr das alte Auto vom Hof.
„Dass man an so etwas Freude haben kann!“, staunte Stefanie und grinste Harald an. Sie sagte nicht, was ihr auch durch den Kopf ging: Besser, er beschäftigt sich mit einer alten Limousine als mit einem Panzer. Na ja, das ginge wohl schlecht. Aber mit Waffen und solchen Dingen.
„Weißt du, Stefanie, wenn man so jung ist wie du, blickt man in die Zukunft. In meinem Alter blickt man in die Vergangenheit. Du musst dich nach vorn ausrichten, Pläne machen, von Dingen träumen, die du erreichen willst. Bei mir kommt nicht mehr viel. Ich beschäftige mich mehr mit dem, was war.“
„Das verstehe ich“, nickte die junge Frau.
„Und zu dem, was war, gehört auch meine alte Luxuslimousine. Übrigens – sie kann auch eine Bedeutung für die Zukunft bekommen. Wenn ich mal gestorben bin, könnt ihr sie verkaufen. Sie hat einen hohen Wert.“
„Hast du sie schon mal schätzen lassen?“ Sie grinste, um nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, sie warte auf den Erbschaftsfall.
„Du wirst überrascht sein, denke ich. Positiv überrascht.“
„Dass du noch eine Weile am Leben bleibst, ist wichtiger als dein Erbe“, schob Stefanie sicherheitshalber nach.
„Danke! Sehr freundlich.“
„Zumal wir ja gerade reich beschenkt worden sind.“
Harald nickte. „Ich habe es gehört. Erst von Leoni, dann von Paul und schließlich von Thea. Erstaunlich! 25.000 Mark!“
„Du kannst dir nicht denken, wer der edle Spender ist?“
„Ich kann es mir durchaus denken. Aber meine Tochter bestreitet es vehement.“
„Pauls Vater?“
„Natürlich. Wer sonst? Auch wenn Thea behauptet, der lebt nicht mehr.“
Harald setzte sich auf eine alte, grobgezimmerte Bank, die vor dem Haupthaus stand und auf der wohl frühere Generationen von Bauern pfeiferauchend gesessen und den Feierabend nach der harten Feldarbeit genossen hatten.
Stefanie setzte sich neben ihn, nachdem sie den Staub von der Sitzfläche geblasen hatte.
„Warst du – hoffentlich nimmst du es mir nicht übel, wenn ich das frage –, warst du sehr böse, als deine Tochter ein Kind bekam, ohne verheiratet zu sein? Ich meine, damals waren die Moralvorstellungen ja noch nicht so locker wie heute.“
„Natürlich war ich zunächst – nun, sagen wir: nicht besonders glücklich. Böse war ich ihr nicht. Das sage ich ganz ehrlich. Nur darüber war ich ihr böse, dass sie mir weder verraten wollte, von wem das Kind ist, noch etwas unternahm, um alles in ordentliche Bahnen zu lenken. Sprich: den Mann zu heiraten.“
„Sie sagt, der lebt nicht mehr.“
„Das habe ich immer für eine Ausrede gehalten.“
Sie schwiegen eine Weile. Das Schleifen aus Pauls Werkstatt war inzwischen in ein Hämmern übergegangen.
Dann ergriff der alte Mann noch einmal das Wort. „Du darfst aber nicht denken, dass ich gegenüber Paul voreingenommen bin, weil er nicht aus einer ordentlichen Ehe stammt. Wäre Thea verheiratet, wäre Paul kein besserer Enkel als jetzt. Ich habe ihn gern. Und besonders meine Urenkelin.“
Dann fiel ihm noch etwas ein: „Und dich selbstverständlich auch!“
Stefanie schmunzelte, wurde aber gleich wieder ernst. „Leoni liebt dich auch.“
Er nickte. „Paul hat mit mir gesprochen, ich soll ihr nichts vom Krieg erzählen. Thea hat das auch schon gesagt. Ich bin zwar nicht überzeugt, dass ihr das schaden würde, aber ich akzeptiere euren Wunsch.“
„Danke! Verstehst du, ich will verhindern ... “
Harald hob die Hand und schnitt ihr damit das Wort ab. „Ist gut. Lass uns nicht darüber diskutieren. Ich halte mich an eure Erziehungsgrundsätze. Punkt.“
Wieder schwiegen beide. Die Katze kam angeschlichen, blieb vor Stefanie sitzen, sah zu ihr auf und miaute. Dann sprang sie mit einem Satz auf ihren Schoß. Stefanie kraulte sie am Hals.
„Ja, die Erziehungsgrundsätze ... “, murmelte Harald überlegend. „Manches ist so völlig anders als zu meiner Zeit, dass ich es überhaupt nicht verstehe. Was muss das früher für die Alten eine befriedigende Situation gewesen sein, zu beobachten, dass die Kinder und Enkel ihre Wertvorstellungen übernommen haben. Der Urenkel des Bäckers wollte genauso erfolgreich Brot backen wie der Urgroßvater, der Kaufmann das Geschäft des Gründers von vor vielen Generationen weiterführen, und der junge Ritter wollte genau so ein Kriegsheld werden wie sein Ahnherr, den irgendein König vor Jahrhunderten zum Ritter geschlagen hatte.“
„Da hast du recht, so ist es heute nicht mehr. Sonst müsste Paul ein Bauer sein. Aber du warst ja auch schon keiner.“
Darauf ging der Alte nicht ein. „Bei manchen Dingen habe ich den Eindruck, heute wird genau so gedacht wie vor meiner Jugend. Bei uns gab es so viel Neues, das uns begeistert hat. Es fiel uns wie Schuppen von den Augen, und auf einmal sahen es alle so. Zum Beispiel die Größe unseres Volkes. Oder die Fehlentwicklung der Weimarer Demokratie. Oder das Verderben, das durch die Juden kam. Aber alle diese Gedanken und Erkenntnisse sind verschwunden. Man darf noch nicht mal davon reden.“
Stefanie erschrak. Und sie beschloss, auch nicht davon zu reden. Er hatte ja schon deutlich gemacht, dass es keinen Sinn hatte zu diskutieren. Klar: Der alte Mann hatte seltsame Ansichten. Aber sonst war er ein netter Großvater und Urgroßvater. Ändern würde sie ihn nicht.
Leoni kam über den Hof gelaufen.
„Da bist du, Mama! Ich habe dich gesucht!“
„Setz dich zu Uropa, Leoni, und nimm Muschi auf den Schoß. Die ist anscheinend zurzeit besonders anlehnungsbedürftig. Ich muss bügeln.“
7
„Schlürf nicht so mit deiner Suppe!“, mahnte Stefanie ihre Tochter.
Paul fragte: „Wie war‘s denn heute im Kindergarten?“
„Schön. Ich habe mit Kai gespielt.“
„Mit Puppen?“, fragte Paul leicht verwundert.
„Nein, mit der Kugelbahn. Du, Papa!“
„Hm?“, machte der mit vollem Mund.
„Das Auto war da. Vorne an der Ecke.“
„Da sind öfter mal Autos. Welches meinst du denn?“
„Na, wo der Mann mir das Geld gegeben hat, für dich.“
Paul verschluckte sich fast. „Der Mann ... Hast du das Auto wiedererkannt?“
„Ja, weil da an der Seite, an der Tür, da war so was gemalt.“
Paul sprang auf und sagte zu Stefanie: „Ob uns der beobachtet? Vielleicht steht er ja noch da. Ich renne mal schnell hin.“ Er warf fast den Stuhl um und lief zur Tür. Da drehte er sich noch einmal um.
„Leoni, was war auf das Auto gemalt?“
„So zwei Räder. Solche mit Zacken drumrum.“
„Zahnräder?“
„Ja, Zahnräder. Eins war hier so ... “ Sie zeigte es mit der einen Hand in der Luft und deutete mit der anderen eine Position schräg rechts darunter an. „Und das kleinere hier.“
„Welche Farbe hatte das Auto?“
„Äh, so wie ... die Jacke von meiner Puppe.“ Als Paul ahnungslos guckte, erklärte Stefanie: „Hellblau.“
„Bin gleich wieder da!“ Er rannte los.
An der Ecke, die seine Tochter offenbar gemeint hatte, stand kein Auto. Auch sonst parkten an der Dorfstraße nur der Kombi des Bäckers und der rote VW von Hans Hebel, den kannte er. Eine Weile stand er unschlüssig da und sah sich um. Dann ging er in den Bäckerladen.
„Hallo, Liesbeth. Sag mal, hast du zufällig vor kurzem hier auf der Straße einen hellblauen PKW gesehen, mit einem Firmensignet an der Seite: zwei Zahnrädern?“
„Nee, Paul. Ich gucke aber auch nicht dauernd auf die Straße. Was hat‘s denn damit auf sich?“
„Ach, nichts Wichtiges. Nichts für ungut! Grüß Herbert von mir, wenn du dran denkst! Tschüss.“ Weg war er.
Zu Hause angekommen, informierte er seine Frau nur mit einem Kopfschütteln. „Schade“, sagte die. „Hätte doch zu gerne gewusst, wer unser Wohltäter ist.“
„Und weshalb er hier ... Vielleicht wollte er nachsehen, ob ich schon den Unimog gekauft habe.“
„Nun iss erst mal fertig!“
Das tat Paul. Als sie fertig waren mit der Mahlzeit, ging er ans Telefon und blätterte im Telefonbuch.
„Wen willst du denn anrufen? Suchst du nach Zahnradfabriken?“
„Die Industrie- und Handelskammer. Da kenne ich den – Moment, jetzt fällt mir der Nachname nicht ein. Ich weiß nur noch, dass er Heinrich heißt ... es war so ein komischer Name ... irgendwas Schlimmes. Ah, jetzt weiß ich‘s wieder: Übler heißt er, Heinrich Übler.“
Er fand die Industrie- und Handelskammer und ließ sich zu Herrn Übler durchstellen.
„Hallo, Heinrich! Hier ist Paul, Paul Born. Weißt du noch, wer ich bin? Na, prima! Ja, waren tolle Zeiten, ich denke gerne daran. – Du, Heinrich, du könntest mir einen Gefallen tun. Kennst du eine Firma, oder kannst du sie ausfindig machen, die ein Emblem hat mit zwei Zahnrädern? Das größere oben und das kleinere schräg rechts darunter. – Das kann ich dir nicht sagen, ich habe es selbst nicht gesehen. – Da wäre ich dir dankbar. Ruf mich einfach an, wenn du was gefunden hast. Ich sage dir noch meine Nummer.“