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Wer in der Vergangenheit ethisch-moralische Fragen zu stellen wagte, die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen thematisierte und diskutieren wollte, wie man sich als Unternehmen fair auch gegenüber der Gesellschaft verhalte, wurde nicht selten der Naivität verdächtigt. Ich stelle in meinen Beratungen und Coachings im Topmanagement fest: Immer mehr Menschen, insbesondere Vorstände und Geschäftsführer, sind offen für solche tiefergehenden Fragestellungen und finden den Mut, im Zusammenhang mit der zukünftigen Entwicklung des Unternehmens solchen komplexen Fragen Raum zu geben und diese mit ihren Führungskräften und Mitarbeitern zu diskutieren. Dabei fallen oft »große« Worte: Es geht um Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit und Authentizität, denn wie jede soziale Gemeinschaft benötigt ein Unternehmen ein Wertesystem, das ihm Halt verleiht. Und wer Halt hat, kann auch eine bestimmte Haltung einnehmen, leben und vorleben.
Ein Kernaspekt der Fairness ist die Begegnung auf Augenhöhe mit dem Ziel, eine Vertrauenskultur aufzubauen, die alle an der Wertschöpfungskette beteiligten Menschen umfasst. Fairness ist dabei der Kitt, der die Aktivitäten, die zum Vertrauensaufbau führen sollen, zusammenhält.
Das Merkmal »Potenzialentfaltung«
Evolutionäre Unternehmen haben ein Interesse daran, die Potenziale der Menschen zu fördern, die sich für die Firma einsetzen. Allerdings: In vielen Unternehmen scheint eine Potenzialvernichtungsmaschinerie im Gange zu sein. Einen Beleg dazu liefert jedes Jahr das Gallup Institut mit seinem Engagement Index, den das Markt- und Meinungsforschungsinstitut erstellt. Für 2018 konstatiert das Institut (Gallup 2018), dass über fünf Millionen Arbeitnehmer – und damit 14 Prozent – ihren Job bereits innerlich gekündigt hätten und keine emotionale Bindung zum Unternehmen aufweisen würden. Weiter heißt es: »Der Anteil der emotional hoch gebundenen Arbeitnehmer ist (…) in Deutschland nach wie vor auf einem niedrigen Niveau. Nur 15 Prozent der Beschäftigten weisen hierzulande eine hohe emotionale Bindung an ihren Arbeitgeber auf. Drei von vier Beschäftigten machen lediglich Dienst nach Vorschrift (71 Prozent). Nach jüngsten Berechnungen verursacht die innere Kündigung von Mitarbeitern dabei einen jährlichen volkswirtschaftlichen Schaden von bis zu 103 Milliarden Euro.«
Die Gallup-Zahlen sind, wie fast jedes Jahr, erschreckend und belegen die fatalen Konsequenzen einer Potenzialvernichtungsmaschinerie, die zu Potenzialvergeudung führt und Potenzialentwicklung geradezu verhindert.

Der Weg zu diesem Ziel kann sehr unterschiedlich ausfallen, dass aber die Potenzialentwicklung Priorität genießt, steht bei diesen Unternehmen außer Frage. Sie investieren in die Potenzialentfaltung und die Weiterentwicklung der Mitarbeiter – nicht nur in die fachliche, sondern auch in die persönliche Weiterentwicklung. Dabei fokussieren sie sich darauf, die Stärken, Talente und Begabungen der Führungskräfte und Mitarbeiter für die Entwicklung der Gesamtunternehmung zu nutzen. Zugleich zielt ihr Tun darauf ab, die emotionale Bindung der Menschen an das Unternehmen zu erhöhen, indem diese in einer Unternehmenskultur, die von Wertschätzung geprägt ist, ihre Stärken einsetzen und ausbauen können.
Sicherlich gibt es Mitarbeiter, die klare Anweisungen benötigen, um gute Leistungen erbringen zu können. Doch viele Menschen fühlen sich eher dann an ihrem Arbeitsplatz wohl, wenn sie autonom arbeiten und eigene Entscheidungen fällen, sich zugehörig fühlen und ihre Kompetenzen aktualisieren können. Dies ist möglich, wenn sie an genau dem Arbeitsplatz tätig sind, an dem sie ihre Kompetenzen und Potenziale einsetzen und nutzen können, wenn also Anforderungs- und Qualifikationsprofil übereinstimmen. Die Führungskräfte sollten beide Mitarbeitergruppen unterstützen und ihnen helfen, ihre jeweiligen, höchst unterschiedlichen Potenziale zu entwickeln.
Potenzialentfaltung statt Ressourcenausnutzung – auf diese Aussage lässt sich die Haltung des evolutionären Unternehmens an dieser Stelle verdichten. Es strebt nach der Balance von Wirtschaftlichkeit, Qualitätsorientierung und Mitarbeiterzufriedenheit, achtet mithin darauf, dass keines dieser Kriterien isoliert im Vordergrund steht. Die Potenzialentfaltung der Menschen, die sich für das Unternehmen engagieren, spielt bei allen drei Kriterien eine zentrale Rolle: Denn wer das Ziel verfolgt, die Potenziale der Menschen zu entwickeln, sorgt dafür, dass ein Unternehmen eben mithilfe dieser Menschen wirtschaftlicher agieren und die Qualität seiner Produkte und Dienstleistungen erhöhen kann. Und wenn Mitarbeiter spüren, dass sie ernst genommen und ihre Stärken wertgeschätzt werden, steigt in der Regel das Zufriedenheitslevel.
Das Merkmal »Transparenz«
Kommen wir zum fünften Merkmal, das ein evolutionäres Unternehmen aufweisen sollte, und das ist der Aspekt der Offenheit und Transparenz, und zwar nach allen Seiten. Der Hintergrund: In evolutionären Unternehmen wird Führung als Dienstleistung verstanden. Der Faktor Ehrlichkeit ist dabei eine tragende Säule, insbesondere in Krisenzeiten. Mitarbeiter und Kunden, aber auch die Öffentlichkeit insgesamt belohnen es, wenn ein Unternehmen selbst in schwierigen Zeiten eine offene und transparente Informations- und Kommunikationskultur betreibt. Menschen wollen wissen, woran sie sind, und bevorzugen es meistens, auch über schlechte Entwicklungen informiert zu werden, statt dass ihnen die Wahrheit vorenthalten wird. Firmen, die in Krisenzeiten den Versuch unternommen haben, Vorkommnisse und Entwicklungen unter den Teppich zu kehren, zu verschweigen, zu bagatellisieren oder die Aufklärung etwa eines Skandals in die Länge zu ziehen, haben heftige Reputationsverluste erlitten. Es steht zu vermuten, dass der Schaden, und sei es der Image- und Reputationsschaden, meist größer war als der Schaden, der entstanden wäre, hätte sich das Unternehmen frühzeitig für eine transparentere Informationspolitik entschieden.
Aus meiner Beratungstätigkeit heraus erlebe ich immer wieder, dass Unternehmensverantwortliche darauf vertrauen, dass sich Mitarbeiter für die Bewältigung von Krisen, Herausforderungen eher und mehr engagieren, wenn sie schlicht und einfach Bescheid wissen. Erhalten die Mitarbeiter existenzielle Informationen, die ihren Arbeitsplatz und sie selbst betreffen, zu spät oder über den Flurfunk oder aus der Presse, ist es schwierig, die daraus entstehende Dynamik einzufangen. Wenn sie hingegen die für sie relevanten Informationen rechtzeitig und vollständig erhalten, sind sie am ehesten in der Lage, an Lösungen mitzuarbeiten, die evolutionäre Weiterentwicklung vorantreiben.
Das Zusammenspiel der Merkmale
Die fünf wichtigsten Merkmale, die ein evolutionäres Unternehmen mit Persönlichkeit erfüllen sollte, sind also die Nachhaltigkeit, die Sinnstiftung, Fairness und Vertrauen, die Potenzialentfaltung und eine offene, transparente Haltung. Diese Merkmale stehen in Beziehung zueinander – zum Beispiel:




Die Lebensaufgabe des Unternehmens: Das Wichtigste im Überblick


»Wenn du feststellst, dass du zur Mehrheit gehörst, ist es an der Zeit, deinen Standpunkt zu überdenken.«
MARK TWAIN
Kapitel 2
Die Menschen an der Spitze des Unternehmens – die fokussierte Unternehmerpersönlichkeit
Ihr Check für die schnelle Übersicht Was dieses Kapitel bietet Evolutionäre Unternehmen werden von einer Führungsriege geleitet, die aus Persönlichkeiten besteht. An der Spitze steht im besten Fall eine fokussierte Unternehmerpersönlichkeit. Fortschritte, die Sie erzielen können Prüfen Sie, ob Sie schon eine (Unternehmer-)Persönlichkeit sind oder das Zeug dazu haben.Eine Weihnachtskarte und ihre Folgen
Ein evolutionäres Unternehmen mit Persönlichkeit ist ein Unternehmen, dessen Leitungsebene aus Führungspersönlichkeiten besteht und das fokussierte Mitarbeiter hat. Das ist die Kernüberzeugung, um die es in diesem Kapitel geht. Eine Firma, die vom Umfeld als Unternehmen mit Persönlichkeit wahrgenommen wird, deren Manager und Führungskräfte sich jedoch unethisch verhalten, ist kaum denkbar. Das eine spiegelt sich im anderen wider – zudem tendieren wir dazu, die Person(en) an der Spitze mit dem Unternehmen selbst zu identifizieren und umgekehrt. Dies durfte ich kurz vor Weihnachten 2018 erfahren – eine Zeit, in der wir uns gegenseitig mit Weihnachtskarten, kleinen Präsenten und Neujahrsglückwünschen erfreuen, auch im Geschäfts- und Businessbereich. Von einem großen Flughafenbetreiber, der mit mir Kontakt aufgenommen hatte, erhielt ich eine äußerlich eher bescheiden wirkende Karte mit Weihnachts- und Neujahrsgrüßen. Aber der Inhalt hatte es in sich: Gleich drei Mitglieder der Geschäftsleitung hatten handschriftlich ein paar persönliche Zeilen notiert – eine der Handschriften erkannte ich wieder, weil ich kurz zuvor von einer der Personen einen Brief mit einer handschriftlichen Notiz erhalten hatte. Darum darf ich mit einigem Recht davon ausgehen, dass sich in diesem Unternehmen drei hochrangige Manager wertvolle Zeit genommen haben, ihren Dienstleistern persönlich zu schreiben. Denn ich war ja wohl bestimmt nicht die Einzige, die solch eine Grußkarte erhalten hatte. Vielleicht hat es in der Geschäftsführung eine Art Arbeitsteilung gegeben und jede Führungskraft hat sich an eine bestimmte Klientel oder einen Kundenstamm gewendet – entscheidend ist, dass der persönliche Beziehungsaufbau in diesem Unternehmen keine hohle Phrase in der Kommunikation ist, sondern mit Taten unterfüttert, legitimiert und mit Leben gefüllt wird.
Ein Unternehmen gibt seinen Mitarbeitern und Führungskräften immer einen Handlungsrahmen vor, in dem sie sich frei bewegen und agieren können. Wenn sich also – wie in diesem Fall – gleich mehrere Mitglieder der Geschäftsleitung die Zeit nehmen sollen und dürfen, sich auf eine höchst persönliche und individuelle Weise an ihre Kunden und Dienstleister zu wenden, ist davon auszugehen, dass das Unternehmen nicht nur Wert auf intensive Kundenbeziehungen legt, um Profit zu machen. Nein, es strahlt an seine Mitarbeiter das Signal aus: »Nehmt euch Zeit für die Kunden, um unsere Wertschätzung zeigen zu können!«
Die Werte der Unternehmerpersönlichkeit spiegeln sich im Unternehmen
An der Spitze erfolgreicher Unternehmen steht oft eine fokussierte Unternehmerpersönlichkeit, die sehr genau weiß, was sie will. Betrachten wir dazu die Drogeriemarkt-Branche. Findet der Drogeriemarkt dm Erwähnung, fällt den meisten von uns wohl der Gründer Götz W. Werner ein. Werner setzt sich als Vertreter eines anthroposophischen Weltbildes für die Kernbotschaft eines bedingungslosen Grundeinkommens ein. Sein neuestes Projekt: Die Mitglieder der dm-Arbeitsgemeinschaft in Deutschland sind damit beschäftigt, statt eines gewinnmaximierenden Handelskonzerns einen sozialen Organismus zu entwickeln. Es ist das Anliegen des Gründers, einen sozialen Organismus zu kreieren, bei dem alle Mitarbeiter in flachen Hierarchien arbeiten, ein hohes Mitsprache- und Mitgestaltungsrecht haben und in dem mit ihnen auf Augenhöhe kommuniziert und interagiert wird. Götz W. Werner will ein Unternehmen schaffen, in dem sich Menschen weiterentwickeln und ihre Potenziale entfalten können. Entscheidend dafür ist für ihn eine »dialogische Unternehmenskultur«.
Dialogische Unternehmenskultur bedeutet für Werner, »dass man sich mit jedem Mitarbeiter auf Augenhöhe bewegt und man in den menschlichen Beziehungen keine Hierarchien kennt. Alle unsere Mitarbeiter sollen sich bemühen, miteinander so ins Gespräch zu kommen, dass sie sich gegenseitig verstehen und respektieren. Ein Lehrling soll dabei nicht anders behandelt werden als ein Kollege aus der Geschäftsleitung. Es geht um den Dialog und nicht darum, gehorsam Befehle auszuführen. Wir wollen, dass unsere Kollegen Dinge ausführen, weil sie einsehen, dass es vernünftig ist, und nicht, weil ihnen gesagt wurde, dass sie sie ausführen sollen.« (Werner 2019)
Unternehmerpersönlichkeiten verfolgen oft eine Mission, ohne missionarisch zu sein. Ein Unternehmer kann sich meistens allerdings erst dann sozial engagieren und Geld in soziale Projekte investieren, wenn der unternehmerische Erfolg als Grundlage vorhanden ist. Ein Unternehmen, bei dem kein Wert auf diese Grundlage gelegt wird, wird rasch vom Markt verschwinden.
Die Werte des dm-Unternehmers Götz W. Werner spiegeln sich im Wesen und den Marktaktivitäten seines Unternehmens. Ähnliches lässt sich über Dirk Roßmann und die Dirk Rossmann GmbH sagen; auch hier liegt ein hoher Grad der Gleichsetzung zwischen der Person an der Spitze und der Drogeriemarktkette vor. Seine Firma genießt eine entsprechende Reputation. Das soziale Engagement des Gründers spiegelt sich in seinem Leitmotto: »Geld verdienen, um anderen helfen zu können.« In diesem Sinne hat Roßmann die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW) gegründet, eine international tätige Entwicklungshilfeorganisation, die sich für Selbsthilfeprojekte in armen Regionen einsetzt.
Auch hier gibt es zahlreiche Gegenbeispiele, auch im Drogeriemarktbereich. Genannt sei das unrühmliche Verhalten von Anton Schlecker – ob es ein Zufall ist, dass selbst in den wirtschaftlichen Glanzzeiten von Schlecker das Unternehmen und sein Agieren am Markt nie unumstritten waren, ebenso wie sein Gründer und Lenker? Vor allem dessen Verhalten gegenüber den Mitarbeiterinnen, den sogenannten »Schlecker-Frauen«, hat in der breiten Öffentlichkeit immer wieder für Unmut gesorgt, etwa als bekannt wurde, dass es den Filialen selbst in Notfällen nicht mehr möglich war zu telefonieren, weil die Telefone entfernt wurden. Um es auf den Punkt zu bringen: Während bei dm die Ausrichtung »Sozialer Organismus statt Gewinnmaximierung« gilt, standen bei Schlecker wohl eher Gewinnmaximierung und Profitdenken im Vordergrund.
Derzeit wird in vielen Unternehmen diskutiert, wie sich eine stärker ethisch ausgerichtete Unternehmenskultur etablieren lässt. Das ist den zahlreichen Skandalen geschuldet, die die Öffentlichkeit zurzeit beschäftigen. Doch es gelingt Unternehmen wie Volkswagen oder der Deutschen Bank nicht, den Leitgedanken, die Ethik wiege schwerer als das Geschäft, durchzusetzen. Bei Volkswagen etwa sollte im Zuge des Dieselskandals ein VW-Vorstand für Regeltreue im Konzern sorgen. Doch: »Einfach nur Regeln aufstellen reicht da nicht« – vielmehr war und ist es notwendig, die Unternehmenskultur zu verändern. »Die Mitarbeiter sollen sich weniger als Befehlsempfänger verstehen denn als Mitarbeiter mit Wertebewusstsein, die ein Gespür dafür entwickeln, welche Geschäfte integer sind – und welche nicht.« (Klawitter 2019, S. 64) Doch das ist gewiss nicht leicht, solange gegen die – ehemalige – Konzernspitze mögliche Schadensersatzklagen anhängig sind oder Gerichtsprozesse drohen.
»Sie wollen Wirtschaftsethik studieren? Da müssen Sie sich schon entscheiden, junger Mann« – das soll ein Professor einst einem Studenten in der Studienberatung gesagt haben. Das Bonmot soll auf den unversöhnlichen Widerspruch zwischen Wirtschaft und Ethik aufmerksam machen. Natürlich: Die Wirtschaft und die Unternehmen sind keineswegs nur von Menschen bevölkert, für die Ethik ein Fremdwort ist. Aber es gibt doch erschreckend viele Unternehmen, in denen es den Menschen nicht gerade leicht gemacht wird, ihre moralischen Skrupel einzubringen, einfach, weil dies nicht in der DNA des Unternehmens angelegt ist.
Wenn es denn so etwas wie eine ethische Urquelle in uns Menschen gibt, dann scheint sie, so befürchte ich, bei vielen Unternehmenslenkern verschüttet zu sein. »Moral wirkt noch immer wie ein Makel, und Ethik erscheint lediglich als Bremse für den Umsatz. Werte seien ja schön, heißt es oft, aber sie müssten sich rentieren«, so der traurige Befund einer Analyse des Fehlverhaltens von Managern in deutschen Unternehmen (Klawitter 2019, S. 64).
An dieser Stelle treffen die Worte des Ethikprofessors Joachim Kohlhof zu: »Ohne Ethik versagt die Politik, verkommt die Wirtschaft, verwahrlost die Gesellschaft und verirrt sich der Mensch in das Nichts vom puren Tun.« Ein Grund mag sein: Der Gewinn wurde zum Maß aller Dinge. Oft, so scheint es, sind den handelnden Menschen in Politik, Medien, Wirtschaft, Wissenschaft und kirchlichen Institutionen sowie öffentlichen Einrichtungen das Gefühl und der Blick für das rechte Maß abhandengekommen.
Die Unternehmerpersönlichkeit und ihre Eigenschaften
Wann ist ein Unternehmen ein wertschätzendes Unternehmen? Doch wohl vor allem dann, wenn es von klugen Unternehmerpersönlichkeiten mit Haltung geführt wird. Es stellt sich daher die Frage, was eine »kluge Unternehmerpersönlichkeit« überhaupt ausmacht und kennzeichnet. Sich nur an Gesetze und Regeln zu halten genügt nicht. Vielmehr benötigen Unternehmer, Manager und Führungskräfte ein festes und stabiles Wertegerüst, eine klare Haltung, die auf einem Wertebewusstsein beruht und sich an konkreten Inhalten orientiert. Dabei dürfen Moral und Ethik keiner Auszahlungslogik und den Gesetzmäßigkeiten der Gewinnmaximierung unterworfen werden, nach dem Motto: »Ich verhalte mich moralisch, weil es sich lohnt und sich bezahlt macht und ich dann anerkannter und erfolgreicher bin.« Unternehmerpersönlichkeiten reflektieren ihr Denken und Tun ständig und überprüfen ihre Handlungen im Rahmen eines Selbstreflexionsprozesses kritisch, indem sie ihre Aktivitäten und ihre Entscheidungen an ihrem Wertesystem messen: »Werde ich mir selbst, werde ich meinen eigenen – auch moralischen – Ansprüchen noch gerecht?«
Ich nenne solche Persönlichkeiten »fokussierte Menschen« (vgl. Nienkerke-Springer 2018a). Fokussierte Menschen weisen eine klare Haltung auf und können artikulieren, wofür sie stehen. Fokussierte Unternehmer- und Führungspersönlichkeiten werden von ihrem Umfeld als Menschen wahrgenommen, die Ecken und Kanten besitzen, an denen sich andere gerne festhalten, weil sie Orientierung, Halt(ung) und Stabilität garantieren: Wer eine Haltung hat, kann auch anderen Menschen Halt geben.

Meiner Überzeugung und Erfahrung nach gilt: Eine fokussierte Persönlichkeit weiß genau, was untrennbar zu ihr gehört und was sie in ihrem tiefsten Inneren ausmacht und antreibt. Auf die Frage »Wer bin ich?« hat sie eine Antwort gefunden. Darum kann sie Integrität und Haltung zeigen. »Besser ein Mensch mit Ecken und Kanten als ein rundes Nichts« – danach lebt sie (vgl. Nienkerke-Springer 2018a). Ohne es im strengen Sinn beweisen zu können, bin ich überzeugt, dass sich Unternehmerpersönlichkeiten wie Götz W. Werner oder Dirk Roßmann und etliche weitere erfolgreiche Familienunternehmer an diesem Motto orientieren und daraus die visionäre Kraft und den Mut schöpfen, ihr Unternehmen zu prägen und ihre Mission zu verwirklichen.
Eine fokussierte Persönlichkeit sehnt sich danach, ihrem Tun einen Sinn zu geben. Das erzeugt Resonanz und wirkt auf das Umfeld. Der große Vorteil: Die Menschen im Umfeld – und eben auch die Mitarbeiter und Kunden – wissen, woran sie sind. Darum übernehmen fokussierte Persönlichkeiten gern Führungsverantwortung und zeigen eine klare Haltung, die für die Mitarbeiter erfahrbar und überprüfbar ist. Sie sind oft Vollblutunternehmer mit Körper, Geist und Seele, die sich ihrer Lebensaufgabe und Mission mit Haut und Haaren verschrieben haben.
Übereinstimmung zwischen Unternehmen mit Persönlichkeit und Unternehmerpersönlichkeit
An dieser Stelle fällt die Kongruenz auf zwischen Unternehmen mit Persönlichkeit und Unternehmern mit Persönlichkeit, eine Kongruenz, die auch dadurch zustande kommt, dass eine Unternehmerpersönlichkeit erheblichen Einfluss auf die Entwicklung und Geschicke einer Firma nehmen kann. Etwas anders sieht es bei den Führungspersönlichkeiten aus. Mir begegnen viele ambitionierte Menschen mit Führungsverantwortung. Allerdings: Hemmend wirken sich oftmals die Bedingungen des Systems aus, sprich des jeweiligen Unternehmens, das Einzigartigkeit nicht zulässt oder erschwert. Windschnittige 08/15-Führungskräfte sind häufig beliebter als Persönlichkeiten, die ihre Einzigartigkeit leben. Systemische, durch die Struktur des Unternehmens bedingte Faktoren verhindern, dass sich Menschen in ihrer Persönlichkeit entfalten und entwickeln können. Klassisches Beispiel sind Unternehmen, deren Strukturen es verhindern, dass sich mittel- und langfristige Interessen statt kurzfristiger Gewinnmaximierung und damit auch entsprechende Führungspersönlichkeiten durchsetzen können. Der Druck, im Quartalsrhythmus Zahlen vorzulegen, die die Aktionäre zufriedenstellen oder gar in Verzückung geraten lassen, steht langfristigen Orientierungen im Weg. Besonders fatale Auswirkungen drohen, wenn Vorstände, Manager und Führungskräfte durch falsche Anreize die eigenen Interessen wie etwa den Joberhalt und Bonuszahlungen über die langfristigen Interessen des Unternehmens stellen.