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Nun wurde auch Storne hellhörig. Obwohl es eine Wohltat für seine gepeinigte Kehrseite darstellte, sprang er aus einem ganz anderen Grund von seinem Thron auf. Er griff sich einen Hocker und setzte sich zu den anderen an die Tafel.
»Natürlich! Der Druide hat recht«, erklärte er hektisch. »Auch bei uns ereignen sich höchst mysteriöse Dinge. Ein paar meiner Männer benehmen sich in letzter Zeit nicht mehr wie anständige Barbaren. Sie nehmen widerliche Worte wie Vergebung, Gewaltlosigkeit oder gar Frieden in den Mund. Manchmal lassen sie sich auch völlig neue Wörter einfallen. Glaubt Ihr, die Gegenwart des Vampirlords könnte so etwas verursachen?«
Der Erzmagier nickte. »Das ist durchaus vorstellbar. Einige unserer Ritter haben ähnliche Symptome gezeigt.« Er sah den blutjungen Paladin an und etwas zögerlich sprach er weiter. »Das ist auch der Grund, warum mich lediglich der gute Hohlefried begleitet.« Ein verschämtes Hüsteln unterbrach seinen Redefluss. »Ähm … die anderen Paladine haben es vorgezogen, eine sogenannte Selbsthilfegruppe zu gründen, anstatt mit uns in den Kampf zu ziehen. Dort sitzen sie jetzt beieinander und sprechen über ihre Ängste, Sorgen und die seelischen Probleme, die sie neuerdings plagen.«
Storne Stahlhand schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, sodass die ganze Tafel erbebte und etwas Met aus den darauf stehenden Trinkhörnern schwappte.
»Das ist ja mal ein dickes Ding, da brat mir doch einer ein Einhorn! Aber sagt mir, Teophus, was hat Euch zu der Vermutung gebracht, dass der Vampir nun in unseren Landen wandelt?«
Ein selbstgefälliges Lächeln erschien im Gesicht des weißhaarigen Alten. Es war das erste Lächeln, das er seit seiner Ankunft im Dorf zeigte.
»Als Magier habe ich da so meine Methoden. Nach einigen Ermittlungen habe ich damals den Unterschlupf des untoten Schuftes ausfindig gemacht – eine alte Gruft auf dem städtischen Friedhof. Leider war der Schurke bereits entflohen und die jungen Frauen hatte er natürlich mit sich genommen. Ich habe jedoch das hier gefunden.«
Aus den Falten seines Gewandes, in denen sich offenbar eine Tasche verbarg, zog er eine goldene Kette heraus, an der ein großer, blutroter Rubin hing.
»Dies ist ein Geschenk, welches ich meiner Nichte zu ihrem achtzehnten Geburtstag gemacht habe. Sie hat es eigentlich ständig getragen und muss es wohl in der Gruft verloren haben. Vielleicht hat sie es aber auch absichtlich dort zurückgelassen, um mich auf ihre Spur zu führen.«
Er legte die Kette vor sich auf die Tafel und strich behutsam mit seinen Fingerspitzen darüber. Ein leises Summen erfüllte plötzlich den Raum, welches aus dem Rubin zu dringen schien.
»Ein Gegenstand wie dieser, mit einer so starken persönlichen Bindung an seinen Besitzer, kann einem Magier äußerst nützlich sein. Mit seiner Hilfe kann ich mühelos den ungefähren Aufenthaltsort seines Eigentümers bestimmen. Dies nötigt mir nur ein wenig Konzentration und etwas mentale Energie ab. Ich bin mir deshalb sicher, dass Sielrud hier in dieser Gegend ist. Und wo sie ist, da wird auch der Vampirlord sein. Das, was Ihr mir über das seltsame Gebaren Eurer Männer erzählt habt, bestätigt diese Annahme zudem. Habt Ihr vielleicht eine Ahnung, wo sich die Bestie mit den Mädchen verborgen halten könnte?«
König und Druide dachten einige Augenblicke lang nach, dann tat Grahlum es mit einem Fingerschnippen kund, dass ihn ein Geistesblitz ereilt hatte.
»Nicht weit von hier, etwa einen halben Tagesritt entfernt, liegt eine Burgruine. Schon seit Jahrhunderten ist sie unbewohnt und dort gibt es sogar einen kleinen Friedhof. Wenn Ihr mich fragt, wäre dies ein ideales Versteck für Untote jedweder Art.«
»Das ist fürwahr interessant!«, meldete sich nun der milchgesichtige Paladin zu Wort. Storne stellte fest, dass dieser durch das geöffnete Visier viel von seiner Imposanz einbüßte. Auch seine Stimme klang nun ziemlich unreif und nicht sehr beeindruckend für einen Krieger. »Diese Ruine könnte auch der richtige Ort sein, um nach dem Vampirlord zu suchen!«
Storne und Grahlum sahen sich fragend an, während der Magier seine Augen schloss und leise ächzte. Anscheinend war er derart bahnbrechende Erkenntnisse seines Begleiters bereits gewohnt.
»Genau das wollte uns der ehrenwerte Druide damit sagen.«, klärte er den Paladin auf.
»Ach so!« Hohlefried schaute etwas einfältig drein. »Na, dann sollten wir uns diese Ruine möglichst bald mal anschauen. Vielleicht ist es ja auch noch nicht zu spät. Noch hege ich die Hoffnung, wenigstens ein paar der Mädchen vor einer Zukunft als blutsaugendes Monster bewahren zu können. Vor allem der edlen Sielrud gilt meine Sorge. Meine Pflicht als königlicher Paladin gebietet es mir, alles in meiner Macht stehende zu tun, um die Braut des Königs zu retten.«
Der weißhaarige Magier betrachtete die vor ihm liegende Kette gramerfüllt. »Ja, auch ich habe noch nicht die Hoffnung verloren. Doch selbst wenn sich diese als unbegründet erweist, müssen wir dem untoten Haderlumpen endgültig den Garaus machen.«
»So ist es!«, stimmte der Barbarenkönig ihm zu. »Der Halslutscher muss weg! Seinen verderblichen Einfluss auf meinen Stamm kann auch ich nicht hinnehmen. Deshalb werde ich Euch begleiten – als Führer und als zusätzlicher Streiter. In einem Kampf gegen eine so mächtige Kreatur dürfte Euch etwas schlagkräftige Hilfe wohl sehr gelegen kommen. Wir sollten sofort aufbrechen!«
Grahlum der Greise schien von dieser Idee nicht sehr begeistert zu sein. »Hältst du es für klug, dich als Herrscher in ein solches Abenteuer zu stürzen? Du trägst immerhin die Verantwortung für den ganzen Stamm auf deinen Schultern. Wäre es nicht ratsamer, einen deiner Männer zu schicken?«
»Unter normalen Umständen würde ich dir sicherlich Recht geben.« Storne atmete schwer aus. »Aber zurzeit kann ich keinem meiner Männer uneingeschränkt vertrauen. Was ist, wenn ich einen von denen auf diese Mission entsende und er auf einmal die Lust daran verliert, weil er urplötzlich die Mimose in sich entdeckt oder lieber bunte Topflappen häkeln möchte? Dieses Risiko ist mir zu hoch. Ich will diesem Spuk ein rasches Ende bereiten.«
»Und wenn sich die finstere Aura des Vampirs auch deiner Seele bemächtigt?«, gab der Greise zu bedenken. »Wir können nicht wissen, ob überhaupt jemand dagegen immun ist.«
Der König erhob sich von seinem Hocker und legte dem Druiden seine Hand auf die Schulter. »Dann, mein Freund, ist ohnehin alles verloren.«
5
Femaltosa, die Hauptstadt des Amazonenreichs, lag vor ihr.
Sie hatte soeben den Rand des Dschungels erreicht, sodass sie in der Ferne bereits die ersten Gebäude durch das dichte Blattwerk der Bäume erspähen konnte. Nur ein paar sanfte, mit saftigem Gras bewachsene Hügel trennten sie noch von ihrem Ziel. Hinter diesen streckten sich Türme, Häuser, Säulen und Tempel aus Marmor oder hellem Kalkstein empor. Der Schein der Mittagssonne verlieh diesen Bauwerken das Aussehen schneeweißer, in ein Tuch aus grünem Samt gebetteter Juwelen – ein Anblick, der normalerweise für ein wohliges Gefühl der Heimkehr in Tissha sorgte.
Dieses Mal trübte jedoch ihre glücklose Jagd dieses Empfinden. Ihre Mutter würde es bestimmt nicht sehr erfreut zur Kenntnis nehmen, dass sie ohne das entflohene Männchen heimkam. Dass sich ihr liebster Gespiele zurzeit seinen Weg durch die Verdauungsorgane eines Krokodils bahnte, würde der Königin wohl noch viel weniger gefallen. Schon jetzt bedauerte Tissha den armen Kerl, der den Zorn ihrer Mutter zu spüren bekommen würde. Aber für solche Anlässe gab es ja schließlich die Prügelknaben, von denen sich nahezu jede Amazone einen hielt.
Eine Strafpredigt würde aber auch Tissha nicht erspart bleiben, weshalb sie ihren Weg nur mit wenig Begeisterung fortsetzte. Schnell erreichte sie dennoch die breite, mit hellen Steinen gepflasterte Straße, die sich durch die Hügel wand und in die Stadt hineinführte. Dass sie niemandem begegnete, während sie gemächlich auf dieser einherging, wunderte sie nicht. Nur selten verließ jemand Femaltosa südwärts in Richtung Dschungel. Die Wege nach Westen oder Norden aus der Stadt heraus wurden weit häufiger genutzt.
Als sie jedoch die ersten Gebäude erreichte und noch immer keine lebende Seele entdecken konnte, wurde sie stutzig. Die sonst so betriebsame Ortschaft war wie ausgestorben. Noch nicht einmal irgendwelche Geräusche drangen aus den zwei- oder mehrstöckigen Wohnhäusern.
Während sie zwischen diesen weißen, mit prächtigen Balkonen versehenen Bauwerken hindurchging, suchte sie vergeblich nach einer Erklärung für diese ungewohnte Stille. Es war ein ganz normaler Tag und keiner dieser Feiertage, die von den Amazonen mit dem Huldigen ihrer Göttinnen verbracht wurden. Die prunkvollen, aus hohen Säulen und marmornen Dächern bestehenden Tempel, an denen sie vorbeiging, waren deshalb auch allesamt menschenleer.
Wo waren dann also all ihre Schwestern? Gab es irgendeine Schlacht, von der sie nichts wusste? Der Feldzug gegen die Barbaren war doch abgesagt worden, noch bevor sie sich aufgemacht hatte, um das entlaufene Haustier wieder einzufangen.
Auf einer Kreuzung, in deren Mitte sich klares Wasser aus einem großen, runden Brunnen ergoss und kaskadenförmig an selbigem herunter plätscherte, blieb sie stehen. Sie hatte eine Bewegung zu ihrer Linken wahrgenommen. Doch es waren nur ein paar Männchen, die man mit der alltäglichen Säuberung und Pflege Femaltosas beauftragt hatte. Schweigend und mit gesenkten Häuptern, so wie es sich für das Mannsvolk gehörte, verrichteten sie ihre Arbeit. Einige fegten die Straßen, andere putzten die Fassaden der Gebäude und wieder andere kümmerten sich um die sorgsam arrangierten Blumenbeete, von denen eine Vielzahl das Stadtbild verschönerte. Die Amazonen legten halt großen Wert darauf, dass ihr urbanes Umfeld ebenso perfekt war wie sie selbst.
Tissha setzte ihren Weg in Richtung Stadtmitte und somit zum Palast der Königin fort.
Von dort drang bald ein lautes Raunen und Gemurmel zu ihr, das offenbar von einer großen Menschenmenge verursacht wurde. Irgendetwas Ungewöhnliches schien dort vor sich zu gehen und das erregte großes Interesse in ihr. Von der Neugier getrieben beschleunigte sie also ihren Schritt.
Sie durchquerte mehrere Parkanlagen, lief an dem beeindruckenden, von Arkaden umkränzten Amphitheater vorbei und erreichte zügig die Allee, die geradewegs zum Herrschaftssitz ihrer Mutter führte. Sorgsam zurechtgestutzte Zypressen und imposante Statuen, die zumeist berühmte Kriegerinnen darstellten, säumten abwechselnd diesen breiten Pfad. Erst nachdem sie diesem eine Weile lang gefolgt war, konnte sie die unzähligen Amazonen erkennen, die den weitläufigen Platz vor dem Palast bevölkerten. Scheinbar sämtliche Einwohnerinnen dieser Stadt hatten sich dort ohne ersichtlichen Grund versammelt.
Sie blieb einen Augenblick lang stehen und betrachtete verblüfft die vielen Hundert Frauen, die sie zum Großteil persönlich kannte. Deren Aussehen entsprach natürlich ausnahmslos dem gestrengen Schönheitsideal der Amazonen. So wie auch Tissha waren sie alle hochgewachsen, schlank und durchtrainiert, ohne dabei übermäßig muskulös zu wirken. An Oberweite besaßen sie angesichts ihrer grazilen Körper erstaunlich viel, doch nicht so viel, dass es zu üppig erschien oder die Ästhetik ihrer tadellosen Erscheinungen störte. Ihre allesamt anmutigen Gesichter, die samtene Haut und ihr volles, glänzendes Haar komplettierten dieses Bild typischer Amazonen. Makel oder Schönheitsfehler kannten die Angehörigen dieses Volkes nicht. Ihre Herkunft machte sie immun gegen Mängel dieser Art.
»Gibt es hier etwas umsonst?«, fragte Tissha eine ihrer Artgenossinnen, nachdem sie sich in das Getümmel begeben hatte. Es war Kihna, eine blond gelockte Kriegerin, an deren Seite sie schon oftmals gekämpft hatte. »Oder was treibt ihr alle hier?«
»Prinzessin!«, rief die blonde Amazone überrascht und aufgeregt. »Gut, dass Ihr hier seid. Etwas Außergewöhnliches geschieht gerade im Palast, etwas, das es vorher noch nie gegeben hat. Sossha ist mit ein paar anderen Kriegerinnen vor die Königin getreten, um einige Maßnahmen bezüglich der Verbesserung unserer Lebensbedingungen einzufordern.«
»Verbesserung unserer Lebensbedingungen?« Tissha sah verwirrt drein. Sie kannte Sossha sehr gut, schon als Kinder hatten sie zusammen gespielt. »Was gibt es denn an unserem Leben zu verbessern? Wir haben doch alles, was wir für ein sorgenfreies Dasein benötigen: Nahrung im Überfluss, eine wunderschöne, saubere Stadt, Kleidung und jede Menge Schminkutensilien. Die Männer erledigen jede anstrengende oder schmutzige Arbeit für uns, wenn sie sich nicht gerade um ein anderes Bedürfnis kümmern müssen, das unsereins so haben könnte. Was bitte soll man da noch verbessern?«
Kihna zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung! Ein paar Mädels haben aber erzählt, Sossha gäbe schon seit einigen Tagen seltsame Dinge von sich. Sie wolle sich für Gleichberechtigung einsetzen, hätte sie gemeint, was immer das auch bedeuten soll. Einige der Schwestern waren aber wohl ihrer Meinung und haben sich ihr angeschlossen. Vor einer Stunde sind sie dann gemeinsam in den Palast marschiert, um ihre Forderungen zu stellen.«
Die Blondine lachte laut auf. »Stellt Euch das doch nur einmal vor – gewöhnliche Amazonen nehmen sich das Recht heraus, irgendwelchen Blödsinn von der Herrscherin zu fordern. So eine Unverschämtheit hat es in unserer Geschichte bislang noch nie gegeben. Es würde mich nicht wundern, wenn Eure Mutter sie umgehend hinrichten ließe. Wenn wir Glück haben, werden sie ja vielleicht sofort hier auf diesem Platz gevierteilt.«
»Ach, deshalb seid ihr alle hier zusammengekommen«, vermutete Tissha. »Die Sensationsgier hat euch herbeigelockt.«
Ihre Gesprächspartnerin nickte eifrig. »Na klar! Ein solches Schauspiel will sich natürlich keine von uns entgehen lassen. Wir Amazonen sind Kriegerinnen – aber wir sind auch Frauen!«
Die Prinzessin lächelte, obwohl die Sorge um ihre Freundin aus Kindheitstagen sie bereits ergriffen hatte. Sollte es Sossha tatsächlich gewagt haben, die Königin mit irgendwelchen unsinnigen Anliegen zu behelligen, war es um ihr Weiterleben wahrhaftig nicht gut bestellt. Ihre Mutter war beileibe nicht für ihre Nachsicht oder Mildtätigkeit bekannt.
Ohne weitere Verzögerung bahnte sie sich deshalb ihren Weg durch die Menge zum Palast, dem beeindruckendsten und gewaltigsten Bauwerk der Stadt. Mächtige Säulen umgaben diesen rechteckigen Bau aus weißem, grau geädertem Marmor, der auf einem hohen, reich ornamentierten Sockel ruhte. Sie trugen das flache Satteldach, dessen Stirnseite mit kunstvollen, lebensgroßen Reliefs verschiedener Göttinnen und legendärer Kriegerinnen verziert war. All das hatte solch enorme Ausmaße, dass es bei niedrigem Stand der Sonne einen großen Teil der Stadt in Schatten tauchte.
Dieser Pracht jedoch keinerlei Aufmerksamkeit schenkend hastete Tissha die breite Treppe empor, die zum Eingang des Palastes führte. Die zwei Amazonen, die das riesige Tor flankierten, standen bei ihrem Anblick stramm und salutierten, indem sie das untere Ende ihrer langen Speere einmal auf den Boden schlugen. Ihre Augen blickten dabei stur geradeaus an der Prinzessin vorbei. Auch ihre Köpfe, auf denen sie bronzene, mit einem Kamm aus Pferdehaar verzierte Helme trugen, verharrten starr und regungslos.
Dieses Gebaren gehörte ebenso zu ihrer Tätigkeit als Palastwache wie ihre Gewandung, die sich deutlich von der herkömmlichen Kleidung der Amazonen unterschied. Üblicherweise trugen die Angehörigen dieses Volkes leichte, recht knappe Lederrüstungen oder weiße, nicht immer blickdichte Tuniken, die ihnen maximal bis zu den Knien reichten. Lederstiefel oder hoch geschnürte Sandalen waren indes das verbreitetste Schuhwerk. Die beiden Wächterinnen mussten jedoch Schilde und Harnische aus Metall tragen. Allerdings bedeckten diese Rüstungen auch nur einen äußerst geringen Teil der gesamten Körperfläche. Ihren Nutzen im Kampf hätte deshalb wohl auch jeder halbwegs erfahrene Krieger infrage gestellt.
Nachdem Tissha das Tor durchschritten und den Thronsaal betreten hatte, vernahm sie auch schon das unverkennbar durchdringende, enervierende Geräusch streitender Amazonen. Auf der gegenüberliegenden Seite des pompösen, über fünfzig Meter langen Saals sah sie ihre Mutter auf ihrem goldenen Thron sitzen. Ein Dutzend hektisch plappernder, wild gestikulierender Frauen stand vor der Königin. Diese hatte ihren rechten Ellenbogen auf die Armlehne gestützt und ihre Stirn in ihre Handfläche gebettet. Tissha kannte sie gut genug, um zu wissen, dass diese Körperhaltung unter Umständen das erste Anzeichen eines bevorstehenden Blutvergießens sein konnte.
Mit großen Schritten eilte sie darum dem Thron entgegen. Der widerhallende Klang, den ihre Stiefel auf dem spiegelglatten Marmorboden verursachten, ließ ihre Mutter aufblicken und alle anderen Anwesenden verstummen.
»Meine Tochter!« Königin Khelea atmete erleichtert auf. »Wie froh ich bin, dich zu sehen. Bitte befreie mich von diesen hohlen Tussen, bevor ich ihnen eigenhändig die Hälse umdrehe!«
Die anwesenden Amazonen sahen sie entrüstet an.
»Verzeiht, Eure Majestät, aber so despektierlich dürft selbst Ihr uns nicht behandeln!«, echauffierte sich Sossha.
Wie Tissha es von ihr gewohnt war, trug sie eine schwarze, mit Nieten besetzte Lederrüstung und dazu passende, hohe Stiefel. Zusammen mit ihren feuerroten Haaren, die sie straff nach hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, verlieh ihr dieser Aufzug ein recht strenges Aussehen.
Die Königin in ihrer blütenweißen, mit silbernen Stickereien versehenen Robe schaffte es dennoch, wesentlich mehr Dominanz auszustrahlen. Jede einzelne Faser ihres Körpers schien die Verkörperung herrschaftlicher Macht und Autorität zu sein.
»Schweig, Sossha!«, befahl sie. »Du stehst ohnehin schon kurz davor, ein paar deiner Gliedmaßen einzubüßen. Die Meute vor dem Palast wartet schon sehnsüchtig darauf, dich in möglichst viele Teile zerlegt bewundern zu dürfen.«
»Jetzt beruhigt euch alle mal ein bisschen«, schlug Tissha vor, während sie sich neben den Thron und somit an die Seite der Königin stellte. »Um was geht es denn hier überhaupt?«
Ihre Mutter stieß ein verächtliches und von Herzen kommendes Schnaufen aus. Obwohl sie schon fast ein halbes Jahrhundert alt war, gab es in der tiefschwarzen Mähne auf ihrem Kopf kein einziges graues Haar. Nach Falten suchte man in ihrem ebenmäßigen Gesicht ebenfalls vergebens. Nur etwas härtere, reifere Züge hatten die Jahre in ihrem Gesicht hinterlassen, was sie zwar von den jüngeren Frauen unterschied, ihre Attraktivität aber in keiner Weise schmälerte. Körperlicher Verfall und das Vergehen von Schönheit setzte bei Amazonen halt erst nach dem Tod ein.
»Ja, Sossha«, sagte sie grimmig. »Um was geht es denn hier eigentlich? Sei doch so gut und erkläre es meiner Tochter. Warum seid ihr noch mal hergekommen?«
Die rothaarige Amazone räusperte sich und dachte kurz nach, als würde sie einen auswendig gelernten Text aus ihrem Gedächtnis abrufen. »Wir sind hierhergekommen, um uns für die Einsetzung einer demokratisch gewählten Gleichstellungsbeauftragten auszusprechen. Für die Förderung und Durchsetzung unserer Interessen halten wir ein solches Amt für unabdingbar. Die Gleichberechtigung der Frau in unserer Gesellschaft muss vorangetrieben werden.«
»Genau!«, rief eine brünette Kriegerin zu ihrer Linken. Sie reckte ihre rechte Faust in die Luft. »Für den Feminismus und gegen das Patriarchat!«
Ihre Begleiterinnen begannen zu applaudieren, einige gaben auch Rufe der Zustimmung von sich. Die hohen Wände des Saals reflektierten und verstärkten diese Geräusche, sodass sie zu einem ohrenbetäubenden Lärm wurden.
Tissha warf der Königin einen fragenden Blick zu. Doch Khelea blickte nur ebenso fragend und hochgradig genervt zurück. Sogar einen Ausdruck der Ratlosigkeit glaubte die Prinzessin in den Augen ihrer Mutter erkennen zu können. Warum sich diese noch so ruhig verhielt und nicht schon längst ein paar Hinrichtungen befohlen hatte, war Tissha ein Rätsel.
»Gleichberechtigung der Frau in unserer Gesellschaft«, wiederholte sie langsam die Worte Sosshas, so als würde sie sich jeden Buchstaben davon auf der Zunge zergehen lassen. »Falls es euch entgangen sein sollte – unsere Gesellschaft besteht eigentlich nur aus Frauen! Wer soll denn da ungleich behandelt werden? Wir halten uns Männer als Haustiere und Sklaven, wenn die jetzt hier stehen würden, könnte ich das ja noch verstehen.« Sie wandte sich an die Amazone mit dem braunen Haar. »Und was bitte ist ein Feminiesmuß oder ein Patz… Patzi… Patziachat?«
»Keine Ahnung«, lautete die Antwort. »Ist mir gerade so eingefallen. Aber ist auch egal. Wir brauchen auf jeden Fall jemanden, der sich für unsere Rechte einsetzt. In Zukunft könnte es ja irgendwie zu Diskriminierungen oder Herabwürdigungen von Frauen kommen. Dann muss sich diese Person dem entschlossen entgegenstellen.«
»In Zukunft?« Sossha zeigte ein hohes Maß an Empörung. »Was heißt denn hier in Zukunft? Verzeih, Schwester, aber es liegt ja wohl schon heute einiges im Argen. Warum, zum Beispiel, müssen wir alle so leicht bekleidet rumlaufen? Wir sind doch nicht dafür da, um irgendwelche voyeuristischen Neigungen zu befriedigen!«
Wieder erfüllte zustimmendes Murmeln den Saal.
»Ihr könnt euch doch kleiden wie ihr wollt«, wandte die Königin ein. »Was kann denn ich dafür, dass ihr alle den gleichen Modegeschmack habt? Von mir aus könnt ihr auch bodenlange Gewänder oder Hosen tragen. Die Säcke, in denen unsere Männchen Kartoffeln transportieren, würden euch bestimmt auch gut stehen.«
Sossha schüttelte den Kopf. »Hosen oder lange Gewänder? Bei den Temperaturen draußen? Nee, das ist viel zu warm und kämpfen kann man in solchen Klamotten auch nicht anständig.« Sie sah an sich herab und strich sanft über ihre lederne Kleidung. Ganz offensichtlich fand sie selbst viel Gefallen an selbiger. »Aber unsere freizügige Bekleidung gibt den Männern noch lange nicht das Recht, uns mit lüsternen Blicken zu belästigen. Ihr solltet mal sehen, wie mich die Haustiere manchmal aus ihren Käfigen heraus anstarren – einfach entwürdigend.«
»Na ja«, meldete sich nun eine weitere Amazone zu Wort. Die Tunika, die sie trug, war bis zu ihrem Bauchnabel hin ausgeschnitten. »Das stört mich eigentlich weniger. Wenn es mir dann doch mal zu viel wird, bekommt der Bursche einfach ein paar Hiebe mit der Peitsche übergebraten. Wenn er jedoch ansehnlich ist, nehme ich ihn meist mit in meine Gemächer.«
Die anderen Amazonen kicherten leise, doch Sossha schien nicht amüsiert zu sein.
»Ja aber das kann es doch nicht sein!«, ereiferte sie sich. »Außer roher Gewalt haben wir doch keinerlei Handhabe, um sie in ihre Schranken zu weisen. Na gut, vielleicht noch Essensentzug, Strafarbeiten oder andere seelische Folter – aber das war es dann auch schon. Diese Burschen haben einfach zu wenig Rechte. Man beraubt uns somit der Möglichkeit, sie mit rechtlichen Einschränkungen zu maßregeln oder uns wenigstens für ein solches Vorgehen zu engagieren. Vielleicht sollten wir mal darüber reden, wie wir dies ändern können.«
Erneut fanden Sosshas Worte Anklang bei ihren Mitstreiterinnen. Neben sich vernahm Tissha das leise Aufseufzen ihrer Mutter.
»Wartet!« Die Prinzessin ließ ihren Blick über die vor ihr stehenden Amazonen gleiten. »Ihr wollt den Männern mehr Rechte geben, um euch dann dafür einsetzen zu können, dass man ihnen diese wieder beschneidet? Missstände erschaffen, um sich gegen sie auflehnen zu können – wie bekloppt ist das denn bitte?«
Da ihr bereits der Nacken vom vielen Kopfschütteln schmerzte, wartete sie nicht auf eine Antwort. Sie hatte ohnehin mehr als genug von dieser sinnfreien Diskussion.
»Überhaupt ist eure ganze Vorstellung hier eine einzige Lachnummer! Eure Argumente sind nur ein großer Haufen Koboldkacke! Wir Frauen herrschen uneingeschränkt über das Land der Amazonen – jetzt und auch in Zukunft. Wir herrschen über das Land und über jeden einzelnen seiner männlichen Einwohner. Wir können tun und lassen, was wir wollen; wir können anziehen, was wir wollen und wir können unsere Haustiere behandeln, wie wir wollen. Wie kommt ihr durchgeknallten Weiber also auf diese völlig hirnrissige Idee, irgendeine von uns könnte dem anderen Geschlecht gegenüber benachteiligt werden? Gleichstellungsbeauftragte – was genau stimmt denn mit euch nicht?«