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»Was ist hier los?«, wollte ich wissen. »Warum ist das Kaff wie ausgestorben?«
»Weil es Sonntagmorgen ist, du Trottel«, enträtselte Ombringer dieses Geheimnis unerwartet schnell. »Wahrscheinlich der erste, den du nicht verpennst.«
Mit einem Stoß in den Rücken machte er mir klar, dass ich mich endlich in Bewegung setzen sollte und so marschierten wir drei nach Norden, in Richtung Sheriffbüro, los.
Die wenigen braven Bürger, denen wir unterwegs begegneten, bedachten mich mit abwertenden Blicken und dem Schütteln ihrer biederen, rechtschaffenen Häupter, in denen es, meiner Meinung nach, schrecklich tugendhaft und öde zugehen musste. Vermutlich erweckte mein wenig adretter Kleidungsstil und der augenscheinliche Umstand, dass ich gerade abgeführt wurde, ihre Missbilligung. Ähnliche Reaktionen auf meinen Anblick war ich allerdings schon gewohnt. Wie immer erwiderte ich diese mit einem freundlichen Ihr-könnt-mich-mal-Lächeln, das von Herzen kam.
»Hast du schon meine neue Knarre gesehen?«, fragte der Sheriff nach einer Weile, in der wir schweigend nebeneinander hergegangen waren. Mit stolzgeschwellter Brust hielt er mir sein Gewehr unter die Nase. »Ist ein echtes iRifle von Peach – war verflucht teuer und ich musste eine Ewigkeit beim Waffenhändler dafür anstehen.«
Mit einem kurzen Schulterzucken tat ich mein Desinteresse kund. »Muss ich nicht haben. Da bezahlt man doch nur den Namen. Andere, preiswertere Gewehre haben die gleichen Funktionen und seltener Ladehemmungen.«
Meine Meinung enttäuschte McHardy offensichtlich.
»Du hast doch keine Ahnung, Large!« Schmollend ließ er sein Gewehr wieder sinken. »Du warst zwar in der Army, hast aber trotzdem keine Ahnung! Ein Revolverheld der keine Ahnung von guten Gewehren hat – unglaublich!«
Sein Deputy stieß ein verächtliches Schnaufen aus »Revolverheld? Der Suffkopp? Der hat seine Kanone doch das letzte mal im Krieg benutzt und das ist Jahre her.«
Zu meinem großen Bedauern musste ich dem Widerling in diesem Punkt Recht geben. Seit ich aus der Army zurück in meine Heimatstadt gekommen war, hatten sich keinerlei Gelegenheiten ergeben, mir meinen Lebensunterhalt mit dem Revolver zu verdienen. In ganz Copperhole gab es keinen Bedarf an professionellen, mietbaren Schützen. Bewaffnete Auseinandersetzungen gab es kaum und weder die Kupferminen noch die Wagentrecks, welche das Kupfer aus der Stadt brachten, waren hochwertig oder bedeutend genug, um bewacht werden zu müssen.
Meine außergewöhnliche Begabung im Umgang mit Schusswaffen blieb daher völlig ungenutzt an diesem viel zu friedvollen Ort. Dabei machte mich dieses einzigartige Talent – ohne Übertreibung – zu dem wohl besten Schützen in ganz Avaritia. Entdeckt hatte ich diese Fähigkeit erst nach meinem Eintritt in die Army, da ich nie zuvor eine Waffe in den Händen gehalten hatte. Sie ermöglichte es mir, egal mit welcher Schusswaffe, immer mein Ziel zu treffen, egal ob ich nüchtern war oder volltrunken und egal unter welchen Umständen. Mühe musste ich mir dabei keine geben, konzentrieren musste ich mich auch nicht und geübt hatte ich es erst recht noch nie. Ich musste einfach nur daran denken, etwas oder jemanden zu treffen. Fast zeitgleich mit dem Beenden dieses Gedankens war es dann auch schon passiert. All dies geschah automatisch, ohne mein Zutun und oft schon hatte ich hinterher verwundert auf meine Waffe geblickt, ohne mich daran erinnern zu können, wie ich sie gezogen und abgefeuert hatte.
Im Krieg war mir dieses Talent natürlich sehr gelegen gekommen und es hatte mir viel Anerkennung und Bewunderung eingebracht. Aufgrund meines ausgeprägten Problems mit Autoritäten – wahrscheinlich bedingt durch das Fehlen einer Vaterfigur während meiner Kindheit...Bla Bla Bla – und meinem Unvermögen, auch mal die große Klappe zu halten, hatte ich es in der militärischen Hierarchie dennoch nicht sehr weit gebracht. Als mittelloser Ex-Private war ich bei Kriegsende nach Copperhole zurückgekehrt, mit wenig Glanz und ganz ohne Gloria.
Meine finanzielle Situation konnte man deshalb getrost als katastrophal bezeichnen, zumal ich die paar Dollars, welche ich mir borgte, erschnorrte oder mit irgendwelchen Handlangerjobs erarbeitete, umgehend wieder in die lokale Wirtschaft oder besser gesagt den örtlichen Saloon investierte.
»So kann es mit dir nicht weitergehen«, bemerkte McHardy, so als hätte er meine Gedanken gelesen. Ich glaubte sogar, eine gewisse Besorgnis aus seiner Stimme heraushören zu können. »Du brauchst endlich einen vernünftigen Job. Warum arbeitest du nicht in den Minen, so wie die meisten anderen Zwerge auch?«
Eigentlich verspürte ich überhaupt keine Lust, solch eine Diskussion zu führen. Ich war voll und ganz damit beschäftigt, Elsas Tanzwut zu zügeln.
Dennoch antwortete ich wahrheitsgemäß. »Die Stollen sind viel zu niedrig für mich. Außerdem habe ich keinen Schimmer vom Bergbau. Schnell ziehen und immer treffen – das ist es, was ich kann.«
Der Sheriff nickte. »Und das kannst du verdammt gut. Wahrscheinlich bist du der beste Schütze, den ich je gesehen habe, doch hier wirst du damit keinen lausigen Cent verdienen. In den größeren Städten im Osten oder Süden könntest du dir mit deinen Fähigkeiten echt einen Namen als Revolverheld machen, so wie Basilisk Bill oder Doc Gargoyle. Hast du schon mal darüber nachgedacht, von hier fortzugehen?«
Natürlich hatte ich das. Fast jeden Tag war mir dieser Gedanke mindestens fünf Mal durch den Kopf geschossen wie eine Gewehrkugel, während ich meine Zeit mit Saufen und Herumlungern verschwendet hatte. Doch zum einen fühlte ich mich in diesem Kaff trotz allem recht wohl, zum anderen hatten mir der Müßiggang und der regelmäßige Alkoholkonsum einen Großteil meiner Abenteuerlust und Entscheidungsfreudigkeit geraubt. Ich hatte ja noch nicht einmal ein Pferd und ohne die entsprechende Barschaft in die Welt hinauszuziehen, erschien mir ebenfalls nur wenig verlockend.
Ombringer hingegen war von dieser Idee natürlich sehr angetan. »Es wäre das Beste, was dieser Stadt passieren könnte, wenn sich dieser Penner endlich verpissen würde. Zu den verkommenen Menschen im Osten würde dieses lange Elend auch hervorragend passen.«
Ich lächelte ihn an. »Dabei würde ich dich doch so sehr vermissen! Vielleicht ist es sogar dein dämliches, debiles Grinsen, was mich hier hält.«
An dieser Stelle mussten wir unser freundschaftliches Gespräch leider beenden, da wir unser Ziel erreicht hatten, was mir wohl einen weiteren Hieb mit dem Gewehrkolben oder eine andere Aufmerksamkeit des Deputys ersparte.
Das Büro des Sheriffs war eines der wenigen Gebäude in Copperhole, dessen Wände aus massiven Backsteinen bestand. Angesichts der Tatsache, dass sich in ihm auch Arrestzellen befanden, war das auch durchaus sinnvoll. Ansonsten war der Flachbau völlig schmucklos, mal abgesehen von dem uralten Holzschild über der Tür, auf dem in verblichenen Buchstaben Sheriffs Office geschrieben stand.
»Du kennst dich ja hier aus«, bemerkte McHardy, als wir seine Amtsstube betraten. Deren Einrichtung bestand lediglich aus zwei Schreibtischen mit Stühlen, ein paar Regalen und einem üppig gefüllten Waffenschrank. »Also geh schon mal vor, ich schließe gleich hinter dir ab.«
Er entledigte sich seines Hutes und suchte in der Schublade seines Schreibtisches nach den Zellenschlüsseln. Ombringer parkte seinen dicken Hintern indes mit einem zufriedenen Seufzer auf seinem Stuhl.
Ich schlenderte derweil quer durch das Büro in den hinteren Teil des Gebäudes, betrat die mir sehr vertraute Zelle und ließ mich auf die ebenso vertraute Pritsche darin fallen. Wie angekündigt folgte mir McHardy kurz darauf und schloss die Zellentür hinter mir ab.
»Wie lange?«, wollte ich wissen und irgendwie ahnte ich schon, dass mir die Antwort darauf nicht gefallen würde.
»Lange genug um deine Sucht nach Fusel vollständig zu kurieren«, lautete dann auch die erschreckende Prognose des Sheriffs. »Der Friedensrichter kommt in drei Wochen und wird dann entscheiden, was mit dir passieren soll. So lange bist du auf jeden Fall unser Gast.«
Bei dem Gedanken daran, mindestens drei Wochen auf dem Trockenen zu sitzen, befiel mich ein leichtes Gefühl der Panik. Auch die Aussicht auf regelmäßige, kostenlose Mahlzeiten konnte dieses Gefühl nicht schmälern. Zwar ließ Sheriff McHardy manchmal mit sich reden – ganz im Gegensatz zu seinem fiesen Deputy –, doch es würde einiges an Überzeugungskraft kosten, ihm den ein oder anderen Schluck Whisky abzuschwatzen.
Trübe Aussichten also, mit denen ich mich auf die Pritsche niederlegte, um mir und Elsa die dringend benötigte Ruhe zu gönnen. Unter gleichmäßig abnehmendem Pochen in meinen Schläfen gelang es mir dennoch, langsam in den Schlaf zu gleiten.
Dass die seltsame, super spannende und unbedingt lesenswerte Geschichte, welche ich hier erzählen möchte, bereits in weit entfernten Teilen des Landes ihren Anfang genommen hatte, davon ahnte ich natürlich nichts.
Um jeglicher Klugscheißerei vorzubeugen sei erwähnt, dass ich mir von den meisten Geschehnissen, bei denen ich nicht zugegen war, bis ins kleinste Detail berichten ließ, um sie hier niederschreiben zu können. Den Rest habe ich mir irgendwie zusammengereimt – der geneigte Leser wird damit schon klarkommen.
3
Während ich in Copperhole schnarchend und verkatert auf einer harten Pritsche lag, lag weit im Osten ein Elf auf noch wesentlich härterem Felsgestein.
Seit Stunden schon verharrte er bäuchlings liegend am Rand eines hoch gelegenen, ausladenden Felsvorsprunges. Von hier aus beobachtete er aufmerksam das Geschehen unter sich, welches in solch großer Entfernung stattfand, dass nur die enorm scharfen Augen eines Elfen Einzelheiten und Details erspähen konnten.
Ungeachtet der Hitze und seiner unbequemen Position würde er noch länger hier ausharren, solange bis ein anderer Elf aus seinem Dorf kommen und seinen Platz als Späher einnehmen würde. So hatte es der Häuptling befohlen und so wurde es auch gemacht.
Die Gebirgskette inmitten der Prärie war ideal für dieses Unterfangen, denn von hier konnte man fast das ganze Gebiet des Moonytoad-Stammes überblicken. Selbiges bestand fast nur aus spärlich bewachsener, ebener Graslandschaft und erstreckte sich fast bis zum Seven-Hills-Gebirge, weit im Westen.
Viele Generationen lang hatte es hier, außer den Moonytoads, nur Bisons, Koyoten und irgendwelche Reptilien gegeben. Doch seit einigen Wochen tummelten sich hier Wesen, die seit jeher das Misstrauen und Argwohn eines jeden Elfen weckten. Menschen und Zwerge waren es, die das Land zu Tausenden mit ihrer Anwesenheit besudelten. Mit Pferdewagen waren sie gekommen, so schwer mit Holz, Metall und Werkzeug beladen, dass ihre Räder tiefe Narben in der Erde hinterlassen hatten. Dann hatten sie ihre Lager aufgeschlagen, Unterkünfte für Arbeiter sowie Stauräume für Unmengen an Material gebaut. Um die Versorgung mit ausreichend Wasser zu gewährleisten, hatten sie tiefe Brunnen in den Boden getrieben. So war das Camp schon bald zu einer kleinen Siedlung aus Zelten, Hütten und anderen Holzkonstruktionen herangewachsen.
Doch das war nur der Anfang ihrer Verbrechen gewesen, die sie in den Augen der Elfen an der Natur begingen. Sie malträtierten den Boden mit Spitzhacken und Schaufeln, sprengten Felsen, die ihnen im Weg waren und formten das Land rücksichtslos nach ihren Bedürfnissen. Über viele hundert Meilen hinweg verunstalteten Sie das Antlitz der Steppe mit dem, was Sie Bahnschienen nannten und all das geschah nur, damit das metallene Monstrum namens Eisenbahn in naher Zukunft durch die Prärie würde fahren und sich regelmäßig würde verspäten können.
Dass dies ungestört im Land der Elfen geschehen durfte, war Inhalt des Friedensvertrages, welchen man den Elfen nach ihrer Niederlage im großen Krieg aufgezwungen hatte. Neben weiten Teilen ihres Landes hatte man allen Stämmen das Einverständnis abgepresst, die Eisenbahnlinie unbehelligt durch das ihnen noch verbliebene Land bauen zu dürfen. Ansonsten hätte es keinen Frieden zwischen den Elfen und der Allianz aus Zwergen und Menschen gegeben.
Dass sich diese Wesen unbeobachtet in ihrem Gebiet bewegen durften, davon stand allerdings nichts in dem Vertrag und deshalb sandten die Moonytoads regelmäßig ihre Späher aus. Diese sollten die Bauarbeiten an den Gleisen beobachten und darüber wachen, dass die unerwünschten Eindringlinge eben jenem Gebirgszug nicht zu nahe kamen, in dessen Höhen die Späher ihren Posten bezogen hatten.
Tief unter diesen Bergen nämlich – die Elfen nannten sie die Säulen der Unvergänglichkeit – befand sich das bedeutsamste Heiligtum der gesamten elfischen Rasse. Hinter einem magisch versiegelten Tor, in einem gigantischen Labyrinth aus Höhlen, Gängen und Tunneln, lagen hier die Grabstätten der Ältesten verborgen, den Urahnen und Gründern aller Stämme Avaritias. So was von dermaßen total uneingeschränkt absolut heilig und unantastbar waren diese Gräber, dass kein lebendes Wesen ihrer je ansichtig werden durfte. Nicht einmal den einflussreichsten Häuptlingen oder Schamanen der Elfen war es gestattet, diese Höhlen zu betreten.
Von den mannigfaltigen Mysterien, Wundern und Gefahren dieses in finsteren Tiefen schlummernden Heiligtums wurde in den alten Schriftrollen berichtet. Doch auch diese wurden von uralten, weisen Männern gehütet, als seien sie ein Teil ihrer selbst. Wer diese Männer waren und wo sie die Schriftrollen verborgen hielten, das war – wer hätte das gedacht – ein total uneingeschränkt absolut geheimes Geheimnis.
Über die Säulen der Unvergänglichkeit zu wachen, dazu waren deshalb nur die angesehensten und besten Krieger des Moonytoad-Stammes auserkoren.
Und das waren die Greifenreiter.
Der Elf zog sich, immer noch auf dem Bauch liegend, ein Stück vom Rand des Felsvorsprunges zurück. Dann warf er einen Blick über die Schulter nach hinten. Dort saß sein Greif. Offensichtlich gelangweilt, doch artig dem Befehl seines Herren folgend, verhielt er sich ruhig und regte sich kaum. Nur hin und wieder gähnte er ausgiebig und fuhr sich mit einer seiner Vorderpfoten über Augen und Schnabel, was trotz seiner enormen Größe beinahe possierlich wirkte.
Der Elf lächelte. Er liebte dieses prächtige Tier von ganzem Herzen. Eine tiefgehende, nahezu mystische Verbindung mit dem Greifen hatte der Elf bereits empfunden, noch bevor dieser das Licht dieser Welt erblickt hatte. Schon als er das Griffogotchi – so die Bezeichnung der Elfen für Greifeneier – vor langer Zeit das erste mal in Händen gehalten hatte, waren in ihm diese Gefühle erwacht. Den Greifen großzuziehen und aus ihm ein folgsames Reittier zu machen, war ihm aufgrund dessen auch ungewöhnlich leicht gefallen und mithilfe seines gefiederten Gefährten hatte er vor einigen Jahren den Rang des Greifenreiters erlangt. Ein strenges, langwieriges Auswahlverfahren hatten sie gemeinsam überstehen müssen, um dieses Ziel zu erreichen. Denn nicht jeder Elf, der einen Greif besaß, durfte diesen Titel tragen.
Der Stamm der Moonytoads sucht den nächsten Greifenreiter – so lautete die traditionelle Bezeichnung dieses althergebrachten Verfahrens, in dem alle Anwärter eine Vielzahl schwieriger Aufgaben zu bewältigen hatten. Vier Stammesältere beurteilten anschließend die Leistungen eines jeden Prüflings. Sie entschieden darüber, wer qualifiziert genug war, um in die Endrunde zu kommen. In dieser wählten sämtliche Stammesmitglieder, Männer, Frauen und auch Kinder, schließlich den fähigsten Elfenkrieger unter den Bewerbern aus. Natürlich spielte bei dieser Wahl auch die Beliebtheit des Kandidaten eine Rolle - vor allem die jungen Squaws ließen sich eher vom Aussehen als von den Fähigkeiten selbiger beeinflussen.
Mit Bravour hatte der Elf all diese Hürden genommen und war mit einer überragenden Mehrheit zum neuen Greifenreiter gewählt worden. Nicht zuletzt hatte er das der hohen Lernfähigkeit und Begabung seines Reittieres sowie der tiefen Verbundenheit mit ihm zu verdanken.
Doch nicht nur der außergewöhnliche Intellekt seines Greifen und seine überdurchschnittliche Größe waren es, die ihn deutlich von seinen Artgenossen unterschieden. Auch nicht die ungewöhnliche, samtschwarze Färbung seines Gefieders, welches Kopf und Flügel bedeckte, oder das ebenso schwarze Körperfell war sein ungewöhnlichstes Merkmal. Dieser Greif besaß eine Fähigkeit, die absolut einzigartig war unter den Wesen seiner Gattung: Er konnte sprechen.
Leider hatte er dies bislang ausschließlich im Beisein seines Besitzers getan und niemand glaubte dessen Erzählungen darüber – meist verursachten diese nur Schmunzeln oder gar schallendes Gelächter. Der Elf selbst hätte es wohl nicht geglaubt, hätte er es nicht schon oftmals miterlebt. Wenn der Greif aufgeregt war oder ihn andere starke Emotionen ereilten, entrang sich seinem Schnabel ein klar artikuliertes Wort. Wann und wo er dieses Wort gelernt hatte und warum es anscheinend nur dieses eine war, welches er aussprechen konnte, das war seinem Herrn jedoch ein Rätsel.
Ein aus der Ferne zu ihm dringendes Geräusch – ein Schnaufen und Stampfen, begleitet von einem steten Dröhnen – riss den Elfen aus seinen Gedanken. Eine leichte Vibration, welche das gesamte Gebirge und die angrenzende Steppe zu erfassen schien, ging mit diesem Geräusch einher. Schnell robbte er zurück an den Rand des Plateaus, von wo aus er einen Zug beobachten konnte, der sich aus dem Westen über die bereits fertiggestellte Bahnstrecke näherte.
Es war nicht der erste Zug, den der Elf zu Gesicht bekam. Beinahe täglich zog eine solche schwarz-rot lackierte Dampflok eine Vielzahl nahezu identisch aussehender Waggons voller Material zur Baustelle. Doch der Anblick dieser mechanischen Abscheulichkeiten erschütterte ihn jedes Mal aufs Neue. Warum nur, so fragte er sich abermals, erschufen vernunftbegabte Wesen so widernatürliche Dinge, die ihrer Umwelt in solch hohem Maße Schaden zufügen? Sahen sie denn nicht die dicken Dampfwolken, mit denen dieses Ungetüm den sonst makellos blauen Himmel verdunkelte? Rochen sie denn nicht diesen abscheulichen Gestank nach verbrannter Kohle, Holz und Öl, den es verströmte? Selbst jetzt schon reizte dieser Gestank seine empfindliche Nase, obwohl der Zug noch Meilen entfernt war.
Wahrscheinlich war es ihnen egal, schlussfolgerte der Elf. Dies bekräftigte ihn in seiner Meinung, dass Menschen und Zwerge skrupellose, unsensible Wesen waren, die sich nur von ihrer Gier, ihrer Bequemlichkeit und ihrem absurden Glauben an den technischen Fortschritt leiten ließen.
»Richtige Husos«, benutzte der Elf flüsternd eine unter den Moonytoads übliche Beleidigung, welche die Nachkommen einer wenig keuschen Frau beschreibt. »Irgendwann werden die Götter sie für all ihre Frevel bestrafen. Früher oder später, auf die ein oder andere Art – aber echt ey!«
Der Zug brauchte nicht lange, um sein Ziel zu erreichen. Als ob dieser Koloss nicht schon genug Lärm verursacht hätte, betätigte der Lokführer die Dampfpfeife, bevor er bremste, um die Arbeiter an den Gleisen zu warnen. Diese wichen ein paar Schritte zurück und mit lautem Quietschen und Kreischen kam der Zug schließlich inmitten der Baustelle zum Stehen.
Zunächst konnte der elfische Späher nichts Außergewöhnliches an dem Güterzug entdecken. Dessen Zugmaschine verpestete weiterhin, leise zischend und qualmend, die Luft.
Doch dann lenkte ein lautes Poltern seine Aufmerksamkeit auf einen der schmucklosen, hölzernen Frachtwaggons, auf dessen Außenseite irgendjemand – wahrscheinlich irgendein Halbstarker – obszöne Malereien und Sprüche mit weißer Farbe hinterlassen hatte. Etwas bewegte sich in diesem Waggon, etwas, das so groß war, dass es ihn trotz seiner Größe hin und her schwanken ließ.
Seine Vermutung, dass es sich möglicherweise um Pferde handeln könnte, verwarf der Elf schnell wieder. Mithilfe seiner geschulten Sinne blendete er alle anderen Geräusche der Umgebung aus und statt Wiehern oder Hufschlägen vernahm er nur ein Knurren, das alles andere als freundlich klang.
Auch die anwesenden Arbeiter hatten Notiz von der ungewöhnlichen Fracht genommen. Schnell versammelten sie sich vor dem Waggon wie die Besucher eines Jahrmarktes vor der neuesten Attraktion, was das Interesse des Elfen noch steigerte.
Seine Neugier sollte befriedigt werden, als der Lokomotivführer – ein dicklicher Zwerg in blauer Latzhose mit einer albern aussehenden, blauen Kappe auf dem Kopf – seinen Führerstand verließ und durch die Horde Schaulustiger zu dem Waggon hinüberschlenderte. Er schloss das überdimensional große Schloss auf, welches die breite Schiebetür des Waggons gesichert hatte und schob selbige beiseite. Damit gab er den Blick frei auf die mächtige Gestalt, die im Inneren kauerte.
Ein Raunen ging durch die Menge
Obwohl die Sicht auf dieses Wesen bedingt durch dessen gekrümmte Haltung eingeschränkt war, konnte man erkennen, dass es bestimmt zweieinhalb mal so groß wie ein ausgewachsener Mensch war. Keinerlei Behaarung wies es auf und es besaß menschenähnliche, wenn auch wesentlich gröbere, Gesichtszüge.
Dem Elfen stockte für einen Moment der Atem. Diese Idioten hatten einen Oger gefangen, ein Geschöpf, das für seine Unberechenbarkeit ebenso bekannt war wie für seine Sturheit und seine enormen Körperkräfte. Wenn man ihnen ihre Ruhe ließ, hatte man von Ogern in der Regel nicht viel zu befürchten. Doch diese Narren hatten ihn seiner Ruhe beraubt.
Das war der erster Fehler, den sie begangen hatten.
Der zweite Fehler war es, den riesigen Burschen in einen für ihn viel zu kleinen Waggon zu pferchen. Wohl über Stunden hatte er in unbequemer Haltung dort hocken müssen, was seine Laune gewiss nicht gerade verbessert hatte.
Fehler Nummer drei war die offensichtliche Absicht, den Oger als Lastenschlepper oder anderweitige Arbeitskraft einsetzen zu wollen. Der Elf war sich sicher, die Reaktion auf den nächsten Fehler würde für ihn äußerst amüsant werden, für die Menschen und Zwerge dort unten allerdings bedeutend weniger.
Der Lokführer zog nun an der langen Kette, welche die Handgelenke des Ogers fesselte und gebot ihm so, den Waggon zu verlassen. Knurrend und grollend kam der Gigant dieser groben Aufforderung nach. Bis er seinen massigen Körper ins Freie gewuchtet hatte, dauerte es eine ganze Weile. Seine ausladende Körpermitte – eine enorme Wampe, die über seinem Lendenschurz hing und diesen von vorn fast verdeckte – behinderte ihn dabei nicht unwesentlich. Der Güterwaggon schaukelte, ächzte und knirschte bei jeder Bewegung des massigen Kerls. Als dieser ihn endlich verlassen hatte, gab der Wagen ein Geräusch von sich, das fast schon wie ein erleichtertes Seufzen klang.
»Nun komm schon, du sturer Fleischberg!«, maulte der Lokführer und zog erneut an der Kette.
Doch der riesige Bursche bewegte sich nun keinen Millimeter mehr. Wie angewurzelt blieb er vor dem Waggon stehen, über den er mühelos hinwegsehen konnte. Ausgiebig und lange schaute er sich erst einmal in seiner neuen Umgebung um. Irgendwie machte er dabei einen fast entspannten Eindruck, doch die hasserfüllten Blicke, mit denen er die anwesenden Arbeiter musterte, ließen nichts Gutes erahnen.
Ein weiterer Zwerg eilte dem Lokführer zu Hilfe, dann ein Mensch und schon bald waren es drei Menschen und drei Zwerge, die an der Kette zerrten. Das hatte allerdings nur zur Folge, dass die überproportional langen Arme des Ogers, welche beinahe bis zum Boden reichten, ein wenig nach vorne gezogen wurden. Es sah fast so aus, als würden sich die Arbeiter in einem Tauziehen mit dem kahlköpfigen Hünen messen.
Irgendwann verlor einer der zuschauenden Menschen die Geduld und was dann geschah, war Fehler Nummer vier – der letzte Fehler.
Der einfältige Kerl lief los, verschwand kurz in einem Zelt südlich der Gleise und kehrte dann mit einer Peitsche zurück. Mit dieser schlug er auf den Oger ein wie auf ein störrisches Rindvieh. Was für eine kolossal blöde Tat er damit begangen hatte, das wurde wohl selbst ihm sehr schnell und auf äußerst unangenehme Art und Weise bewusst.
Zornig brüllend und mit einem kurzen Ruck befreite der Oger seine Handgelenke von der Kette, woraufhin alle, die daran gezogen hatten, auf ihre Hinterteile fielen. Dann schritt er zu dem Peitschenschwinger hinüber. Mit einem einzigen, wie beiläufig wirkenden, von oben geführten Hieb verwandelte er dessen Kopf in einen Klumpen blutigen Matsch.