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Vor dem Haus erwartete mich eine Überraschung in Form einer mir bekannten, grünhäutigen Gestalt. Es war der Ork, der mir gemeinsam mit seinem Kollegen einen so herzlichen Empfang auf der Tolemak-Ranch bereitet hatte. Er stand da wie ein reuiger Sünder, seinen Sombrero mit beiden Händen vor dem Bauch haltend und nervös von einem Bein auf das andere tretend. Um ihn herum befanden sich unzählige, tiefschwarze Speichelflecken.
»Hallo Mister«, stammelte er. Beschämt schaute er dabei auf seine Stiefelspitzen. »Ich … ich wollte mich dafür 'tschuldigen, dass wir Sie für einen ollen Menschen gehalten haben.«
Ich sah von der Veranda auf ihn herab, denn offenbar wagte er es nicht, diese zu betreten. »Ich fand es eigentlich wesentlich unfreundlicher von euch, mich umlegen zu wollen«, stellte ich fest.
»Auch dafür möchte ich mich 'türlich 'tschuldigen.«
Er sah mich verlegen an. »Und ich möchte Sie auch noch was fragen.«
»Na dann schieß los«, forderte ich ihn auf.
Der Ork wich erschrocken zurück. »Nee, nee, ich möchte nicht auf Sie schießen! Ich weiß doch, dass Sie das viel besser können als ich. Bin doch nicht doof!«
Letzteres wagte ich ernsthaft zu bezweifeln. »Deine Frage – stell sie einfach.«
»Ich habe gehört, dass Sie die junge Miss Gundel suchen sollen. Ich würde Sie gerne begleiten. Wäre das möglich?«
Ich sah den Ork verwundert an. Mit solch einer Bitte hatte ich nicht gerechnet. »Und warum möchtest du das?«
»Ähm«, er senkte wieder seinen Blick, »an dem Abend als Miss Gundel entführt wurde, hatte ich Wache. Der Entführer hat mir voll eine übergebraten und dann hat er meine Schrotflinte geklaut. Ich will sie wiederhaben!«
»Du willst die Ranch verlassen und mir folgen, nur wegen einer Flinte?«, wunderte ich mich. »Ist die dir so wichtig?«
Der Ork nickte eifrig. »Oh ja! Mein Uropa hat sie gebaut und mein Vater … Äh … hat sie mir vermacht.«
Der Gedanke an seine gestohlene Waffe schien den Ork in Wut zu versetzen, denn seine Stimmlage änderte sich dementsprechend. »Sie gehört mir, nur mir! Sie ist mein Schatzzzz!« Den letzten Konsonant sprach er irgendwie komisch aus, etwas zu sehr in die Länge gezogenen. Danach wurde er jedoch wieder ruhiger. »Und da ist noch etwas ...« Er druckste herum, so als wäre dies ein Thema, über das er nicht wirklich sprechen wollte.
Mir mangelte es an Geduld, deshalb half ich ihm. »Du willst deinen Fehler von jenem Abend wiedergutmachen, nehme ich an?«
»Ja genau!« Er sah mich erstaunt an. »Sie sind aber wirklich schlau Mister! Ich war unvorsichtig und dumm an dem Abend. Ich schäme mich deshalb. Außerdem schaut mich Miss Ginvera deshalb immer ganz böse an.«
Ich grinste, ging die Treppe von der Veranda zu ihm hinab und schlug ihm auf die Schulter. »Das solltest du nicht persönlich nehmen, die schaut wahrscheinlich jeden so an.«
Auch im wulstigen Gesicht des Orks erschien nun ein Ausdruck der Belustigung. »Aber echt, ey! Sie ist ja auch eine Hexe!«
Obwohl es sich der grünhäutige Bursche nicht wirklich erlauben konnte, über das Aussehen anderer Leute zu urteilen, stimmte ich zu. »Eine Schönheit ist sie wahrlich nicht.«
Wie ein Verschwörer beugte sich der Ork nun zu mir.
»Das meine ich nicht«, flüsterte er. »Sie ist wirklich eine Hexe! Einige Jungs haben gesehen, wie sie mit Tieren spricht, andere, wie sie Sachen herbeigezaubert hat. Den Colonel soll sie sogar verhext haben, damit er sie heiratet. Blöde Hexe. Öde, blöde Hexe!«
Ich war nicht geneigt, diesem Getratsche unter Viehtreibern Glauben zu schenken.
»Ach was«, sagte ich deshalb. »Der Colonel wird schon seine Gründe haben, weshalb er mit ihr zusammenlebt. Auf dieser Welt gibt es wohl für jeden das passende Gegenstück. Wahrscheinlich gibt es irgendwo sogar ein Wesen, das einen Lapsus der Natur wie dich gerne haben könnte.«
»Sie sagen wirklich nette Sachen zu mir«, freute sich die Grünhaut wider Erwarten. »Das hat noch nie jemand getan. Ich würde wirklich gerne mit Ihnen gehen!«
Ich zögerte zunächst, dem Bitten des intellektuellen Rohrkrepierers nachzugeben. Für viel Abwechslung und Kurzweil auf meiner Reise würde die Konversation mit jemandem, der Konversation wahrscheinlich für Essen in Dosen hielt, wohl nicht sorgen. Angesichts der vielleicht vor mir liegenden Gefahren kam es mir jedoch in den Sinn, dass etwas zusätzliche Feuerkraft nicht schaden konnte.
»Wie heißt du eigentlich?«, wollte ich wissen.
»Merluzo Fuerte de la Raqueta«, lautete die Antwort.
»Und wie nennen dich deine Freunde?«
»Merluzo Fuerte de la Raqueta.«
Er hatte wohl keine Freunde, nahm ich an.
Nicht Willens, mir eine solche Litanei zu merken, entschied ich mich, ihn fortan Merl zu nennen.
»Dann hol mal dein Pferd, Merl, wir brechen sofort auf.«
7
Der Schwarze Vorsitzende hatte die materielle Welt verlassen.
Er spürte weder seinen Körper, der irgendwo an einem schwach beleuchteten Ort auf dem Boden saß, noch registrierte er irgendwas von dem, was um selbigen herum geschah. Natürlich hatte er vorher für die Sicherheit seines Leibes gesorgt und sämtliche Möglichkeiten einer Störung ausgeschlossen. Unsichtbare magische Fallen, die jedes nahende Lebewesen sofort zu Asche verwandeln würden, hatte er um sich herum positioniert. Zudem umgab ein Kraftfeld seinen Körper, das kein auf dieser Welt bekanntes Material durchdringen konnte. Wahrnehmbare Geräusche hatte er mittels Watte in den Ohren auf ein Minimum reduziert. Nur so war es ihm möglich, alle äußeren Sinnesreize zu blockieren und seinen Geist derart zu fokussieren, dass dieser sich gänzlich von der realen Welt und seiner fleischlichen Hülle lösen konnte.
Leicht war es dem Schwarzen Vorsitzenden trotzdem nicht gefallen, diese Reise bei Tag und zu solch ungewohnter Stunde anzutreten. Er zog es vor, solcherlei Tätigkeiten in der Stille der Nacht auszuüben. Die dafür unbedingt notwendige Konzentration konnte er dann wesentlich müheloser aufbringen. Zudem quälte ihn des Nachts nur selten seine Migräne, die ihn schon seit frühester Kindheit tagsüber oftmals heimsuchte.
Nahezu alle namhaften Heilkundigen Avaritias hatte er bereits konsultiert, um diese hämmernden, unregelmäßig auftretenden Schmerzen in seinem Schädel loszuwerden. Druiden, Schamanen und andere Zauberwirker der unterschiedlichsten Rassen hatten ihre Heilzauber schon auf ihn gewirkt. Doch nichts hatte ihn von dieser Geißel befreien können.
Wahrscheinlich war es die enorme magische Kraft in ihm, die diesen Schmerz verursachte – diese Vermutung hatte einst ein Medizinmann der Bergtrolle geäußert. Dessen Ausführungen zufolge reizten die pulsierenden, mystischen Energien von Zeit zu Zeit die Nerven seines sterblichen Körpers. Selbiger war angeblich gar nicht für so machtvolle Magie geschaffen. Nur ein untoter Magier – mindestens Level einhundert – wäre imstande, solch ungeheure Kräfte problemlos zu ertragen, so hatte es ihm der Medizinmann erklärt. Linderung hatte dieser ihm allerdings auch nicht verschaffen können und so hatte sich der Schwarze Vorsitzende letztendlich mit dieser Bürde abgefunden. Das Verlegen seiner Aktivitäten in die Nacht war ihm dabei, wie bereits erwähnt, sehr hilfreich.
Doch leider hatte er das rhythmische Vibrieren seiner Ohrläppchen diesmal schon am frühen Nachmittag verspürt. Es hatte ihm signalisiert, dass irgendjemand Kontakt mit ihm aufzunehmen versuchte.
Etwas verärgert über diesen Umstand und erst nach einer halben Stunde krampfhafter Bemühungen hatte er sein Bewusstsein von seinem Leib lösen können. Nun schwebte selbiges in jener fremdartigen Dimension, die mit herkömmlichen Worten unmöglich zu beschreiben war.
Weder Zeit noch Raum existierten in dieser Dimension. In ihr gab es weder hell noch dunkel, weder oben noch unten, weder warm noch kalt. Und einen anständigen Drink bekam man dort natürlich auch nirgendwo.
Wie schon erwähnt – einfach nicht zu beschreiben.
Hätte es dort so etwas wie Zeit gegeben, der Schwarze Vorsitzende hätte einiges davon wartend verbracht, bevor er endlich die Anwesenheit einer anderen Person verspürte. Sehen konnte er diese andere Existenz natürlich nicht. Er nahm die Aura des anderen Bewusstseins war, so wie man in der normalen Welt auch die Wärme eines Körpers erfühlen kann. Die Charakteristik dieser Aura war ihm jedoch nicht bekannt.
»NY152, bist du es?«, fragte die andere Präsenz, wobei diese Art der Kommunikation selbstverständlich nichts mit herkömmlichem Reden gemein hatte. Es war eine rein mentale Übermittlung von Gedanken. Der Schwarze Vorsitzende begriff, dass es sich bei der anderen Existenz lediglich um eine junge Waldnymphe handelte, die diese Dimension als Partnerbörse missbrauchte.
»Verpiss dich!«, erwiderte er, woraufhin das fremde Bewusstsein beleidigt entschwand. Zwei weitere Begegnungen dieser Art musste der Magier über sich ergehen lassen. Er stellte verärgert fest, wie viele Idioten zu dieser Tageszeit diese Sphären bevölkerten. Als ihm ein weiteres Bewusstsein eine Penisverlängerung anbot, platzte ihm der Kragen. Da er auch in dieser Dimension über seine Fähigkeiten verfügte, vernichtete er die aufdringliche Existenz ohne viel Aufhebens. Irgendwo auf dieser Welt sackte wohl nun ein lebloser Körper ohne Seele – aber mit großem Gemächt – in sich zusammen.
Danach verspürte er endlich die Anwesenheit eines ihm bekannten Bewusstseins. Schon oft hatte er sich mit dieser Person in dieser fremdartigen Umgebung getroffen.
»Sie sind es«, stellte er fest. »Was ist so dringend, dass Sie mich am helllichten Tag damit belästigt?«
»Verzeiht, Vorsitzender«, bat die andere Existenz unterwürfig. »Ich weiß ja, dass Sie diesen Ort tagsüber nur ungern besuchen. Es hat sich jedoch etwas ereignet, das Einfluss auf unsere Pläne haben könnte. Es erschien mir ratsam, Sie schnellstmöglich davon in Kenntnis zu setzen.«
»Dann nur raus mit der Sprache«, forderte der Vorsitzende, was in diesem Umfeld natürlich aus bereits erwähnten Gründen völlig unangebracht war.
»Der Colonel hat jemanden losgeschickt, um Gundel zu suchen. Er soll ins Land der Moonytoads reisen und dort seine Suche beginnen.« Das andere Bewusstsein strahlte eine Besorgnis aus, die der Vorsitzende nicht teilen konnte.
»Na und? Damit war doch zu rechnen! Es hätte mich eher gewundert, wenn der alte Sack nichts unternommen hätte. Ist doch rührend, wie sehr er sich um seine Stieftochter sorgt.«
»Er schickt aber keinen seiner trotteligen Cowboys«, gab die andere Präsenz besorgt zu bedenken. »Er hat einen Zwerg namens Gungo Large engagiert und dieser Typ scheint nicht ganz so bescheuert zu sein. Er ist zwar ein hoffnungsloser Säufer und eine gescheiterte Existenz, doch ein paar Gehirnzellen scheinen seine Saufgelage überlebt zu haben. Ich habe bereits einen meiner Spione auf ihn angesetzt. Kaum auszudenken, was dieser Large auf seiner Suche so alles über uns herausfinden könnte!«
Der Schwarze Vorsitzende antwortete nicht sofort. Gungo Large – dieser Name brachte etwas in ihm zum Klingeln, eine kleine Alarmglocke in seiner Erinnerung, die aus unerklärlichen Gründen zu schlagen begann. Irgendwie, irgendwo, irgendwann hatte er diesen Namen schon einmal gehört. Doch so sehr er sich auch bemühte, Ort und Zeit dieser Begebenheit wollten ihm einfach nicht einfallen. Allein die Tatsache jedoch, dass ihm dieser Name bekannt vorkam, ließ die Besorgnis des anderen Bewusstsein doch nicht so ganz unbegründet erscheinen. Der Schwarze Vorsitzende merkte sich keine Namen von unwichtigen Personen. Wenn er so etwas tat, dann musste diese Person auf irgendeine Art und Weise Eindruck auf ihn gemacht haben. Und wenn jemand Eindruck auf ihn machen konnte, dann konnte er auch eine Bedrohung darstellen.
Selbst auf die Gefahr hin, dass er niemals in Erfahrung bringen würde, wie dieser Name den Weg in sein Gedächtnis gefunden hatte, entschloss er sich, dieses potentielle Risiko zu eliminieren.
»Dann sollte sich jemand um Mister Large kümmern«, stellte er fest. »Wo befindet er sich zurzeit?«
»Er ist auf dem Weg nach Hoochtown, von dort will er mit der Eisenbahn nach New Solitude weiterreisen.«
Die Aura des Vorsitzenden verfinsterte sich. Dies konnte man natürlich nicht sehen, sondern nur wie eine Art unheilvoller Ausstrahlung spüren. So, wie manche Wesen es fühlen können, wenn ihnen irgendein Unheil droht.
»So weit wird es – oder besser ausgedrückt – wird er nicht kommen«, prophezeite er. »Ich habe Kontakte in Hoochtown, äußerst fähige Kontakte. Bei denen ist unser kleines Problem in guten Händen.«
Die Sorge des anderen Bewusstseins schwand ein wenig. »Und Sie sind sicher, dass Ihre Kontakte unser Problem aus der Welt schaffen können?«
»Aber natürlich!« Der Vorsitzende verströmte bedingungslose Zuversicht. »Die haben im Beseitigen von Schwierigkeiten schon so einiges an Erfahrungen gesammelt. Wenn man denen einen Auftrag erteilt, pflastern hinterher Leichen ihren Weg und das Auftragsziel ist nur noch ein Fressen für die Geier.«
»Das ist gut zu hören, Vorsitzender. Es war also richtig, Sie sofort zu informieren!« Die Besorgnis war nun vollständig aus der anderen Existenz gewichen. »Darf ich mich abschließend noch danach erkundigen, wie es um die anderen Belange unserer Unternehmung bestellt ist?«
Diese Frage ließ die Aura des Vorsitzenden nun voller Enthusiasmus und Freude erstrahlen. »Hervorragend, es läuft alles wie geplant! Unser Nachwuchs macht sich prächtig und unser Neuzugang ist mit Leib und Seele bei der Sache. Sie hätten sehen sollen, wie mühelos die beiden die neuen Kämpfer für unsere Sache rekrutiert haben. Bald schon ist diese Truppe einsatzbereit und der nächste Schritt unseres Plans kann starten. Unsere Ziele sind also beinahe schon zum Greifen nah und dieser lächerliche Säufer Large wird garantiert nichts daran ändern.«
Sein Optimismus schien auf den anderen Teilnehmer dieser seltsamen Unterredung überzugreifen. Der Vorsitzende fühlte einen Hauch von Zufriedenheit in dessen Aura. »Habt Dank für diese Auskunft und dieses Gespräch!« Die Präsenz des anderen Bewusstseins begann schwächer zu werden, wie Nebel, der sich im Wind verflüchtigt. »Ich freue mich schon auf unsere nächste Begegnung, ob nun hier oder in der wirklichen Welt. Ruhm und Macht der DGojH!«
»Ruhm und Macht der DGojH!« erwiderte der Vorsitzende den Gruß. Dann war er wieder allein in der fremdartigen Dimension. Da es in dieser ohne Gesellschaft recht langweilig war, kehrte sein Geist umgehend in seinen Körper zurück. Etwas geschwächt und noch etwas benommen öffnete er seine Augen.
Wie er es nicht anders erwartet hatte, fand er sich auf dem Boden sitzend in seinem Zelt wieder. Selbiges wurde lediglich von einer ebenfalls auf dem Boden stehenden schwarzen Kerze erhellt, die auf dem Totenschädel eines Menschen befestigt war. Der Schwarze Vorsitzende blies die Kerze aus, woraufhin sie einen süßlichen, beinahe berauschenden Duft verbreitete. Dann nahm er die Watte aus den Ohren und während er noch etwas im Dunkeln verharrte, dachte er angestrengt nach.
Die lauten Geräusche der Baustelle drangen zu ihm in das Zelt, während er sich immer wieder die gleiche Frage stellte: Gungo Large – woher nur kannte er diesen Namen?
8
Die zwei Elfen erreichten erst im Zwielicht der untergehenden Sonne den Bestattungsort der Moonytoads, der auf einer kleinen Anhöhe in der sonst ebenen Prärie lag.
Schon jetzt warfen die mannshohen Holzgestelle, auf denen traditionsgemäß die Toten aufgebahrt wurden, lange, bizarre Schatten in das trockene Gras. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die kommende Dunkelheit diese Schatten verschlingen würde. Für eine Begutachtung dieses Ortes und der Suche nach Hinweisen oder Spuren war es also nicht gerade die bestmögliche Tageszeit. Früher wäre Träumender Lurch jedoch nicht dazu in der Lage gewesen. Nach seiner anstrengenden Unterredung mit den Ahnen und dem noch anstrengenderen, maßlosen Verzehr von Honig hatte ihn eine starke Müdigkeit übermannt, welcher er unmöglich hatte widerstehen können.
Erst am späten Nachmittag war er wieder aus seinem Schlummer erwacht. Dann jedoch hatte er sich schnellstmöglich und in Begleitung von Finstere Krähe, dem Wächter über die Toten, auf den Weg gemacht.
Wesentlich schneller noch hätte dieser Aufbruch vonstattengehen können, hätte Finstere Krähe nicht darauf bestanden, dass sich der Schamane zumindest eine Hose anzog und sich seinen Umhang aus Bisonfell überwarf. Doch dafür war der greise Elf seinem Begleiter nun dankbar. Die Luft wurde zunehmend kälter und ein frischer Wind blies durch die hölzernen Totenstätten, derer es hier viele Hundert gab. Den ekligen, faulig-süßen Geruch von Verwesung trug dieser Wind den zwei Elfen entgegen, nur leicht gemildert durch die aromatischen Kräuter, mit denen die Moonytoads ihre Toten einbalsamierten.
Träumender Lurch witterte jedoch noch etwas anderes an diesem Ort. Es war etwas, das nur die übernatürlich geschulten Sinne eines Schamanen wahrnehmen konnten. Er hätte es weniger als einen Geruch beschrieben, sondern eher als eine Art schwacher Energie, die seine Nasenschleimhaut kitzelte, so wie es eine allergische Reaktion tut. Ganz eindeutig identifizierte er diese Energie als die Reste einer ihm unbekannten Form von Magie.
»Es ist unheimlich heute«, stellte Finstere Krähe fest, während sie langsam durch die Reihen der aufgebahrten Leichname gingen. »Wir sollten morgen früh wiederkommen, wenn es heller ist.«
»Für einen Wächter der Toten bist du ein ziemlicher Schisser!« Träumender Lurch grinste hämisch. »Hast du dich nach all den Jahren noch immer nicht an die Toten gewöhnt?«
Der Totenwächter blieb neben einem der Gerüste stehen, auf dem eigentlich ein toter Elf hätte liegen müssen, das aber nun aus mysteriösen Gründen verlassen war. »An die Toten schon – an Tote die davonlaufen allerdings nicht.«
Mit einer Behändigkeit, die für sein Alter fast schon absurd war, erklomm der Schamane das Holzkonstrukt, um es näher in Augenschein zu nehmen.
»Du siehst das völlig falsch«, bemerkte er. »Noch weniger als die Toten muss man die Toten fürchten, die gar nicht mehr da sind.«
Ein Hauch von Stolz erfüllte den Alten aufgrund dieses – seiner Meinung nach – unheimlich tiefsinnigen Satzes. Auf Finstere Krähe schien dieser jedoch keinerlei beruhigende Wirkung zu haben. Dass irgendwo in weiter Ferne nun auch noch einige Kojoten damit anfingen, den hereinbrechenden Abend mit schaurigem Geheul zu begrüßen, trug offenbar auch nicht gerade zu seiner Beruhigung bei.
Den Schamanen hingegen ließ diese unheimliche Atmosphäre gänzlich kalt. Er untersuchte weiter mit konzentriertem Eifer und erstaunlichen Kletterkünsten die Totengestelle.
Bei deren Gestaltung hatte man den Hinterbliebenen völlig freie Hand gelassen. Demzufolge reichte die Palette an Verzierungen auch von nicht vorhanden über schlicht und einfach bis gepimpt bis zum Anschlag. Letzteres war eine offensichtliche Geschmacksverirrung der Angehörigen, die sich in einer Vielzahl bunter Decken, selbst gemachter Papiergirlanden und anderem geschmacklosen Zierrat äußerte.
Die Ewigkeit auf einer Totenstätte verbringen zu müssen, die einer Jahrmarktsbude zum Verwechseln ähnlich sah, das rief selbst in dem schrulligen Schamanen ein Gefühl der Befremdung hervor.
Als ebenso merkwürdig empfand er einige der Dinge, die man den Verstorbenen zur Seite gelegt hatte, da sie ihnen wohl zu Lebzeiten besonders ans Herz gewachsen waren. Neben den verschiedensten Waffen, Schmuckstücken oder Werkzeugen handelte es sich hierbei zumeist um irgendwelche Kleidungsstücke. Bei weiblichen Verblichenen waren es meist Schuhe. Ein Leichnam hielt sogar eine kleine, hölzerne Ente in den Händen, die so leicht war, dass sie im Wasser nicht untergehen würde. Ein anderer trug makabre Andenken an den vergangenen Krieg – mehrere abgeschnittene, menschliche und zwergische Finger – als Kette um den fleischlosen Hals.
Ein Gegenstand, den er auf einem der verlassenen Totengestelle entdeckte, weckte jedoch das besondere Interesse des Schamanen. Es war eine lange, mit kleinen Federn geschmückte Pfeife, die der seinen sehr ähnlich sah. Sie rief in ihm einen vagen Verdacht hervor. Leider war es ihm nicht möglich herauszufinden, wer auf dieser Konstruktion eigentlich hätte bestatten sein müssen. An diesem wie auch an allen anderen Gerüsten gab es keinerlei Namensschilder oder ähnliches. Hilfesuchend wandte er sich deshalb an Finstere Krähe, der noch immer furchtsam um sich blickend und irgendwie nutzlos in der Gegend herumstand.
»Gibt es eigentlich irgendeine Übersicht, welcher Verstorbene auf welchem Gestell liegt oder liegen müsste?«
Der Totenwächter nickte. »Klar, der Häuptling besitzt ein Verzeichnis aller Totenstätten mit genauer Positionsangabe und Namen der darauf Bestatteten.«
»Coole Sache das!« Träumender Lurch nahm die Pfeife, steckte sie in seinen Hosenbund und sprang von dem Gerüst herunter. »Davon hatte ich ja gar keine Ahnung. Aber mit dem Thema beschäftige ich mich ja auch normalerweise nicht. Der Tod ist einfach nicht so mein Ding. Unserem Anführer werde ich nachher aber noch einen Besuch abstatten.«
Er sah in den Himmel und stellte fest, dass die Lichtverhältnisse es nur noch für kurze Zeit ermöglichen würden, weitere Nachforschungen anzustellen. Wenn er noch einen Blick auf die Spuren werfen wollte, die von den Totenstätten wegführten, würde er sich damit sputen müssen.
»Da!«, rief Finstere Krähe plötzlich erschrocken und sein ohnehin schon bleicher Teint wurde noch ein wenig blasser. »Da war etwas! Hast du es auch gehört?«
Der Schamane horchte angestrengt in die Dämmerung hinein. Außer den Geräuschen, die der Wind verursachte, nahm er nichts Außergewöhnliches wahr.
»Mumpitz«, erwiderte er deshalb. »Da ist nichts. Du wirst wohl schon paranoid. Also chill mal und nerv mich nicht.«
Der Wächter über die Toten ließ nicht locker. »Doch da war was«, beharrte er. »Irgendein Schleichen oder Schlurfen. Es kam von den Totenstätten da hinten.« Er deutete nach Westen.
Obwohl Träumender Lurch dort im Halbdunkel nicht viel erkennen konnte, war er sich sicher, dass die Sinne des Totenwächters selbigem nur einen Streich gespielt hatten.
»Du solltest ernsthaft mal über einen Berufswechsel nachdenken«, schlug er vor. »Zweiter Bildungsweg oder so.«
Er ging in die Hocke, um die Abdrücke in dem grasbewachsenen Boden zu untersuchen. Wie Finstere Krähe es beschrieben hatte, führte von jedem Totengerüst nur jeweils eine Spur fort und all diese Spuren stammten eindeutig von Elfen. Dies konnte der Schamane an Breite und Länge der Abdrücke erkennen. Langsam hatten sie sich bewegt, so stellte er weiterhin fest, und bei einigen hatten weder Schuhwerk noch Haut oder Fleisch die blanken Fußknochen bedeckt.
Der alte Elf sah auf und folgte mit seinen Blicken den Spuren nach Nordwesten. Jemand würde dieser Fährte folgen müssen, um herausfinden zu können, wohin sie führte. Der Schamane beschloss, dass er am nächsten Tag den Bruder des vermissten Greifenreiters darum bitten würde. Dieser war ein erfahrener Krieger und Fährtenleser, ihm würde es leicht fallen, den Spuren über viele Meilen hinweg zu folgen. Vielleicht würde das Wissen über den Verbleib der abhanden gekommenen Toten ja auch Aufschluss über das Verschwinden von Grimmiger Hirsch bringen. Die Ahnen hatten ja erwähnt, dass all die seltsamen Geschehnisse der letzten Zeit in Zusammenhang standen.
Träumender Lurch richtete sich wieder auf und für einen kurzen Augenblick glaubte auch er ein leises, schlurfendes Geräusch zu hören. Er hielt inne und lauschte, dann jedoch schüttelte er den Kopf. Bestimmt hatte der Wind nur irgendeinen Gegenstand in Bewegung versetzt, so dass dieser sich an irgendwas gerieben und so das Geräusch verursacht hatte. Oder der memmenhafte Totengräber hatte es nun endlich geschafft, ihn mit seiner übertriebenen Furchtsamkeit anzustecken.
Dessen Erleichterung war deutlich sichtbar, als der Schamane wenig später das Signal zum Aufbruch gab. Die Dunkelheit herrschte nun beinahe schon vollständig über das Land.
Sie hatten die letzten Totenstätten, die ihren Weg zurück ins Dorf säumten, auch schon fast erreicht, als plötzlich eine tiefe Stimme hinter ihnen langsam zu sprechen begann.