- -
- 100%
- +
»Kannste nicht mal mehr lesen?«, schrie es von weitem und Fred streckte mir den gelben Klebezettel entgegen, »Du stehst vor der falschen Tür, auf Anjas Zettel steht kein ›a‹ neben der Hausnummer.«
Mein Blick wanderte zurück auf das Schild, jetzt sah ich es auch, ganz klein klebte daneben ein kleines schwarzes ›a‹.
Fred, der Schweiß tropfte ihm von der Stirn und die wenigen noch vorhandenen längeren Haare waren nur noch nasse Striche auf seinem Kopf, schleppte und zerrte in der Zwischenzeit Teile meines letzten Besitzes vor das Nachbarhaus. Wie oft hatte ich ihm schon geraten, etwas für seine Gesundheit zu tun, aber Fred liebte seinen Bauch. ›Ein Mann ohne Bauch ist ein Krüppel‹, war einer seiner Lieblingssätze.
Ich hatte diese Ruine schon beim Aussteigen aus Freds Taxi halb aus den Augenwinkeln wahrgenommen. In meinem Unterbewusstsein hatte ich es als unsaniertes Haus aus dem letzten Jahrhundert abgehakt und gestaunt, dass es noch unsanierte Häuser auf der Karli geben sollte. Traumatisiert wandelte ich mit meinem Riesenspiegel zum Nachbarhaus, na ja, ein Haus war es vor über 100 Jahren mal gewesen, jetzt war es mehr ein Kunstobjekt. Aber es schien bewohnt zu sein, manche Fenster waren geöffnet und es schallte Musik fast jeder Stilrichtung heraus. Die vor einigen Fenstern durch permanenten Wassermangel liebevoll totgepflegten Blumenkästen hatten schon fast etwas Skurriles. Aus einem Fenster im ersten Stock kam ein süßer Duft in meine Nase und das passende Gewächs dazu stand gleich neben dem geöffneten Fenster unter einer bestimmt 1000 Watt Lampe. Wenigstens war ich nicht allein im Museumshaus. Mit dieser Gewissheit schleppten Fred und ich meine Habseligkeiten in den dritten Stock. ›Der nächste kleine Pluspunkt, denn unsere alte Wohnung war ja auch im dritten Stock, und wenn jetzt noch ungefähr die Anzahl der Treppenstufen stimmt, kann ich wie gewohnt in jedem Zustand meine neue Höhle finden‹, ging es durch meinen Kopf.
Das Unterbewusstsein wusste ja angeblich viel mehr als man selbst je über sich erfahren würde, hatte ich oft gelesen, aber nie so recht daran geglaubt. Als ich die Wohnungstür aufgeschlossen hatte und im Dunkeln endlich einen Lichtschalter fand, beschloss ich, in meinem mir noch verbleibenden Leben nie mehr an dieser Tatsache zu rütteln: ›HÖHLE‹ schrie es mir förmlich entgegen, ›Höhle im wahrsten Sinne des Wortes!‹. An einem Draht baumelte eine 40-Watt-Energiesparlampe von der Flurdecke. Hatte die ›liebe‹ Anja etwa auch daran gedacht, dass diese komische Erfindung ein paar Minuten braucht, um ihre volle Leuchtkraft zu erreichen und ich so die Gelegenheit bekam, mich in Minutenintervallen an meine neue Höhle bzw. Wohnung gewöhnen zu können, um nicht nach dem Heraufschleppen meiner Habe sofort einen Herzkasper zu bekommen?
Nach wiederum einer halben Stunde, die Zeitspanne kannten wir ja schon, hatten wir alles in meiner neuen Bleibe, das Wort Wohnung war bestimmt für die nächsten Monate aus meinem Wortschatz gestrichen.
»Bis in zwei Stunden, dann hole ich dich ab und wir ziehen um die Häuser!«, rief Fred und polterte laut pfeifend die Treppen hinab.
Ich suchte mal wieder nach meinem Handy, da ja Fred in zwei Stunden wieder hier auftauchen wollte und ich dazu eine aktuelle Zeitangabe benötigte. So oft ich auch drückte, alles blieb schwarz auf dem Display und so viel Großzügigkeit, mir auch noch ein Ladekabel mit einzupacken, konnte ich ja nun wirklich nicht von Anja erwarten. Langsam schlich ich zu dem Scheiterhaufen meines Lebens in das größere Zimmer, wo Fred und ich die Reste vom Vorleben bzw. meine Startpakete in neue Abenteuer aufgeschichtet hatten. Als ich aus dem Fenster sah, erkannte ich genau gegenüber eine große öffentliche Normaluhr, ihre Zeiger zeigten die zehnte Stunde. Ich legte spontan für mich fest, 24 Uhr beginnt ein neues Leben.
Ich konnte noch nie die Menschen verstehen, die ihren Urlaub schon für das nächste Jahr planen. Hier hatte ich mal wieder einen handfesten Beweis für meine Theorie, innerhalb von nur vier Stunden hatte sich meine kleine heile Welt total auf den Kopf gestellt. Auch Klein-Paul war auf dem Weg zu meiner alten Wohnung noch siegesbewusst mit geschwollener Brust gewesen, als ich den 24-armigen Kerzenleuchter im Fenster erblickt hatte, aber jetzt war er verschwunden. Ich hoffte, dass ich ihn wenigstens beim Pinkeln wieder finden konnte.
›Ein einfach schräger Tag bis jetzt, aber es kann ja nur besser werden‹, versuchte ich mir Mut zu zusprechen. Ich, Paul, saß in meiner Höhle und starrte auf unverputzte Höhlenwände. ›Werde erst einmal eine Bestandsaufnahme machen in diesem Loch, anders kann man es nicht bezeichnen‹, bevor Fred mich zu einer ersten Tour auf die Karli abholen wollte.
›Liebe Anja, ich danke Dir von ganzem Herzen und wünsche dir die Pest an den Hals!‹, und noch andere ausgefallene Wünsche gingen mir für meine Ehemalige, ›wow, klingt echt gut‹, durch den Kopf, währenddessen ich wie ein Häuflein Elend dahockte und die Reste meines vorherigen Lebens anstarrte. ›Du vögelst dir gerade die Seele aus dem Leib und ich kann nicht mal den Putz von den Wänden fressen, da es ja hier keinen gibt.‹
Mir wurde schon nach den ersten Schritten durch meine Ausbauhöhle klar, warum diese so billig in der Miete war und Anjas liebe Freundin diese nicht mehr wollte. Irgendjemand hatte – ich vermutete, Marias schräge Bekanntschaften – versucht, dieses Loch in einen bewohnbaren Zustand zu bekommen, hatte aber irgendwann verzweifelt aufgehört, wie ich bei einem Blick in das Toilettenbecken feststellen musste. Bestimmt die letzte frustrierte Handlung, bevor diese Typen fluchtartig die sogenannte Wohnung verlassen hatten. Im Toilettenbecken lag ein großer Fladen, der sich bis in den Abfluss erstrecke. Nur dieser Fladen war nicht braun und stank auch nicht, er war grau und hart, wie ich beim Betasten mit den in der Ecke lümmelnden Resten einer Klobürste feststellen konnte. Es war steinharter Mörtel. Bestimmt war es der Rest von dem Mörtel, mit dem Maria und ihre Typen versucht hatten, die in der ganzen Wohnung schon frei gehackten Fenster, welche sicher irgendwann ausgetauscht werden sollten, wieder abzudichten, sodass sie nicht befürchten musste, im Winter zu erfrieren und bei Herbststürmen durch die Wohnung geweht zu werden.
Klein-Paul meldete sich wieder mal und ich merkte, dass ich eigentlich die Toilette benutzen sollte, aber die war ja zugemörtelt. Mit gutem Zureden, dass es gleich so weit wäre und er seinen zweiten Verwendungszweck schnellst möglich ausführen können würde, machte ich mich auf die Suche nach etwas, was man als Bohrer oder Stemmeisen verwenden konnte. Beim Suchen stellte ich fest, dass meine Höhle gar nicht so verkehrt war: ein großes Zimmer von ungefähr zwanzig Quadratmetern und zwei kleinere.
Dazu gab es eine Küche, wo sogar noch ein alter E-Herd dahinvegetierte und eine Toilette, die aber seit Wochen Ruhetag hatte. Leider kein Bad, aber da würde mir bestimmt, was einfallen. In allen Zimmern baumelten zum Glück die romantischen Notleuchten – ein Draht, eine Fassung und eine natürlich vollkommen verdreckte Glühbirne. Auch in den restlichen Zimmern waren teilweise schon Löcher in den Putz gehackt, umgeben von Tapetenresten aller bisher in der Menschheitsgeschichte beliebten Stilrichtungen. ›Bestimmt feierten noch vor Kurzem, wo jetzt die frei gehackten Löcher waren, Schimmelpilze ihre Erweiterungspartys.‹ In einem von den beiden kleineren Zimmern, das ich mir schon als Ruheraum auserwählt hatte, türmte sich in der Mitte ein Sandhaufen. ›Da ich kein Bett mitbekommen hatte, brauchte ich wenigstens nicht auf den harten Dielen zu nächtigen‹, bei diesem Gedanken wurde mir bewusst, dass sich langsam mein Humor leise zurückmeldete.
Klein-Paul schnürte sich immer mehr die Luft ab, da mein Druck in der Blase immer größer wurde. Aber es war einfach nichts aufzutreiben, was als Brecheisen verwendbar gewesen wäre. Mit eiligen Schritten ging ich zur Toilette zurück, in der Hoffnung, dass wenigstens das Waschbecken einen Abfluss hatte. Freudig begrüßte mich Klein-Paul und unter Hochgenuss entleerte ich mich und stellte erleichtert fest, dass hier keine Verstopfung vorlag. Auch war es ein schönes Waschbecken. Ich hatte mit meinem nicht enden wollenden Urinstrahl SCHEISSE in den Dreck geschrieben und dabei kam ein wunderschönes graziles Muster zum Vorschein. Als mein Blick nach dem Entleeren meiner Blase zum Spiegel wanderte, oder besser gesagt, was mal wieder ein Spiegel werden wollte, entdeckte ich einen angeklebten Zettel.
Hallo Paul, willkommen im neuen Heim. Ich weiß, dass Du jetzt gerade nicht gut drauf bist, da Anja meine Freundin ist und ich demzufolge schon seit Längerem von Deinem Auftauchen vor diesem Spiegel ahnte.
Wenn Du hier bleiben willst, und davon gehe ich bei Deinen finanziellen Verhältnissen aus, überweise einfach regelmäßig auf folgendes Bankkonto, siehe Rückseite, die Miete und Du kann hier bestimmt ewig hausen.
Gruß und Trost-Kuss Maria
P.S. Ich hoffe, Du hast bessere Nerven und mehr Elan als ich und kriegst die Bude bewohnbar.
Was kann das hier kosten, eigentlich müsste man ja hier noch etwas rauskriegen und ich riss neugierig den Zettel vom Spiegel, neben der Bankverbindung stand 150 Euro. Ist bitte pünktlich am vierten jedes Monats zu überweisen. Pünktlich war dick unterstrichen, Maria konnte einfach nicht verleugnen, dass sie seit Jahren als Lehrerin tätig war und immer eine erzieherische Note mit einfloss, solange ich sie kannte.
Langsam fand ich mich zurecht und ging zielgerichtet zum größeren Zimmer, aus dessen Fenster ich die Uhr auf der Straße erkennen konnte, weil ich wissen wollte, wie spät es war. ›Noch eine Stunde Zeit, bis Fred hier aufschlagen wird‹, dachte ich mir, griff mein Handy und wollte mir, da sich langsam ein Hungergefühl breitmachte, eine Pizza bestellen. Nur hatte ich leider vergessen, dass das Handy leer war und mich statt Anja nur eine schwarze glänzende Oberfläche anlachte.
›Ich brauche dringend ein Ladekabel!‹ Erstens hatte ich Hunger und zweitens sollte mich Anja auf keinen Fall mehr begrüßen, wenn mein Handy wieder Strom hatte.
Drei wichtige Vorhaben für die nächste Stunde, ›Handy aufladen, Hintergrundbild sofort wechseln und Pizza bestellen!‹ Die Toilette hatte jetzt, aus rein biologischen Gesetzmäßigkeiten, etwas länger Zeit, da ich gerade pinkeln war und ich zur Not auch noch das restliche schöne Muster des Waschbeckens beim nächsten biologischen Bedürfnis freilegen konnte. Da diese Ruine von einem Haus bewohnt war, versuchte ich mein Glück zwecks Ladekabel mal an der benachbarten Wohnungstür. Stefan Friedrich stand auf einem mit einer Reißzwecke befestigten Schildchen. Nach zweimaligem Klingeln öffnete ein dürrer Typ im Bademantel.
»Hi, ich bin dein neuer Nachbar Paul«, sagte ich und blickte in große erstaunte Augen eines ungefähr 35-jährigen, mittelgroßen, sehr dünnen Typen mit einer wirren Frisur, ähnlich meiner. Erst jetzt merkte ich, worauf sie starrten, mein blutgetränktes Weihnachtsduft-Toilettenpapier hatte sich langsam von meinem Unterschenkel gelöst und schlängelte sich vergnügt über die ganze Etage bis in meine Höhle zurück.
»Kleinen Unfall beim Einzug gehabt«, log ich spontan entschuldigend.
Stefan lachte: »Sieht aber nicht gut aus«, als sein Blick das blutdurchtränkte Weihnachtsduft-Toilettenpapier bestaunte.
»Hat schon aufgehört zu bluten«, meinte ich erleichtert, als meine Finger das immer noch schmerzende Loch behutsam abtasteten. »Halb so schlimm, habe heute schon viel Schlimmeres erlebt.«
»Bist du Stefan?«
»Ja«, kam es trocken zurück.
»Und wie wohnt es sich hier denn so?«, fragte ich, da ich mir etwas Mut machen wollte.
»Wohne schon länger hier, einfach ein cooles Haus und echt billig.«
»Kannst du mir bitte mal ein Ladegerät für mein Handy leihen, habe leider momentan keins mehr.«
Stefan verschwand in seiner Wohnung und kam kurz danach mit einer Pappkiste zurück, in der sich ein Knäuel von Ladekabeln tummelte.
»Versuch dein Glück«, lachte er und drückte mir die Kiste in die Hand. »Bring sie mir einfach in den nächsten Tagen wieder vorbei, hab noch mehr davon.«
»Danke, echt nett von dir!«
»Kein Problem, kannst immer kommen, wenn du mal etwas brauchst, ist hier zum Glück im ganzen Haus noch so Brauch. Nur unten bei Jüttes brauchst du es nicht zu versuchen. Sind ganz merkwürdige Menschen, ein fetter komischer Typ von bestimmt schon vierzig Jahren wohnt dort mit seiner Mutter. Echt eigenartige Figuren, die beiden. Schönen Abend noch!« und Stefan verschwand in seiner Wohnung. Konnte gerade noch ›danke‹ hinterherrufen.
Meinem penetrant duftenden, geringelten und blutgetränkten Weihnachtsduft-Toilettenpapier folgend, ging ich in meine Höhle zurück, nahm auf meinem Sandhaufen im kleinen Zimmer Platz und begann das passende Ladekabel zu suchen. Natürlich war es das Vorletzte, das passte, aber das ist ja eigentlich immer so bei mir. ›Jetzt noch ein Südseebild an die Wand malen …‹, dachte ich ironisch, als so langsam das Sandgefühl durch meine Hosen drang, ›und mit dieser Höhle brauche ich nicht mal mehr in den Urlaub zu fahren. Bei meinem nächsten Einkauf im Baumarkt, der eigentlich schon gestern hätte sein müssen‹, beschloss ich – als ich die ersten eingebrannten Gruselbilder meiner Höhle im Kopf wieder abrief – ›kaufe ich mir eine Palme. Harmoniert bestimmt vortrefflich mit meinem Sandhaufen.‹
›Meine Höhle wird eine schräge Höhle!‹, nahm ich mir fest vor.
So, jetzt wurde es langsam Zeit mal die nötigen Grundutensilien in den Resten meiner Existenz zu suchen.
Aber wohin damit, alles war hier mit Baustaub und sonstigem Dreck überzogen und viele kleine Höhlenmitbewohner schienen sich in ihrer Ruhe gestört zu fühlen. Eine dicke fette Spinne schaute mich von der Decke missmutig an. Aber ich war ja im Improvisieren gut, also riss ich den ersten blauen Müllsack langsam auf und verteilte meine daraus hervorquellenden Klamotten auf die anderen Haufen und Türme meines umfangreichen Besitzes. Die nun vorhandene Plastikplane breitete ich in der saubersten Ecke des großen Zimmers aus und drapierte meine Kleidungsstücke aus dem ersten Müllsack darauf. Langsam arbeitete ich mich durch meinen Besitz und endlich kamen meine Pflegeprodukte zum Vorschein.
War nicht viel, was ich in meine neue Selbstständigkeit von Anja mitbekommen hatte, aber zum Ausgehschickmachen mit Fred heute Abend reichte es allemal.
Mein Bauch meldete immer noch Bedürfnisse an, doch bei der Bestellhotline teilte man mir hektisch mit, Wartezeit sei zwei Stunden. So beschloss ich das Essen auf morgen zu verschieben oder später mit Fred eine Kleinigkeit zu essen, was auf der Karli bestimmt kein Problem sein sollte.
›Diese Nacht werde ich es richtig krachen lassen‹, nahm ich mir vor. Sollte doch Madam Anja nicht die Einzige sein, die heute Spaß hatte. Ich entledigte mich meiner vom Umzug und Nervenstress verschwitzen Klamotten und untersuchte meine Gitarrenhalswunde. Zum Glück sah sie gar nicht mehr so schlimm aus, ein großes Pflaster, was sich glücklicherweise irgendwie in meine Waschtasche verirrt hatte, verschloss nun endgültig dieses Anja Rauswurf-Kapitel.
Meinen großen Erb-Oma-Spiegel hatte ich gleich beim Einzug standsicher im hinteren Zimmer deponiert. Nackig stellte ich mich davor und wurde natürlich sofort von meinem Lippenstift-Konterfei begrüßt. ›So, mal sehen, was noch so mein Marktwert ist‹, dachte ich mir und ließ den Blick über meinen Body gleiten. Da glücklicherweise die Heizung in meiner Höhle funktionierte, hatte auch Klein-Paul seine normale Größe wieder erlangt. Aber so ganz zufrieden war ich leider nicht mit dem Bild im Spiegel, da half es auch nicht, dass der Spiegel etwas dreckig war. ›Fange mal oben an‹, dachte ich. Haare? Naja, Haare konnte man es eigentlich nicht nennen, eher Feen-Haar, lang und dünn reichte es bis zu den Schultern, das liebte ich schon immer. Oberarme und Beine waren eigentlich okay. Der kleine Bauchansatz, den Anja so geliebt hatte, war leider nicht nur im Spiegel ein großer Bauchansatz geworden, der verniedlichende Attribute einfach nicht mehr verdiente, von dem unrasierten Paul und Anhang einmal ganz abgesehen.
›Hab mich ganz schön gehen lassen, das war zum Anfang mit Anja ganz anders‹, dachte ich leicht traurig. Aber da ja nun mein Marktwert wieder gefragt war, wurde auch das Essen für heute vollkommen aus dem Kopf verbannt und in meinen Pflegeutensilien suchte ich nach meinem Vierklingen-Rasierer.
›So unrasiert wird nicht ausgegangen, erst oben, dann unten‹, nahm ich mir vor. Mit fünflagigem Weihnachtsduft-Toilettenpapier, von welchem ich als einziges von allem mehr als genug besaß, brachte ich notdürftig Waschbecken und Badespiegel in ein wenig an alte Zeiten erinnernden Glanz zurück. Ohne größere Schnitte war meine obere Hälfte schnell ausgehfein.
Zurück zum Erb-Oma-Spiegel, jetzt war Klein-Paul mit allem im Umkreis von zehn Zentimetern fällig, man wusste ja nie, was der Abend noch so brachte.
›Werde es heute mal hier versuchen‹, warum wusste ich auch nicht, mir war einfach so. Ich fasste Klein-Paul kräftig an der Spitze, zog ihn schön lang und rasierte ganz vorsichtig ringsherum. Drehte ihn in alle Richtungen und begutachtete das Ergebnis. ›Schon erstaunlich …‹, stellte ich wie immer fest, wie weit man da drehen kann. Ein paar Zentimeter in Richtung Bauchnabel und danach die Leistengegend, das ging relativ schnell, ich war ja weit genug von meinem besten Teil mit dem so superscharfen kalten Stahl entfernt. Jetzt kam das Schwierigste …
Der Sack, der Beutel, der Hodensack, die Eier …, eigentlich alles für so ein wichtiges und ebenfalls sehr auf Reize ansprechendes Teil blöde und abgewrackte Begriffe. Finde für mich wohl nie eine coole Bezeichnung. Innerlich einigte ich mich heute auf den Begriff Beutel, da ja hier auch gute und wertvolle Sachen von mir aufbewahrt und geschützt wurden und auf ihren möglichen, oft sehr spontanen Einsatz warteten. Wieder wurde Klein-Paul kräftig mit der Spitze nach oben gezogen, danach von meinem linken Unterarm an den Bauch gedrückt, so hatte ich jetzt die Finger der linken Hand frei, um diesen etwas faltigen Beutel, die Heizung funktionierte also doch nicht so gut, langsam und sachte ebenfalls in die Länge zu ziehen. Mit dem Vier-Klingen-Superscharfrasierer kämpfte ich mich langsam über die narbige und durchfurchte Oberfläche. Erst die Vorderseite, dann ebenfalls das ganze Teil nach oben zerrend, die Rückseite. Geschafft!!! Jetzt kam das Schönste, Klein-Paul und Anhang wurden eingeölt, erstens war es gut für die an manchen Stellen sehr strapazierte Haut und zum anderen wollte ich auch in der unteren Hälfte gut duften, besonders heute Abend.
Beim genüsslichen und langsamen Ölverreiben, das war einfach schön, einfach geil, ging ein Zucken durch Klein-Paul und nach wenigen Sekunden brauchte ich meine Hand nicht mehr zum Hochhalten meines kleinen besten Kumpels. ›Kein Wunder‹, dachte ich mir, ›sind wir uns ja in den letzten Wochen nur noch auf der Toilette begegnet.‹
Wie schon immer in solchen Momenten wurde auch heute aus Klein-Paul, meinem oft so eigensinnigen und nervenden zweiten Ich, wieder ein ganz normaler, lustvoll zuckender Schwanz, mein Schwanz. Wir waren wieder eins. Eine leider in meinem bisherigen Leben recht seltene Einigkeit in Bezug auf meine und seine Vorstellungen von Liebe oder sogar Partnerschaft.
Das Ölverreiben war schon längst vergessen, immer fester streichelte und rieb ich mich. Es im Stehen vor dem Spiegel zu tun machte mich heute irgendwie total an und das Kopfkino begann zu rotieren.
Bei einem Blick nach unten quollen bereits die kleinen klaren Tropfen aus der Spitze, die ich so mochte. Langsam nahm ich einzelne Tropfen mit der Fingerspitze ab, führte sie genüsslich zum Mund und leckte meinen Finger ab.
›Wer sich nicht selbst lieben kann, kann auch nicht so viel Spaß mit anderen haben, kann niemand anderem so richtig Spaß bereiten‹, ging es mir durch den Kopf. Einer der Lieblingssätze von Anja, … und sehr wahr, wie ich schon öfter zustimmend feststellen musste.
Immer fester und schneller rieb ich und im Kopf jagten sich nur so die Bilder … Anja mit von Gurten gespreizten Beinen auf unserer Liebesschaukel …
Anja, mich mit ihrem großen geilen Mund verschlingend, … Anja, wie wild auf mir reitend …, Anja, vor mir kniend und bis zum letzten Millimeter von mir ausgefüllt … mein hartes Glied, was immer schneller und schneller, vor Nässe glänzend, in ihr verschwand und wieder auftauchte …
Das geliebte und ersehnte Zittern breitete sich blitzartig aus und im hohen Bogen spritzte ich auf mein Lippenstiftantlitz auf den vor mir stehenden Erb-Oma-Spiegel.
›… jetzt heule ich auch noch …‹, wie mir die glitzernden Tropfen, die nun über mein Lippenstiftantlitz laufen, weismachen wollten … ›Hast ja recht …‹, dachte ich nicht nur in Richtung Klein-Paul, langsam wieder zur Ruhe kommend, war eine echt geile Zeit mit Anja … ›Zumindest am Anfang …‹, fügte ich entschuldigend für mich hinzu.
›… Scheiße, Fred kommt pünktlich!‹, schoss es durch meinen Kopf, der gerade noch am Verarbeiten des gerade Erlebten zu kauen hatte, als ich schon von Weitem die schweren und vertraut lauten Schritte im Treppenhaus vernahm. ›Was zuerst, verdammt noch mal, so soll er mich doch auf keinen Fall sehen.‹ Schnell sprintete ich zum Dufttoilettenpapier und riss hastig so viel davon ab, wie ich gerade fassen konnte. ›Wird wohl doch schneller alle als vermutet‹, dachte ich noch, und sprintete schnell zurück zum Spiegel. Genug geweint für heute und mit schnellem Wischen beseitigte ich mein Lippenstiftantlitz vom Erb-Oma-Spiegel. Mit dem langsam klebrig werdenden und sich in seine Einzelteile zerlegenden Dufttoilettenpapier putzte ich die restlichen Lustspuren von meinen Oberschenkeln, rannte dabei im Dämmerlicht meiner Notbeleuchtung zurück zu den Haufen mit meiner Unterwäsche und griff mir wahllos das Erstbeste, das mir zwischen die Finger kam. Halb im Laufen und halb im Hüpfen versuchte ich, mich auf dem Weg zur Tür in den Slip zu zwingen. So notdürftig bekleidet erreichte ich gerade noch rechtzeitig die Tür, an der es schon kräftig wummerte.
»Ha … haa … haaa …«, war alles, was ich aus Freds grinsendem Mund vernahm, als ich die Tür aufriss. »Erwartest wohl schon die nächste Braut?«, lachte Fred. Als er mich nur mit Slip bekleidet vor sich stehen sah. »Kannst dich wieder anziehen, die nächste Dame musst du dir heute Abend erarbeiten, die kommt nicht so einfach hier hereinspaziert. Aber falls du Glück haben willst, würde ich an deiner Stelle andere Unterwäsche tragen. Ha … haa … haaa …« und sein ganzer Körper bog sich vor Lachen.
Erstaunt blickte ich an mir herab und sah entsetzt, dass ich einen Frauenslip trug, genau den, den ich Anja zu unserem Einjährigen geschenkt hatte und zu dem sie sagte: ›… das trage ich mal, wenn ich im Altersheim einen flotten Achtzigjährigen vernaschen will, die haben meist schwache Augen.‹
»Hab dir was mitgebracht, sollst ja nicht leben wie ein Hund« und klirrend stellte er mir ein altes Campingbett in den Flur. In der anderen Hand hielt er noch eine leicht gelbliche, an manchen Stellen sehr stark gelbliche dünne Matratze. Vor seinen Füßen lag dazu noch ein Bündel, das wie eine eingeschnürte Steppdecke aussah. »Hatte gesehen, dass in deinen Beziehungskistenüberresten kein Bett dabei war und ich wollte dieses Museumsstück schon lange entsorgen, wenn du alleine darauf schläfst, müsste es noch ein paar Wochen überleben.«
Nach einer kurzen Begutachtung konnte ich diese wahren Worte nur bestätigen, ›… ist aber immer noch besser, als auf meinem höhleneigenen Sandhaufen zu schlafen‹, dachte ich mir.
»Lass mich mal schnell rein, muss eilig pinkeln, bin fast zwei Stunden ohne eine Pause durch Leipzig gekutscht«.
»Waschbecken putzen oder Stemmeisen besorgen!«, endlich konnte ich auch mal wieder lachen.
Fred schaute mich verwundert an. »Komm mit, ich zeige es dir« und ich führte Fred in meine stark sanierungsbedürftige Toilette. Nach einem sehr verwunderten Blick in die Toilettenschüssel verstand er auf einmal das Problem und wendete sich, eilig schon die Hose öffnend, dem Waschbecken zu.
»Aber auch schön die hartnäckigen Flecken putzen!« kam es spitz von mir, und ich verließ meine Toilettenbaustelle.
Kurze Zeit später stand Fred schon wieder grinsend und die nassen Finger – ich hoffte, nur vom Händewaschen – an der Hose abschmierend vor mir. »Da haste ja ein echtes Problem ha … haa … haaa …, aber auf der Karli gibt es ja zum Glück viele Cafés, die früh für deine größere biologische Gesetzmäßigkeit geöffnet haben. Haa … haaa …, aber im Ernst, da hilft kein Brecheisen, da hilft nur ein Fachmann, der dir ein neues Toilettenbecken einbaut. Ruf morgen früh einfach mal hier an« und Fred hielt mir sein Handy unter die Nase.