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Dieser Dienst schloss auch Gesellschaftskritik mit ein. In den gesellschaflichen Umbrüchen, die Österreich nach dem I. WK durchmachte, sprach sich Metzger für einen „christlichen Sozialismus“ aus, der sowohl kapitalismuskritische Züge trug als auch gegen die religionsfeindlichen Tendenzen eines klassenkämpferischen Kommunismus gerichtet war. Weil Christus nach der Überzeugung Metzgers über den Parteien stand, hielt er sich von parteipolitischem Engagement fern. Zugleich versuchte er, zwischen den konkurrierenden Parteien und der katholischen Kirche Brücken zu bauen – was ihm allerdings den massiven Widerstand von Vertretern der verfeindeten politischen Lager einbrachte.
Metzgers Gesellschaftskritik offenbarte die politische Dimension der Christkönigsthematik. Katholische Spiritualität diente bei Metzger und dessen Missionsgesellschaft nicht nur der Selbstvergewisserung der eigenen Anhängerschaft, sondern tendierte zur Analyse und Behebung der Missstände in allen Bereichen der Gesellschaft, die nicht vom Königsweg der Nächstenliebe geprägt waren, wie sie in der Bergpredigt Jesu aufscheint. Metzger widerstand hierbei der Versuchung, die Rede vom Königtum Christi als polemisches Mittel gegen Andersdenkende zu missbrauchen. Wenn allein Christus König ist, kann sich niemand zum absoluten Herrscher über seine Mitmenschen stilisieren.
Soziale und politische Implikationen der Christkönigsfrömmigkeit
Metzgers „Missionsgesellschaft vom Weißen Kreuz“ und spätere Societas Christi Regis verwendete als Leitmotto einen Satz, der betonte, wer das Zentrum dieser Gemeinschaft bildete: „Christus muss König sein!“ (vgl. 1 Kor 15, 25). Metzger ließ sich bei seinem Engagement für die Königsherrschaft Christi von den Worten und Taten des Völkerapostels Paulus inspirieren, der für die Ausbreitung dieser Botschaft seine Missionsreisen unternommen hatte, und nannte sich ab 1919 innerhalb seiner Gemeinschaft „Bruder Paulus“.
Metzgers Christkönigsverehrung tendierte niemals zu einer Erlangung politischer Macht – dies hätte auch die Herrschaft eines Königs konterkariert, der seine Macht gerade in der Machtlosigkeit am Kreuz ausübte. Wer diesem König nachfolgte, wollte selbst den Armen und Notleidenden beistehen und wurde für deren Nöte sensibilisiert.7 Daraus musste zwangsläufig auch eine politische Haltung erwachsen, die an der Behebung dieser Missstände interessiert war – motiviert durch die Vision von der Königsherrschaft Christi.
Hier liegt auch der Schlüssel zu Metzgers Verständnis von Politik: Der Generalleiter der Christkönigsgesellschaft suchte den Kontakt zu den gesellschaftlichen Strömungen seiner Zeit. Dabei sollte jegliches sozial-caritative Engagement der missionarischen Verkündigung der Königsherrschaft Christi dienen. Diese Herrschaft ist bereits in der Gegenwart wirksam, ihre Vollendung durch Gott steht aber unter einem eschatologischen Vorbehalt. Im Dienst eines Königs, dessen Herrschaft nicht geteilt ist, suchte Metzger danach, dort zu vermitteln, wo Menschen durch materielle Not, soziale Ausgrenzung, konfessionelle Spaltungen oder politisch motivierte Unterdrückung zu leiden hatten. Der Glaube an den Christuskönig sollte alle Lebensbereiche durchdringen.
Im Gefolge des Reichskonkordates von 1933 strebten die Nationalsozialisten hingegen danach, die Kirche aus der Gesellschaft zurückzudrängen und somit zu entpolitisieren. Metzgers Beharren auf einem Laienapostolat mit dem Ziel einer Rechristianisierung der Gesellschaft auch unter den Bedingungen des NS-Staates gewann in diesem Kontext eine dezidiert politische Bedeutung – und die darauf folgenden Repressionen durch die Machthaber zeigten, dass diese die Sprengkraft einer solchen Intention erkannt hatten. Die Hinrichtung nach dem Todesurteil durch Freislers Volksgerichtshof beendete Metzgers Leben und bedeutete zugleich eine Kapitulation der Staatsmacht vor dessen Engagement. Die intendierte Gleichschaltung war gescheitert. Metzgers Bekenntnis zur Königsherrschaft Christi ließ ihn gegen den nationalsozialistischen Totalitarismus standhalten. Der Christkönig blieb für Metzger „Herrscher seines Lebens“ bis zu seinem irdischen Ende. Dies verband ihn mit vielen Widerstandskämpfern des Dritten Reiches, die sich aus ihrer christlichen Grundhaltung heraus gegen die nationalsozialistische Diktatur wandten. Deren konfessionsübergreifendes Bekenntnis zu Christus ließ eine Ökumene entstehen, die den späteren Dialoggesprächen schon weit voraus war: „An die Stelle einer Engführung des Märtyrerbegriffs, die diesen Ehrentitel für die Glaubenszeugen des eigenen Bekenntnisses reservierte, trat eine Entkonfessionalisierung, die zu der Einsicht führte, dass die jeweiligen Märtyrer der katholischen, evangelischen und orthodoxen Kirchen Märtyrer der gesamten Christenheit sind. Mehr noch: In den gemeinsamen Märtyrern ist die ungeteilte Christenheit präsent und die Spaltung der Kirche im Ansatz überwunden.“8
Die Christkönigsverehrung, die ab der Einführung des entsprechenden Hochfestes ihre lehramtliche Bestätigung und weltweite Verbreitung erfuhr, war nicht nur eine Frömmigkeitsform, die im rein liturgischen Kontext praktiziert worden ist. Sie führte bei vielen Christinnen und Christen zu einem dezidierten Christusbekenntnis. Die Christkönigsthematik inspirierte Max Josef Metzger in seinem theologischen Denken und wurde zur Leitidee in dessen kirchlich-gesellschaftlichem Wirken. Aus dem Bekenntnis zu Christus als König gewann Metzger die Kraft zum Einsatz für den Frieden in der Welt und für die Einheit der Kirche – bis zur letzten Konsequenz, der Hingabe seines eigenen Lebens.
Wer sich einsetzt, setzt sich aus
Gemäß eines Diktums des evangelischen Theologen Friedrich Schorlemmer (geb. 1944) gilt: „Wer sich einsetzt, setzt sich aus.“ Menschen wie Metzger, die sich auf der Grundlage ihres Christusglaubens politisch engagieren und exponieren, tragen dazu bei, dass sich der Glaube nicht auf den Kirchenraum beschränkt, sondern vielmehr Mystik und Politik in eine produktive Spannung gebracht werden. Metzger hat diese Spannungen in seinem eigenen Leben erfahren und ausgehalten. Besser als ein Schlusswort bringt ein Gedicht, das er noch in der Todeszelle verfasst hat, zur Sprache, wie er diese Erfahrung in seinem Leben fruchtbar gemacht hat – im Dienst einer Spiritualität, die Mystik und Politik verbindet:
Ich muss gestehn, ich hab‘ sie nie gelernt,
die Kunst, das Krumme – krumm zu lassen!
Ich konnt‘ im ganzen Leben nicht erfassen,
dass man bei Notstand höflich sich entfernt (…)
Was war und bin ich doch ein armer Tor!
Ich bin kein Arzt, musst‘ immer Kranken helfen;
war unbezahlbar, entriss das Schaf den Wölfen;
gen Unrecht trat als Anwalt ich hervor (…)
Ob nun durch Unglück Weisheit ich gewann?
Ich fürchte fast, es scheitert am Gewissen –
ihm hab‘ ich allzeit Treue halten müssen:
Wer sich dafür nicht wagt, der ist kein Mann!
Geht euren Weg – ich seh‘ euch ohne Neid –
ihr klugen Selbstversorger all, ihr Weisen!
Ich geh‘ den meinen – mögt ihr Narr mich heißen:
Mich tröstet meiner Seele Seligkeit.9
K. Lehmann, Der Priester Max Josef Metzger. Gestapo-Haft und Todesurteil. Berlin 2016.
1 Der vorliegende Beitrag basiert auf C. Heß, „Ohne Christus, ohne tiefstes Christentum ist Krieg“. Die Christkönigsthematik als Leitidee im kirchlich-gesellschaftlichen Engagement Max Josef Metzgers. Paderborn 2016.
2 W. Baumeister, Max Joseph Metzger: ein Herold Christi des Königs. Meitingen 1951, 13 (Hervorhebung im Original).
3 M. J. Metzger, Friede auf Erden. Ein Aufruf zur Völkerversöhnung. Graz 1918, 14 (Hervorhebung im Original).
4 M. J. Metzger, Brief vom 19. August 1943 (B 37), in: K. Kienzler, Christuszeuge in einer zerrissenen Welt: Briefe und Dokumente aus der Gefangenschaft 1934–1944. Freiburg i. Br. 1991, 121 (Hervorhebung im Original).
5 „Der Friede Christi im Reich Christi.“
6 In diesem Kontext ist auch die oben bereits erwähnte Aussage Metzgers zu verstehen: „Ohne Christus, ohne tiefstes Christentum ist Krieg“, in: ders., Friede auf Erden, 14 [s. Anm. 3].
7 Wie eine derart akzentuierte Spiritualität in die Tat umgesetzt werden könnte, illustriert anschaulich das „Gebet zu Christus, dem König“ im neuen katholischen Gebet- und Gesangbuch Gotteslob (Ausgabe für die Erzdiözese Freiburg. Gemeinsamer Eigenteil mit der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Stuttgart – Freiburg i. Br. 2013, Nr. 931).
8 E. Schockenhoff, Entschiedenheit und Widerstand. Das Lebenszeugnis der Märtyrer. Freiburg i. Br. 2015, 157. Vgl. hierzu auch K. Mertes, Ökumene des Blutes, in: StdZ 6 (2017), 375–384.
9 M. J. Metzger, Gedicht vom 6. Februar 1944 (B 84), in: K. Kienzler, Christuszeuge in einer zerrissenen Welt, 189 [s. Anm. 4]. Zur weiteren Beschäftigung mit dem Lebenswerk Metzgers sei empfohlen:

Peter Hundertmark | Speyer
geb. 1963, Dr. phil., Pastoralreferent, Geistlicher
Begleiter, Leiter des Referates Spirituelle Bildung im
Bischöflichen Ordinariat Speyer
peter.hundertmark@bistum-speyer.de
Martina Patenge | Mainz
geb. 1956, Pastoralreferentin,
Exerzitienbegleiterin, Gestaltberaterin, Referentin für
Glaubensvertiefung und Spiritualität im Bistum Mainz
martina.patenge@bistum-mainz.de
Gott arbeitet!
Eine theopoietische Wende der Seelsorge
Seelsorge hat einen guten Klang! Seelsorge – im Sinne von Einzelseelsorge – wird gerne in Anspruch genommen: im Krankenhaus, im Gefängnis, am Telefon, online, in Trauersituationen … Erwartet wird geduldiges, mitfühlendes Hören. Erwartet wird spürbare emotionale Solidarität. Erwartet wird ein Beitrag, wie die eigene Existenz in und nach einem Schicksalsschlag, in oder nach einer Krise, in oder nach einem biographischen Übergang neu „zusammengesetzt“, als konsistent erlebt und erzählt werden kann. „Seelsorge“ wird teilweise explizit als religiöses Angebot gesucht – und teilweise unhinterfragt einfach als die nächstbeste Hilfe in Anspruch genommen.
Hilfe, Sinnfindung und Wiederherstellung der Identität kann jedoch auf unterschiedlicher Basis geleistet werden – therapeutisch, sozialarbeiterisch, esoterisch, philosophisch, und eben auch seelsorgerisch. Die verschiedenen Ansätze sind dabei nicht beliebig austauschbar, sondern greifen schwierige Lebenssituationen von unterschiedlichen Seiten und Fachkenntnissen auf. Was bietet die Seelsorge, was die anderen Professionen nicht bieten? Seelsorge unterstützt Hilfesuchende auf dem Weg der Krisenbewältigung und Wiederherstellung ihrer Identität. Sie tut es ausdrücklich religiös. Aber sie ist nicht katechetisch, ist keine Hinführung in Glaube und Kirche. Wie kann spirituell profilierte, theologisch verantwortete, religiös ausdrückliche Seelsorge geschehen, ohne dass die Gesprächspartner(innen) die christliche Symbolwelt vorher kennen und akzeptieren müssen?
Hierzu soll das Konzept einer theopoietischen Seelsorge (ein Kunstwort, abgeleitet von den griechischen Worten für „Gott“ und für „schaffen/arbeiten“) entwickelt werden. Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildet die Erfahrung: Gott „arbeitet“ – und dieses Arbeiten Gottes ist die Grundlage jeder menschlichen Existenz. Aber das eigene Leben so zu deuten, dass hier Gott längst „arbeitet“, ist ein heilsamer, vielleicht auch überraschender Schritt im Verstehen des eigenen Lebens und seiner Sinnzusammenhänge. Dass in dem Kunstwort „theopoietisch“ das Adjektiv „poetisch“ anklingt, ist eher zufällig – und erweitert gleichzeitig charmant die Gedanken zu einem neuen Selbstverständnis von Seelsorge.
Gott ist am Werk
Ausgangspunkt für die theopoietischen Überlegungen ist der Vers in Joh 5,17: „Jesus aber entgegnete ihnen: Mein Vater ist noch immer am Werk, und auch ich bin am Werk.“ Dieser Vers wird üblicherweise im Kontext einer Schöpfungstheologie ausgelegt und stützt dort die Theorie der creatio continua – Gott hat die Schöpfung nicht nur am Anfang konzipiert und auf den Weg gebracht, sondern erhält sie immer weiter. Er erschafft und erneuert sie ständig. Für die Seelsorge ist der Vers in einen weiteren Bedeutungskosmos zu setzen und von daher neu zu bedenken. Denn Gott wirkt gleichzeitig durch Erlebnisse, innere Verarbeitungsvorgänge, Reifungsprozesse in die Personwerdung und Selbstfindung des Menschen hinein. Weil Gott arbeitet, wird Leben möglich.
Hinweise für diese Deutung von Joh 5,17 gibt das Exerzitienbuch des Ignatius von Loyola. In einer der geistlichen Übungen fordert er die Übenden auf, sie sollen „erwägen, wie Gott sich anstrengt und müht um meinetwillen in allen geschaffenen Dingen auf der Welt, das heißt, er verhält sich wie einer, der mühselige Arbeit verrichtet.“ (EB 236)1 Besonders auffallend ist hier die Formulierung „um meinetwillen”, mit der Ignatius das pro me bzw. das propter nos des Glaubensbekenntnisses aufgreift. Ignatius akzentuiert dabei den aktiven Part Gottes: Identität, Freiheit, Mündigkeit und neue Lebensperspektiven sowie Erlösung geschehen nicht einfach, sie sind nicht „nur“ Produkt menschlicher Selbstoptimierung. Sie entspringen vielmehr schon dem Wollen und absichtsvollen Handeln Gottes. Ignatius erlebt und versteht dies so, dass Gott jeweils auf den Einzelnen und dessen Entfaltung hin arbeitet. Es geschieht nicht nur etwas für die Menschheitsgeschichte im Ganzen, sondern Gott müht sich konkret und aktuell für mich. Er müht sich für jede und jeden je individuell und zu jedem Moment des Lebens. Schöpfungs- und Erlösungshandeln Gottes ereignen sich gleichzeitig und zu jedem Zeitpunkt der Geschichte.
Gott arbeitet auf drei Ebenen
Ignatius geht in seiner integralen Sicht des Arbeitens Gottes noch einen Schritt weiter. Als weiteres Element der „Mühe“ Gottes für jeden Menschen fügt er die Charismen und Gaben des Heiligen Geistes hinzu (EB 234). Folgt man dieser Intuition des Ignatius, so klingen in dem Satz „Gott arbeitet“ drei Dimensionen mit: Gott handelt in Schöpfung, Erlösung und Geistsendung. Auf den einzelnen Menschen hin gesagt bedeutet das: Gott handelt für den Körper und seine Bedürfnisse; er handelt für die Seele, für Identität und glückendes Leben mit allen seinen Bezügen, Beziehungen, Fähigkeiten, Hoffnungen, Erfahrungen und Widerfahrnissen; und er handelt für den menschlichen Geist als Ort der Geistbegabung, der Kreativität und des Sehnens über diese begrenzte, endliche Welt hinaus. Gott arbeitet auf diesen drei Ebenen für und mit jedem Menschen, je einzeln und zu jeder Zeit. Diese Arbeit Gottes ist existentiell, sie ereignet sich im Jetzt des Lebens, in dem ein Mensch sich um ein gutes Leben müht.
An dieser Stelle lohnt es sich, inne zu halten und die ganze Wucht dieser Überlegungen bei sich persönlich ankommen zu lassen: Gott arbeitet für mich. Jetzt. Gott arbeitet für meinen Körper, für meine Identität und für mein in Ewigkeit gelingendes Leben. Aber spätestens jetzt wird auch die gesamte Dimension erkennbar: Denn Gott arbeitet natürlich auch für meine Nächsten, meine Fernsten und auch für die, die so ganz anders sind. Er arbeitet sogar für meine Feinde. Auch jetzt. Und er lässt sich bei seiner Arbeit für uns nicht von uns beeindrucken. Er arbeitet unabhängig davon, ob wir religiös sind, gar einer bestimmten Religion oder Konfession angehören, ob wir in einem moralischen Sinn gute oder schlechte Menschen sind. „Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Mt 5,45) Skandalöser noch: Gott arbeitet besonders und zuerst für die Problematischen: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Darum lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Denn ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.“ (Mt 9,12 f.) Gott arbeitet für die Frommen und für die Agnostiker, für Performer und Hedonisten, für Erfahrene und Naive. Gott arbeitet für jede(n), ob sie/er darum weiß oder nicht, damit einverstanden ist oder nicht. Für den Glaubenden birgt alles – Materie, Leben, jeder Ausdruck menschlichen Verstandes – die Möglichkeit, darin eine Spur dieses Wirkens Gottes zu entdecken. Und für die Nicht-Glaubenden „funktioniert“ es trotzdem.
Indem er arbeitet, offenbart sich Gott. Er zeigt sich, indem das Leben seinen Gang geht: zu jeder Stunde und alle Tage. Er zeigt sich, ob er erkannt wird, oder nicht. Aber Gott hofft: Er schafft den Menschen um eines Geschöpfes willen, das gottfähig ist; ein Geschöpf, das die Selbstgabe Gottes verstehen und darauf antworten kann. Wie Gottes Arbeit im individuellen Leben wirkt, muss prinzipiell „lesbar“, verstehbar und benennbar sein. Gottes Zuwendung machte keinen Sinn, wenn sie für den Menschen nicht zu verstehen wäre. Offenbarung zeigt das Geheimnis Gottes – in seinen Wirkungen. „Jesus antwortete ihnen: Ich habe es euch gesagt, aber ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich im Namen meines Vaters vollbringe, legen Zeugnis für mich ab.“ (Joh 10,25)
Offenbarung für Nicht-Religiöse?
An dieser Stelle entsteht allerdings eine Unsicherheit. Was ist dem säkularen Verstehen zugänglich? Kann die Selbstoffenbarung Gottes wahrgenommen werden, wenn Menschen nicht auf religiöse Erfahrung und theologische Vorstellungen des Christentums zurückgreifen können oder wollen?
Hier könnte die Konstitution Dei filius des I. Vaticanums weiterhelfen. Sie setzt in Abschnitt 232 eine wichtige Unterscheidung: Sie zitiert gleichzeitig Röm 1,20 (Gott wird an den Werken der Schöpfung erkannt) und 1 Kor 2,7–11 (Gott kann nur durch die Gabe des Heiligen Geistes erkannt werden). Versucht man dieses Doppelzitat für den hier gegebenen Kontext auszulegen, so ergibt sich: Die spezifische Gestalt der christlichen Offenbarung lässt sich weder einfach aus der Natur noch aus dem menschlichen Denken und Empfinden allein ableiten. Diese spezifische Gestalt erfordert ein „mehr“, um sie überhaupt erkennen zu können: Sie braucht die Wortoffenbarung der Heiligen Schrift und vor allem die Kenntnis des menschgewordenen Wortes Gottes, Jesus Christus.
Dem „natürlichen“ Verstehen ist aber der Bereich der Ethik zugänglich. Jeder Mensch sollte erkennen und unterscheiden können, ob Erlebnisse, Erkenntnisse, Kräfte oder Entdeckungen stimmig, lebensförderlich, zukunftseröffnend wirken oder im Gegenteil zerstörerisch, beengend und lebensbeschädigend sind. In der Linie des I. Vaticanums lässt sich somit sagen, dass Gott in jedem Leben und in allen Situationen wirkt und auf Erlösung hin arbeitet. Die Wirkungen dieses Mühens Gottes können mit der säkularen Vernunft und Emotionalität unterschieden und damit erkannt werden. Es ist aber nicht möglich, dadurch Einsicht in den christlichen Glauben und die biblischen Gottesvorstellungen zu gewinnen. Diese Einsicht entsteht erst durch die Gabe des Geistes im deutenden Wort.
Die Selbstoffenbarung Gottes im eigenen Leben kann also auf einer ersten Ebene „gelesen“ und verstanden werden, ohne dieses Verstehen mit biblisch-christlichen Vokabeln zu kodieren. Damit ist schon Ende des 19. Jh. dem Menschen der Postmoderne ein Weg der Gotteserfahrung und Gottesbegegnung frei geräumt, der auch für die Seelsorge neue Handlungsspielräume eröffnet. Denn während vor der Aufklärung nahezu alle Menschen in Europa auf den christlichen Kosmos aus Worten, Bildern, inneren Vorstellungen und Geboten zurückgriffen, um sich selbst und das eigene Leben zu verstehen und zu deuten, hat sich spätestens mit der Postmoderne eine Trennung eingestellt, die nicht mehr umkehrbar scheint. Die modernen Menschen, Agnostiker ebenso wie Religiose, begreifen sich und deuten ihr Erleben und Handeln zuerst und vollständig ohne Gott. Sie verwenden säkulare Kategorien und greifen höchstens zusätzlich und quasi als „Mehrwert“ auch auf spezifisch christliche, gar theologische Symbolwelten zurück. Sie erzählen sich selbst und ihr Leben, ihre Existenz und Identität etsi Deus non daretur („als wenn es Gott nicht geben würde“).
Da deshalb immer weniger Menschen im Kontakt mit Seelsorger(inne)n oder engagierten Christ(inn)en explizit nach dem „Grund ihrer Hoffnung“ (1 Petr 3,15) fragten, kam es faktisch zu einer Selbst-Säkularisierung seelsorgerlichen Handelns. Weiter verstärkt durch die zweifellos notwendige Integration psychologischer Erkenntnisse und Interventionsformen wurde seelsorgerliches Sprechen in den letzten Jahrzehnten immer zurückhaltender gegenüber biblisch-christlichen Deutungen. Religiös sprachlose Menschen treffen also im schlechtesten Fall auf Seelsorger(innen), die darin ungeübt sind, anspruchsvoll-verstehbare religiöse Sprache je neu kreativ aus der jeweiligen Situation heraus zu entwickeln und so das „Wort Gottes“ frisch, persönlich und poetisch zu sagen. Es ist fast paradox: Die Menschen machen Erfahrungen mit Gott, der für sie arbeitet, können dessen Wirkungen beschreiben, begegnen zugewandten Seelsorger(inne)n – sie können aber dennoch ihr Erleben nicht auf Gott hin deuten.
Eine theopoietische Seelsorge
Der theopoietische Ansatz setzt ganz bei der Lebensrelevanz an und verweist auf das Geheimnis Gottes, der sich in jedem Leben offenbart. Er versucht, Gottes Wirken in der Lebensgeschichte des je einzelnen Menschen aufzufinden und zu benennen und unterstützt so das Bemühen eines Menschen, sich selbst zu verstehen. Jeder Mensch erzählt sein Leben auf eigene Weise. Er schafft sich seine eigene Lebenserzählung – doch diese bleibt provisorisch, experimentell, nur im Jetzt gültig. Ein solcher Blick auf das eigene Leben ist keine objektive Chronik, Beschreibung, auch kein Tatsachenbericht, sondern immer gedeutete Erzählung, die aus einem nur jetzt erkennbaren oder nur jetzt zur Verfügung stehenden Deutungshorizont entstehen kann. Je nach Rolle, Situation, vermuteter Erwartungshaltung der Hörer, je nach Alter, Denk- und Deutegewohnheiten können die Erzählungen des gleichen Sprechers bzw. der gleichen Sprecherin über sein(ihr) Leben stark variieren. Im Freundeskreis erzählt jemand sein Leben anders als im Kontakt mit den eigenen Eltern oder Kindern. Zudem entwickeln sich die Erzählungen des eigenen Lebens ständig weiter, integrieren neue Erlebnisse. Frühere Ereignisse können als „bedeutungslos“ ausgemustert oder im Gegenteil neu bewertet werden. So unterscheiden sich zum Beispiel die Erzählungen, bevor und nachdem Menschen eine Partnerschaft eingegangen sind. Innerhalb einer neuen Partnerschaft erzählen sie ihr Leben anders: Manche frühere Beziehung verschwindet vielleicht aus der Lebenserzählung oder erfährt einen anderen Stellenwert.
Gottes Arbeit wahrnehmen
Weil Gott immer für den Menschen arbeitet, werden in den Deutungen des eigenen Lebens unablässig die Wirkungen der Arbeit Gottes abgespeichert. Dies geschieht unabhängig davon, ob die Autor(inn)en der Lebensgeschichten auf religiöse Deutemuster zurückgreifen können und wollen, ob sie christliches Vokabular verwenden, ob sie Gott als real-mögliche Hypothese akzeptieren, sich gar als gläubige Menschen begreifen oder nicht.
In der theopoietischen Sichtweise greift der/die Seelsorger(in) die Wirkungen Gottes in der Lebensgeschichte auf und eröffnet dadurch eine neue, umfassende Perspektive. In der theopoietischen Seelsorge geschieht nur das, was in allen Alltagsgesprächen ständig vorkommt: Zu einer bestehenden Lebensdeutung wird im Gespräch mit dem/der Seelsorger(in) eine weitere Deutung hinzugefügt und eine Verknüpfung – in diesem Fall zwischen Lebenserzählung und christlicher Verkündigung – geschaffen. Indem so zwei verschiedene Elemente miteinander in Beziehung treten, entsteht ein neuer Raum der Bedeutung.
Es kommt ohne weiteres Zutun der Gesprächspartner(innen) zu einem religionskreativen Geschehen: Die innere Spannung der beiden Erzählungen von Leben und Evangelium lässt das Angebot einer neuen, anderen Deutungs- bzw. Sinnperspektive für das Leben des Gesprächspartners bzw. der Gesprächspartnerin entstehen. Denn nun gerät eine bisher säkulare, eventuell agnostische Lebenserzählung in Spannung zu einer fremden, christlich profilierten Deutung. Der/Die Seelsorger(in) bietet das Mühen und Wirken Gottes als mögliche Deutung der Lebensgeschichte an und legt es zu den bisherigen Deutungen dazu. Unvermeidlich verändert sich die Situation durch diese „Zugabe“. Der betroffene Mensch kann die theopoietische Deutung der Erfahrungen annehmen oder ablehnen. Aber er wird sie, eine wechselseitig wertschätzende Gesprächsatmosphäre vorausgesetzt, kaum ignorieren. In diesem einen Moment bilden die aktuelle Lebenserzählung und die christliche Deutung gemeinsam die Basis, auf der gesprochen wird. Im Idealfall „glauben“ beide Gesprächspartner(innen) in diesem Moment – und vielleicht nur für diesen Moment – an das konkrete, lebenspraktische, wohlwollende Wirken Gottes in den erzählten Begebenheiten. Sie glauben aber nicht einfach die christliche Botschaft, wie sie kodifiziert wurde, sondern sie glauben die personalaktuelle Theologie dieser konkreten Lebensgeschichte: Gottes Wort und Menschenwort ineinander verwoben zu etwas Neuem, jetzt lebendig Pulsierendem, möglicherweise nie Gehörtem.






