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Rechtfertigung und Heiligung gehören für Barth ganz eng zusammen, fallen praktisch in Eins. Sie entsprechen Gottes Selbsterniedrigung und der Erhöhung des Menschen. Beides sind Teile der einen Gnade Gottes. Nachfolge kann wiederum praktisch mit Heiligung in Eins gesetzt werden. So ist es nur folgerichtig, dass ab 1955 für Barth Christ-Sein und Nachfolge leben quasi identisch sind und zu austauschbaren Begriffen werden.
Barth kann in der Folge sprachlich selbständig, aber in der Sache ganz nahe an Bonhoeffer erklären, dass es bei aller Bindung an Christus keine Christusidee, kein christozentrisches Gedankensystem gebe (606). Nachfolge sei konkret, aber gleichzeitig inhaltsleer (607 f.). Doch er sieht Nachfolge keineswegs nur situativ im Gehorsam auf ein jeweiliges Wort Christi. Es brauche auch die nötige Kontinuität. So macht Barth in den Evangelien sechs Grundlinien aus. In ihnen geht es um Besitz, Ehre, Gewalt, Familie, Religion und das Tragen des Kreuzes. Bei allem neuerlichen und gegenwärtigen Gebieten Christi ist Barth überzeugt: „Eine Abweichung von jenen Hauptlinien wird (…) nicht in Frage kommen“ (626).
Es muss bei diesen ausgewählten Gedanken Barths zur Nachfolge bleiben. Seine Darlegungen sind viel umfangreicher, differenzierter und tiefer. Die Rechtfertigung und die Gnade sind für Barth der Sache nach eindeutig der Nachfolge vorgeordnet. Darin möchte ich Barth zustimmen. Nachfolge ist damit von einer großen Last befreit. Dass allerdings Nachfolge bei ihm dann quasi zu einem Synonym für Christ-Sein wird, wirft doch Rückfragen auf. Weder sind alle Anhänger(innen) Jesu zu dessen Zeit in seiner Nachfolge gewesen, noch zeigen aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen, dass allen Kirchenmitgliedern eine Orientierung an der Botschaft Jesu wichtig ist.7 Barth meinte – trotz aller inhaltlichen Offenheit – sechs Grundlinien für ein Leben in der Nachfolge benennen zu können. Allein schon die Tatsache, dass hier die Nächstenliebe fehlt, wirft Bedenken auf und zeigt die Vorläufigkeit seiner Entscheidung.
Karl Barth hat sich sicherlich durch Bonhoeffer stark in seinen Gedanken zur Nachfolge anregen lassen. Aber er hat seinen Nachfolge-Gedanken sehr eigenständig entwickelt und differenziert dargelegt. Dass Gott die Gemeinschaft, den Bund mit dem Menschen sucht, ist bei ihm dabei ein Ausgangspunkt und eine Grundlage, die weitreichend seine Gedanken prägt. Man kann direkt bedauern, dass Barths Nachfolge-Gedanke im Mammutwerk seiner Kirchlichen Dogmatik nicht selbständig stärker zur Wirkung kommt.
Albrecht Schönherr
Albrecht Schönherr war nach dem Studium der Theologie und einem Vikariat in Potsdam Seminarist bei Bonhoeffer in Finkenwalde. Dort begegnete er dessen Nachfolge-Gedanken. Er bezeugt in seiner Autobiographie, dass niemand außer seiner Mutter ihn in seinem Leben so geprägt habe wie Bonhoeffer in jener Zeit. Und in der Tat, soweit ich sehen kann, gibt es niemanden, der erkennbar den Nachfolge-Gedanken Bonhoeffers so stark und so vollständig für sein eigenes Leben aufgenommen hat wie Albrecht Schönherr. Er ist davon durchdrungen. Später wurde Schönherr Bischof von Berlin-Brandenburg und der erste Vorsitzende des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. In allen seinen Funktionen und darüber hinaus wurde deutlich, wie sehr Schönherr vom Nachfolge-Gedanke geprägt war. Konsequent gedacht hörte das Leben in der Nachfolge für ihn mit dem Eintritt in den Ruhestand nicht auf.8 In seinen Veröffentlichungen geht es vielfach um Nachfolge. Teilweise ist der Begriff schon in den Titeln zu finden. Wer sich auf den Nachfolge-Gedanken bei Schönherr einlässt, merkt schnell, dass dieser sehr wohl ein qualifizierter Theologe war. Aber er arbeitete als Mann der Kirche und nicht unbedingt wissenschaftlich bzw. akademisch. Das führt freilich dazu, dass seine Gedanken sehr praxisnah sind. Sie sind geprägt durch seine langjährige Lebenserfahrung und sie sind nicht nur Resultate einer abstrakten Geistesarbeit. Der Nachfolge-Gedanke bei Albrecht Schönherr kommt damit stark verändert gegenüber Bonhoeffer zum Ausdruck. Ohne dass sich Schönherr irgendwo deutlich gegen Bonhoeffer abgrenzt, hat er doch sehr eigenständig den Nachfolge-Gedanken weiterentwickelt.
Christlicher Glaube ist für Albrecht Schönherr einfach Nachfolge. Die Überschneidung oder den Unterschied zu anderem Verständnis von Glauben diskutiert er nicht. Allerdings bezeichnet er Nachfolge auch nicht als den einzigen Weg zum Heil. Die Frage der Gnade, besonders der Rechtfertigung berührt Schönherr nur wenig, aber es wird deutlich, dass für ihn die Rechtfertigung allein aus Glauben kommt und nicht durch unser Tun. Sie ist somit der Nachfolge vorgeordnet. Rechtfertigung kann für ihn auch bedeuten, bereit gemacht zu werden zum Dienst an Christus.9 Nicht zuletzt, weil der Begriff des Glaubens vieldeutig und unscharf geworden sei, spricht er lieber von Nachfolge. Dabei darf der Christ/die Christin an keiner Stelle und in keiner Position Christus als die Mitte aus den Augen verlieren.10
Zentral ist bei ihm die Frage, die er quasi von Bonhoeffer übernommen hat und die bei ihm in geringfügigen Variationen immer wieder auftaucht: „Wer ist Christus für uns heute?“11 Diese Leitfrage dient dazu, die Orientierung für das eigene Handeln zu gewinnen. Dabei ist für Schönherr unstrittig, dass es ein klares, Weg weisendes Wort Christi kaum gibt. Doch Christus kann uns in vielfältiger Weise Zeichen geben und in allem ist mit ihm zu rechnen. Dabei kann es sehr schwierig bleiben, die jeweils richtigen nächsten Schritte zu erkennen. Entscheidungen können für Schönherr durchaus „Schritte im Dunkeln“ sein.12 Der Mensch müsse aber in der Nachfolge Verantwortung übernehmen und damit auch die Gefahr von bzw. die Bereitschaft zu Fehlentscheidungen eingehen. Damit beschreitet Schönherr einen anderen Weg als Bonhoeffer mit der Forderung des einfältigen Gehorsams. Für Schönherr heißt Nachfolge „Fühlung mit Jesus“ halten.13 Das Leben in der Nachfolge ist ein Leben in der Schule Gottes mit ständig neuen Überraschungen. Wiederholt spricht er vom „Abenteuer der Nachfolge“. Was das Auf-sich-Nehmen des Kreuzes betrifft, so spielt es bei Schönherr eine deutlich geringere Rolle als bei Bonhoeffer. Bei Schönherr wird vielmehr gleichwertig dagegengestellt, dass wir mit Christus siegen werden.14 Das leichte Joch Christi auf sich zu nehmen, führe zur Freude.
Schönherr wendet die Vorstellung von Nachfolge nicht nur für den einzelnen Christen an, sondern auch auf die Kirche an sich. Sie muss sich selbst fragen, was es für sie bedeutet, Nachfolge zu leben. Weit stärker als bei Bonhoeffer wird sie damit Kirche für andere.15 Kirche darf sich folglich nicht zu sehr um sich selber kümmern und laut Schönherr nicht vorrangig „Körperpflege“ betreiben. Es könne durchaus Christus entsprechen, wenn sie in Lumpen einhergehe.16 Kirche ist für Schönherr Zeugnis- und Dienstgemeinschaft. Schönherr kann aber gleichfalls von der Kirche als einer Lerngemeinschaft reden, denn Nachfolge bedeutet für ihn ein ständiges Lernen in der Schule Gottes und man erlernt sie nicht im Selbststudium.
Zahlreiche kleinere, praktische Akzente machen Schönherrs Beschreibung von Nachfolge in theologisch wohl verantworteter Weise weiter sympathisch. Als Beispiele seien hier nur genannt: Während für Bonhoeffer gilt, dass dem Ruf Christi unmittelbar Folge zu leisten ist, kann Schönherr die Erkenntnis weitergeben, dass der Ruf Christi und der Eintritt in die Nachfolge zeitlich durchaus auseinanderfallen können. Nachfolge bedeutet bei Schönherr auch keinen ständigen Aktivismus. Es kann auch einmal „Rasttag“ sein. Schließlich, gerade weil es zu entdecken gilt, was Christus heute von uns will, gewinnen für ihn Gruppen in der Gemeinde neue Bedeutung. Hier können die Menschen in der Nachfolge einander beraten und einander beistehen.
Albrecht Schönherr beeindruckt dadurch, dass er bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten, ohne dabei aufdringlich zu werden, von Nachfolge Christi gesprochen hat. Seine Worte bekommen dadurch Gewicht, dass in ihnen zum Ausdruck kommt oder man in ihnen deutlich spürt, dass Albrecht Schönherr diese Vorstellung von Nachfolge selbst als Lebens- und Glaubenskonzept praktiziert hat. Er spricht aus eigener Erfahrung. Wer akademische Durchdringung sucht, wird wahrscheinlich bei Schönherr an manchen Punkten die letzte Klarheit vermissen. Wer aber sich auf den Weg der Nachfolge einlassen will für das eigene Leben, kann bei ihm sehr wertvolle Gedanken finden.
Die Herausforderung bleibt
Von Nachfolge zu sprechen, ist heute noch für viele faszinierend. Dass dabei Nachfolge Christi anders verstanden werden muss als in der Zeit, von der die Evangelien über Jesu und seine Jünger(innen) berichten, liegt auf der Hand. Doch an drei prominenten Beispielen aus der Evangelischen Kirche konnte gezeigt werden, dass die Vorstellungen von Nachfolge heute deutlich auseinandergehen. In Wirklichkeit ist die Vielfalt noch viel größer. Dabei liegen ganz wichtige Fragen auf dem Tisch.
Dietrich Bonhoeffer geht von einem strikten, nämlich dem „einfältigen Gehorsam“ aus, der Christus gegenüber geleistet werden müsse. Dieser Weg der Nachfolge ist für ihn der einzige Weg zum Heil. Das führt unter anderem dazu, dass die wahre Kirche Christi immer nur eine kleine Schar bleiben wird. Wie dann diese kleine Schar mit den zahlreichen Gläubigen besonders in den großen Volkskirchen ins Verhältnis zu setzen ist, bleibt bei ihm offen, müsste aber geklärt werden.
Karl Barth und Albrecht Schönherr unterscheiden praktisch nicht zwischen Christ-Sein und Nachfolge. Doch damit bekommen sie auf der anderen Seite wie Bonhoeffer ein Problem. Denn weder durch die Evangelien noch durch aktuelle religionssoziologische Studien kann solch eine Vorstellung gestützt werden. Vielmehr muss man von dorther sagen, dass keineswegs alle, die sich als Christen verstehen, ständig den Blick auf Christus haben, wie alle drei vorgestellten Autoren dies erwarten.
Weitere gleichgewichtige Fragen könnten aufgelistet werden. Es gibt viel Klärungsbedarf, wenn wir von Nachfolge reden. Sicher ist vermutlich nur eins: Auch in Zukunft wird über Nachfolge unterschiedlich gedacht werden. Aber gerade deswegen ist es nötig, Rechenschaft zu geben und offen zu legen, was wir je mit Nachfolge meinen.17 In der Vergangenheit wurde das oft nicht hinreichend geleistet. Doch die Herausforderung bleibt und verspricht spannende Diskussionen.
1 J. Thorer, Gott oder Gottes Willen finden, in: GuL 89 (2016), 229. Zur Unterscheidung von Nachahmen und Nachfolgen braucht es eine eigene Diskussion, die im Rahmen dieses Artikels nicht geführt werden kann.
2 B. Liebendörfer, Die Rezeption von Dietrich Bonhoeffers „Nachfolge“ in der deutschsprachigen Theologie und Kirche. Stuttgart 2016.
3 Eine ausführliche Darstellung in: B. Liebendörfer, Der Nachfolge-Gedanke Dietrich Bonhoeffers und seine Potentiale in der Gegenwart. Stuttgart 2016. J. Ratzinger, Künder des Wortes und Diener eurer Freude. Theologie und Spiritualität des Weihesakramentes. Freiburg i.Br. u.a. 2010, 480.
4 D. Bonhoeffer, Nachfolge, in: M. Kuske / I. Tödt (Hrsg.), Dietrich Bonhoeffer Werke 4, Gütersloh 32002, 52.
5 E. Bethge, Dietrich Bonhoeffer, Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie. Gütersloh 92005, 518 f.
6 K. Barth, Brief an Walter Herrenbrück, in: D. Koch (Hrsg.), Karl Barth. Offene Briefe 1945–1968, in: H. Stoevesandt (Hrsg.), Karl Barth. Gesamtausgabe, Bd. V: Briefe, 327.
7 Das gilt zumindest für die evangelischen Christen in Deutschland. Vgl. W. Huber u.a. (Hrsg.), Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 2006, 63.
8 A. Schönherr, Abenteuer der Nachfolge. Reden und Aufsätze 1978–988. Berlin 1988, 9.
9 Ders., Horizont und Mitte. Aufsätze, Vorträge, Reden 1953–1977. München 1979, 292.
10 Ders., Abenteuer der Nachfolge, 205 [s. Anm. 8].
11 Ders., Horizont und Mitte. Aufsätze, 49; 95; 110; 111 f.; 137 [s. Anm. 9].
12 Ebd., 124.
13 A. Schönherr, Abenteuer der Nachfolge, 207 [s. Anm. 8].
14 Ders., Horizont und Mitte, 49 [s. Anm. 9].
15 In seinen späten Jahren ist es für Bonhoeffer gleichwohl wichtig, dass Kirche Kirche für andere ist. Doch wie auch der Gedanke der Verantwortung in seiner Ethik eine große Rolle spielt, aber eben noch nicht in seiner Nachfolge, so dürfen auch diese späteren Gedanken nicht in Bonhoeffers Nachfolge-Verständnis hineingetragen werden. Die autorisierte Fassung Bonhoeffers Nachfolge-Verständnisses findet sich nur in seinem Buch Nachfolge selbst.
16 A. Schönherr, Abenteuer der Nachfolge, 56 f. [s. Anm. 8].
17 Vgl. dazu als einen Diskussionsbeitrag B. Liebendörfer, Bonhoeffers Nachfolge-Gedanke und seine Potentiale in der Gegenwart. Stuttgart 2016, 261–386 [s. Anm. 3] oder ders., Nachfolge Christi leben – Schritte des Vertrauens wagen. Stuttgart 2017.
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