- -
- 100%
- +
Das Leben besteht aus Extremen. Leben ist die Spannung zwischen den Gegensätzen. Ständig genau in der Mitte zu sein wäre der Tod. Die Mitte ist nur eine theoretische Möglichkeit. Nur ab und zu befindest du dich in der Mitte, als vorübergehende Phase. Es ist wie Seiltanzen: Du kannst nicht lange genau in der Mitte sein. Wenn du das versuchst, stürzt du ab.
In der Mitte zu sein ist kein statischer Zustand, sondern ein dynamisches Phänomen. Balance ist kein Hauptwort, sondern ein Zeitwort – eigentlich ist es ein Balancieren. Der Seiltänzer bewegt sich ständig von links nach rechts, von rechts nach links. Wenn er spürt, dass er sich zu sehr nach einer Seite gelehnt hat und Gefahr läuft abzustürzen, gleicht er es sofort aus und lehnt sich nach der anderen Seite. Beim Übergang von links nach rechts, von rechts nach links, genau in diesem Augenblick, ist der Seiltänzer in der Mitte. Wenn er sich aber zu sehr nach einer Seite gelehnt hat und Angst haben muss, zu fallen und das Gleichgewicht zu verlieren, verlagert er sein Gewicht nach der anderen Seite, und dabei ist er wieder für einen kurzen Augenblick in der Mitte.
Das ist gemeint, wenn ich sage, Balance ist kein Hauptwort, sondern ein Zeitwort. Es geht um ein Balancieren, einen dynamischen Prozess. Du kannst nicht exakt in der Mitte bleiben. Du bewegst dich ständig von links nach rechts und von rechts nach links – das ist die einzige Möglichkeit, in der Mitte zu bleiben.
Vermeide nicht die Extreme. Und wähle keines der Extreme. Bleibe offen für beide Pole – darin besteht die Kunst, das Geheimnis des Balancierens. Ja, manchmal bist du total glücklich, und manchmal bist du total traurig – und beides hat seine Schönheit.
Der Verstand wählt ständig. Dadurch entsteht das Problem. Bleibe wahlfrei. Egal was geschieht, egal wo du bist – rechts oder links, in der Mitte oder nicht in der Mitte: Genieße diesen Augenblick in seiner Totalität. Wenn du glücklich bist und tanzt und singst und Musik machst – sei einfach glücklich! Und wenn die Traurigkeit kommt – und sie wird kommen und muss kommen, das ist unvermeidlich, das kannst du nicht verhindern … Sobald du versuchst, es zu verhindern, machst du damit die ganze Möglichkeit zunichte, glücklich zu sein.
Der Tag kann nicht ohne die Nacht existieren, der Sommer kann nicht ohne den Winter existieren. Das Leben kann nicht ohne den Tod sein. Nimm diese Tatsache der Polarität tief in dein Wesen auf. Es gibt keine Möglichkeit, ihr zu entgehen. Die einzige Möglichkeit wäre, sich immer mehr abzutöten – nur ein Toter kann in einer statischen Mitte sein. Ein lebendiger Mensch ist stets in Bewegung – vom Zorn zum Mitgefühl, vom Mitgefühl zum Zorn … Und er akzeptiert beides, er identifiziert sich weder mit dem einen noch mit dem anderen. Er bleibt distanziert, aber dennoch involviert, nicht identifiziert und dennoch engagiert. Ein lebendiger Mensch genießt alles und verweilt darin wie eine Lotusblüte – im Wasser lebend, aber vom Wasser dennoch unberührt.
Dein Bemühen, in der Mitte zu sein und für immer und ewig in der Mitte zu bleiben, erzeugt dir nur unnötigen Stress. Eigentlich ist dieser Wunsch, immer in der Mitte zu sein, ebenfalls ein Extrem, das schlimmste überhaupt, weil es in die Kategorie des Unmöglichen fällt. Es lässt sich einfach nicht bewerkstelligen. Stell dir mal eine dieser Großvateruhren vor: Wenn du das Pendel genau in der Mitte festhältst, bleibt sie stehen. Eine solche Uhr funktioniert nur, wenn sich das Pendel ständig von links nach rechts und von rechts nach links bewegen kann. Natürlich geht es dabei jedes Mal durch die Mitte, und für einen Augenblick ist es völlig zentriert, aber nur für einen kurzen Augenblick.
Und das ist schön so! Beim Übergang vom Glücklichsein zum Traurigsein, vom Traurigsein zum Glücklichsein gibt es einen Augenblick der absoluten Ruhe – genau in der Mitte. Das kannst du genießen. Das Leben muss in all seinen Dimensionen gelebt werden, nur dann wird es ein reiches Leben sein. Wer nur auf der linken Seite bleibt, ist arm, wer nur auf der rechten Seite bleibt, ist arm, und wer sich nur in der Mitte aufhält, ist tot! Ein lebendiger Mensch ist weder ein Linker noch ein Rechter, noch ist er ein Anhänger des Zentrums. Er bleibt ständig in Bewegung, er ist im Fluss.
Warum willst du überhaupt in der Mitte sein? Weil du Angst hast vor den Schattenseiten des Lebens. Du willst nicht unglücklich, willst nicht verzweifelt sein. Aber das ist nur möglich, wenn du bereit bist, auch auf die Ekstase zu verzichten. Einige Menschen entscheiden sich dafür – es ist der Weg des Mönchs. Seit vielen Jahrhunderten ist das der Weg des Mönchs: Er ist bereit, jede Möglichkeit für Ekstase zu opfern, nur um der Seelenpein zu entgehen. Er ist bereit, sämtliche Rosen zu vernichten, nur um den Dornen zu entgehen. Aber das macht sein Leben schal und eintönig, ein ödes Dasein voller Stagnation und Langeweile. Er lebt nicht wirklich. Er hat Angst vor dem Leben.
Das Leben enthält beides: Es bringt großen Schmerz und es bringt auch große Lust. Schmerz und Lust sind die zwei Seiten einer Münze. Wenn du das eine ausschließt, musst du auch das andere ausschließen. Das war seit jeher eines der grundlegenden Missverständnisse: zu meinen, man könne den Schmerz loswerden und die Lust behalten, man könne der Hölle entgehen und den Himmel erlangen, man könne das Negative vermeiden und nur das Positive wählen. Das ist ein großer Irrtum. Es ist unmöglich. Es liegt nicht in der Natur der Sache. Das Positive und das Negative gehören zusammen, unvermeidlich und unteilbar zusammen. Es sind die beiden Aspekte ein und derselben Energie. Wir müssen beides akzeptieren. Schließe alles mit ein, sei alles. Wenn du auf der linken Seite bist, lass dir nichts entgehen – genieße es! Auf der linken Seite zu sein hat seine eigene Schönheit, und diese Schönheit entgeht dir, wenn du auf der rechten Seite bist. Dort sieht es ganz anders aus. Und in der Mitte zu sein hat eine Stille und einen Frieden, den du bei keinem der Extreme finden wirst. Darum genieße alles. Bereichere dadurch ständig dein Leben.
Kannst du nicht auch in der Traurigkeit eine Schönheit sehen? Meditiere darüber. Wenn du das nächste Mal traurig bist, kämpfe nicht dagegen an. Verschwende keine Zeit damit, dich dagegen zu wehren. Akzeptiere sie, heiße sie willkommen, lass sie ein willkommener Gast sein. Schau sie dir an, voller Liebe und Wohlwollen, in ihrer ganzen Tiefe. Sei ihr ein guter Gastgeber. Du wirst dich wundern! Du wirst eine unbegreifliche Überraschung erleben: Die Traurigkeit hat ein paar schöne Seiten, wie sie die Fröhlichkeit nie haben kann. Die Traurigkeit hat eine Tiefe – dagegen ist die Fröhlichkeit nur oberflächlich. Die Traurigkeit bringt Tränen, die viel tiefer gehen als jedes Lachen. Die Traurigkeit hat ihre eigene Stille, ihre eigene Melodie, die die Fröhlichkeit niemals haben kann. Die Fröhlichkeit hat auch ihre Musik, aber sie ist lauter, nicht so still.
Ich sage nicht, dass du die Traurigkeit wählen sollst. Ich sage nur, dass du auch sie genießen kannst. Wenn du fröhlich bist, genieße die Fröhlichkeit. Schwimme an der Oberfläche, aber manchmal tauche im Fluss ganz tief hinunter. Es ist derselbe Fluss! An der Oberfläche genießt du das Spiel der Wellen und die Schaumkronen, die Sonnenstrahlen und den Wind – sie haben ihre eigene Schönheit! Aber tief ins Wasser hinabzutauchen hat seine eigene Qualität, sein eigenes Abenteuer, seine eigenen Risiken.
Und halte nichts fest. Manche Menschen halten zu sehr an ihrer Traurigkeit fest. Die Psychologen kennen das und bezeichnen solche Leute als Masochisten: Sie kreieren sich ständig Situationen, in denen sie permanent unglücklich sein können. Unglücklich zu sein ist das Einzige, was sie genießen können. Sie haben Angst davor, glücklich zu sein. Im Unglück fühlen sie sich zu Hause. Viele Masochisten werden fromm, weil die Religion für ihre psychische Verfassung einen wunderbaren Deckmantel bereitstellt. Die Religion liefert eine großartige Rationalisierung für Masochismus.
Ohne religiöse Verbrämung fühlt sich ein Masochist schnell verurteilt und unbehaglich – ihm ist nicht wohl in seiner Haut, er fühlt sich krank. Irgendwie weiß er, dass er nicht normal ist. Er fühlt sich schuldig für die Art, wie er sein Leben lebt, und trachtet es zu verbergen. Wird ein Masochist aber religiös, so kann er seinen Masochismus stolz zur Schau stellen. Dann ist er kein Masochist mehr – er ist ein Asket! Er lebt ein frommes, enthaltsames Leben. Das nennt sich dann „Selbstdisziplin“, nicht Selbstquälerei. Geändert hat sich aber nur die Bezeichnung.
Einen solchen Menschen wird niemand als abnorm bezeichnen – er ist ja ein Heiliger! Niemand wird ihn als Psychopathen bezeichnen, denn er ist fromm geworden, ein Heiliger. Die Masochisten haben sich schon immer zur Religion hingezogen gefühlt. Für sie besitzt die Religion eine große Anziehungskraft. Tatsächlich sind im Lauf der Jahrtausende so viele Masochisten bei der Religion gelandet – was natürlich und verständlich ist –, dass alle Religionen schließlich nur noch von Masochisten beherrscht waren. Darum findet sich in den Religionen so viel Lebensverneinendes und Lebensverachtendes. Sie sind nicht für das Leben, für die Liebe, für die Freude. Sie betonen ständig, welch ein Jammertal dieses Leben sei! Aber durch diese ständige Behauptung, dass Leben Leiden bedeute, rationalisieren die Religionen nur ihr eigenes Festhalten am Leiden.
Ich habe eine schöne Geschichte gehört … Ob sie wahr ist, weiß ich nicht. Ich kann für nichts garantieren.
Eines Nachmittags im Paradies treffen sich an einem Tisch im bekanntesten Szenecafé Laotse, Konfuzius und Buddha zu einem Schwätzchen. Der Kellner bringt drei Gläser „Lebenssaft“ auf einem Tablett und offeriert jedem von ihnen ein Glas. Buddha schließt sofort die Augen und macht eine abwehrende Geste mit den Worten: „Leben ist Leiden.“
Konfuzius – wie man weiß, ein Anhänger der Mitte, der immer den goldenen Mittelweg predigte – betrachtet das Glas mit halb geöffneten Augen und bittet den Kellner, ihm ein Glas hinzustellen. Er möchte es gerne probieren – aber nur ein Schlückchen! Schließlich sollte man davon gekostet haben, bevor man sagen kann, ob das Leben Leiden ist oder nicht. Konfuzius war ein wissenschaftlicher Denker, nicht gerade ein Mystiker. Er hatte einen ganz pragmatischen, weltlichen Verstand – er muss der erste Verhaltensforscher der Welt gewesen sein, total logisch. Und was er sagt, macht Sinn: „Zuerst muss ich einen Schluck probieren, dann kann ich sagen, was ich davon halte.“ Er nimmt einen Schluck, und dann sagt er: „Buddha hat Recht. Leben ist Leiden.“
Laotse stellt alle drei Gläser vor sich hin und sagt: „Wie kann man irgendetwas sagen, ohne es völlig ausgekostet zu haben?“ Er leert alle drei Gläser in einem Zug und fängt an zu tanzen.
Buddha und Konfuzius fragen ihn: „Willst du nichts dazu sagen?“ Und Laotse sagt: „Tue ich doch schon. Spricht nicht mein Tanzen und Singen für mich?“ Wenn man es nicht völlig ausgekostet hat, kann man gar nichts sagen. Und wenn man es total ausgekostet hat, kann man erst recht nichts sagen – weil das, was man erfahren hat, sich nicht in Worte fassen lässt.
Buddha repräsentiert das eine Extrem, Konfuzius die Mitte. Laotse leert alle drei Gläser – das für Buddha bestimmte, das für Konfuzius bestimmte und sein eigenes Glas. Er trinkt alles bis zur Neige – er lebt das Leben in seiner Dreidimensionalität.
Meine Vorgehensweise ist die von Laotse: Lebe das Leben auf jede erdenkliche Weise. Bevorzuge keine Sache gegenüber einer anderen und versuche nicht, in der Mitte zu bleiben. Versuche nicht, dich in der Balance zu halten. Die Balance ist nicht etwas, das sich kultivieren ließe. Die Balance stellt sich als Summe deiner Erfahrungen sämtlicher Lebensdimensionen von selbst ein. Die Balance geschieht– sie kann nicht durch deine Bemühungen herbeigeführt werden. Wenn du dich darum bemühst, ist sie unecht und erzwungen. Du wirst dich dabei verkrampfen, wirst nicht entspannt sein. Wie kannst du entspannt sein, wenn du dich ständig bemühst, die Balance in der Mitte zu halten? Du wirst immer Angst haben, dass du zu weit nach links oder nach rechts gerätst, wenn du dich entspannst. Dann wirst du ständig kontrolliert und angespannt sein. Aber so verpasst du die Gelegenheit – dieses ganze wunderbare Geschenk des Lebens!
Sei nicht kontrolliert. Lebe das Leben nicht nach bestimmten Prinzipien. Erlebe das Leben in seiner Ganzheit, trinke das Leben in seiner Ganzheit! Natürlich schmeckt es manchmal bitter – na und? Nur wenn du den Geschmack des Bitteren kennst, kannst du auch die Süße schmecken. Du kannst die Süße des Lebens erst wertschätzen, wenn du von seiner Bitterkeit gekostet hast. Wer nicht weinen kann, der kann auch nicht lachen. Wer nicht ein tiefes Lachen, ein Lachen aus dem Bauch, genießen kann, wird nur Krokodilstränen vergießen können. Seine Tränen werden nicht authentisch und echt sein.
Ich befürworte nicht den Mittelweg, ich befürworte den totalen Weg. Dann wird sich eine Balance ganz von selbst einstellen, und diese Balance wird von immenser Schönheit und Anmut sein. Sie ist nicht erzwungen, sie kommt von allein. Wenn du dich anmutig nach links und nach rechts und durch die Mitte bewegst, wird sich allmählich eine Balance einstellen, weil du mit nichts identifiziert bist. Wenn Traurigkeit kommt, weißt du, dass sie vorübergeht. Wenn Fröhlichkeit kommt, weißt du, dass auch sie vorübergeht. Nichts bleibt, wie es war. Alles geht vorüber. Das Einzige, was bleibt, ist dein wahrnehmendes Bewusstsein, dein Zeugesein. Dieses Zeugesein bringt die Balance. Dieses Zeugesein ist die Balance.
Körper und Seele – eine kurze Geschichte der Religion
Die Religion ist durch viele Entwicklungsphasen gegangen. Am Anfang stand die magische Religion, und sie hat bis heute überlebt. Viele Naturvölker auf der Welt befinden sich auf dieser ersten religiösen Stufe, die aus magischen Opferritualen an die Götter besteht. Es ist eine Art Bestechung: „Mögen die Götter uns helfen und uns beschützen!“ Alles was als wertvoll gilt – Lebensmittel, Kleider, Schmuck, alles Mögliche – wird den Gottheiten geopfert. Selbstverständlich wird es nicht von einem Gott in Empfang genommen, sondern von einem Priester. Er ist der Vermittler, und er ist derjenige, der davon profitiert.
Und das Eigenartige ist, dass das Bewusstsein der Menschheit seit mindestens zehntausend Jahren in dieser magischen, ritualistischen Religion gefangen ist – obwohl es sich erwiesen hat, dass die Bestechung meistens erfolglos bleibt. Zu neunundneunzig Prozent scheitern die Versuche! Wenn zum Beispiel der große Regen ausbleibt, wird ein magisches Opferritual vollzogen, um die Götter günstig zu stimmen, damit sie den Regen schicken. Und manchmal kommt er tatsächlich. Aber er kommt auch zu all jenen, die nicht den Göttern gehuldigt und das Ritual vollzogen haben. Er kommt genauso zu den Feinden der Menschen, die darum gebetet haben.
Der Regen hat nichts mit den Ritualen zu tun, aber der Regen wird als Beweis dafür genommen, dass das Ritual erfolgreich war. In neunundneunzig von hundert Fällen ist das Ritual erfolglos. Es kann keinen Erfolg haben, weil es nichts mit dem Wetter zu tun hat. Es gibt keinen wissenschaftlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Ritual – der Feuerzeremonie, den Mantras – und den Regenwolken.
Die Priester sind mit Sicherheit schlauer als die Menschen, die von ihnen ausgebeutet werden. Sie wissen ganz genau, was in Wirklichkeit vor sich geht. Die Priester haben noch nie an Gott geglaubt, vergesst das nicht. Sie können nicht an Gott glauben, geben sich aber den Anschein, als glaubten sie an ihn, mehr als jeder andere. Sie müssen so tun; es ist ja ihr Beruf. Je stärker ihr Glaube, umso größere Menschenmassen werden sie anziehen – deswegen legen sie sich mächtig ins Zeug. Mir ist aber noch nie ein Priester begegnet, der wirklich geglaubt hat, dass Gott existiert. Wie kann er es glauben, wenn er doch tagtäglich miterlebt, dass kaum ein Ritual oder ein Gebet jemals den gewünschten Erfolg bringt. Und wenn, dann ist es reiner Zufall. Meistens ist es erfolglos. Aber er liefert sogleich eine Erklärung für die armen Leute: „Ihr habt das Ritual nicht richtig gemacht. Ihr wart dabei nicht von reinen Gedanken erfüllt.“
Nun, wer ist schon erfüllt von reinen Gedanken? Was ist überhaupt ein reiner Gedanke? Bei einem Ritual des Jainismus, zum Beispiel, müssen die Leute fasten. Während sie das Ritual ausführen, denken sie dauernd ans Essen – und das ist ein unreiner Gedanke. Ein hungriger Mensch, der ans Essen denkt … Ich finde nicht, dass das ein unreiner Gedanke ist. Es ist genau der richtige Gedanke! Eigentlich ist es ein Fehltritt, wenn jemand in einem solchen Moment das Ritual fortsetzt. Er sollte schnurstracks in ein Restaurant gehen!
Doch der Priester liefert ihm eine einfache Erklärung, warum das Ritual nicht funktionierte: Gott lässt euch nie im Stich – er ist immer bereit, euch zu beschützen. Er ist der Schöpfer, der Erhalter, der Lieferant – er lässt euch nie im Stich. Aber ihr habt ihn im Stich gelassen! Während ihr eure Gebete sprecht oder dem Ritual folgt, seid ihr voller unreiner Gedanken. Und die Leute wissen natürlich, dass der Priester Recht hat, denn sie haben an Essen gedacht. Oder an eine schöne Frau, die gerade vorüberging und das Verlangen in ihnen weckte, sie zu besitzen. Diese Gedanken haben sie natürlich weggedrängt – aber es war schon zu spät! Es war schon passiert. Alle wissen, dass sie unreine Gedanken haben.
Ich kann darin überhaupt nichts Unreines sehen. Wenn eine schöne Frau an einem Spiegel vorbeikommt, wird er die schöne Frau reflektieren. Ist der Spiegel deshalb „unrein“? Dein Bewusstsein ist ein Spiegel – er reflektiert einfach. Dein Bewusstsein nimmt alles wahr, was um dich herum geschieht. Und dein Verstand kommentiert alles; er liefert ständig seine Kommentare dazu. Wenn du es beobachtest, wirst du dich wundern: Einen besseren Kommentator findest du nicht. Dein Verstand wird dir sagen: „Diese Frau ist schön.“ Und wenn du das Verlangen nach Schönheit hast, sehe ich darin nichts Verkehrtes. Wenn du das Verlangen nach Hässlichkeit hättest, wäre etwas verkehrt; dann wärest du krank. Schönheit verlangt nach Bewunderung. Wenn du ein schönes Gemälde siehst, möchtest du es besitzen. Wenn du irgendetwas Schönes siehst, folgt wie ein Schatten der Gedanke: „Wenn diese schöne Sache doch mir gehören könnte …“ Solche Gedanken sind ganz natürlich. Doch der Priester wird sagen: „Der Regen ist nur ausgeblieben, weil ihr unreine Gedanken hattet!“ – und ihr seid absolut wehrlos. Ihr wisst, dass er Recht hat, und ihr schämt euch dafür.
Gott hat immer Recht. Aber selbst wenn der Regen sich einstellt, werden euch genau die gleichen Gedanken durch den Kopf gegangen sein, denn ihr wart dieselben. Wenn ihr Hunger hattet, dachtet ihr an Essen. Wenn ihr durstig wart, dachtet ihr an Wasser. Solche Gedanken waren genauso vorhanden. Nur, wenn der Regen kommt, interessiert sich keiner für eure schlechten Gedanken. Dann wird der Priester euch loben, eure Disziplin und eure Frömmigkeit: „Gott hat euch erhört.“ Und dann fühlt sich das Ego befriedigt und man fragt nicht: „Was ist mit den unreinen Gedanken?“ Wer wird die unreinen Gedanken erwähnen, wenn der Erfolg sich einstellte und Gott euch erhört hat? Aber meistens erhört euch niemand. Der Himmel bleibt leer und es kommt keine Antwort. Das hindert aber die magische Religion nicht an ihrem Weiterbestehen.
Die magische Phase ist die primitivste Stufe der Religion. Zum Teil besteht sie noch in der zweiten Phase weiter, es gibt keine klare Trennlinie. Die zweite Phase ist die der Pseudoreligionen: Hinduismus, Christentum, Islam, Judaismus, Jainismus, Buddhismus, Sikhismus – insgesamt mehr als dreihundert solcher „Ismen“. Sie alle sind Pseudoreligionen. Sie haben sich ein bisschen weiter entwickelt als die magische Religion. Die Religion auf der magischen Stufe ist grundsätzlich ritualistisch. Sie stellt den Versuch dar, Gott um Unterstützung zu bitten. Wenn der Feind Anstalten macht, das Land zu überfallen, wenn die Regenzeit ausbleibt oder wenn es zu viel Regen gab und die Flüsse über die Ufer treten und die ganze Ernte zu vernichten drohen … Jedes Mal, wenn irgendeine Katastrophe bevorzustehen scheint, wird Gott um Hilfe gebeten. Die magische Religion verlangt keine Disziplin von euch, darum unterdrückt sie nichts. Sie ist noch nicht an eurer Transformation interessiert; sie will euch nicht verändern.
Die Pseudoreligionen verlagern die Aufmerksamkeit von Gott auf den Menschen. Gott bleibt zwar im Spiel, aber er tritt in den Hintergrund. Für den magisch-religiösen Menschen war Gott ganz nahe – er konnte mit ihm reden, konnte versuchen, ihn zu überzeugen. Die Pseudoreligionen haben das Konzept von Gott zwar beibehalten, aber ihr Gott ist weit weg – sehr weit, ganz weit weg. Die einzige Möglichkeit, ihn zu erreichen, besteht nicht mehr in Ritualen, sondern nur in einer wesentlichen Veränderung des eigenen Lebensstils. Mit den Pseudoreligionen beginnt der Versuch, die Menschen zu formen und zu verändern.
Die magischen Religionen lassen den Menschen, wie er ist. Deshalb sind die Gläubigen der magischen Religionen natürlicher und weniger scheinheilig, aber urwüchsiger, primitiver, unzivilisierter. Die Anhänger der Pseudoreligionen sind gekünstelter, kultivierter, gebildeter. Für sie bedeutet Religion nicht bloß ein Ritual; Religion wird für sie zur Lebensphilosophie.
In der zweiten Phase der Religion beginnt die Anwendung der Unterdrückung. Warum haben sämtliche Religionen die Unterdrückung als Hauptstrategie eingesetzt, und zu welchem Zweck? Das Phänomen der Unterdrückung zu verstehen, ist ungeheuer wichtig. In allen anderen Punkten unterscheiden sich die Religionen voneinander, in allen anderen Aspekten sind sie einander entgegengesetzt. Die Religionen stimmen in keinem einzigen Punkt überein – außer, was die Unterdrückung betrifft. Demnach scheint die Unterdrückung ihr wichtigstes Werkzeug zu sein. Was tun sie damit?
Unterdrückung ist der Mechanismus, mit dem die Religionen euch versklaven. Damit bringen sie die Menschheit in eine psychische und spirituelle Sklaverei. Lange bevor Sigmund Freud das Phänomen der Unterdrückung entdeckte, hatten die Religionen es schon seit fünftausend Jahren angewandt, und mit Erfolg.
Die Methode ist einfach. Sie besteht darin, dich dir selbst zum Feind zu machen. Aber sie wirkt Wunder. Wenn du erst einmal anfängst, dich selbst zu unterdrücken, ändert sich vieles, ganz zwangsläufig. Erstens wirst du dadurch geschwächt. Du wirst nie mehr die gleiche Stärke haben wie vorher. Vorher warst du eins mit dir selbst; jetzt bist du nicht nur zwei, sondern viele. Vorher warst du eine einzige, integre Einheit; jetzt bist du eine ganze Horde. In dir redet die Stimme deines Vaters aus einem Teil von dir, die Stimme deiner Mutter aus einem anderen Teil, und in deinem Inneren streiten sie sich immer noch, obwohl sie vielleicht längst nicht mehr auf der Welt sind! Alle deine Lehrer haben ihre Nischen in dir, alle Priester, die dir je begegnet sind, sämtliche Heiligen, Weltverbesserer und Moralprediger – sie alle haben sich in dir eingenistet, haben ihre Bastionen in dir errichtet.
Jeder, der irgendwann Eindruck auf dich gemacht hat, ist zu einem Teil von dir geworden. Nun bestehst du aus vielen Leuten – Toten und Lebenden, Romanfiguren aus Büchern, die du gelesen hast, oder aus heiligen Schriften, die nichts anderes sind als religiöse Fantasy-Romane. Wenn du nach innen schaust, wirst du dich in dieser riesigen Menschenmenge nicht wieder finden können. Du wirst dich gar nicht erkennen können. Wer bist du inmitten dieser Menge? Welches ist dein ursprüngliches Gesicht? Alle diese Leute tun so, als wären sie du. Sie sehen alle aus wie du, sie sprechen deine Sprache. Und ständig liegen sie miteinander im Streit. Du bist zu einem Schlachtfeld geworden.
Die ungeteilte Stärke des Individuums ist verloren gegangen. Dein Haus ist in sich geteilt. Du bist nicht mehr fähig, aus deiner Ganzheit heraus zu handeln. Manche Teile in dir sind immer dagegen, andere Teile sind dafür, und manchen Teilen ist es völlig egal. Sobald du etwas tust, versuchen die Teile, die dagegen sind, dir einzureden, dass du das Falsche tust, und erzeugen Schuldgefühle in dir. Die Teile, denen es egal war, gebärden sich wie Heilige und sagen dir, du solltest nicht so dumm sein, auf irgendwelche Leute zu hören, die keine Ahnung haben. Egal, ob du etwas tust oder nicht – du wirst auf jeden Fall verurteilt. Du befindest dich ständig in einem Dilemma. Ganz egal, wie du vorgehst, du bist immer der Verlierer. Ein größerer Teil von dir wird dich immer verurteilen. Bei allem, was du tust, kannst du immer nur mit der Unterstützung der Minderheit rechnen. Die Mehrheit wird sich mit Sicherheit auf dich stürzen und sich revanchieren. Sie wird sagen: „Wenn du das nicht so gemacht hättest, hättest du es anders machen können. Wenn du dich nicht für die eine Sache entschieden hättest, hättest du dich für die andere entscheiden können. Aber du bist ein Idiot. Du hörst ja nie auf mich! Jetzt musst du eben leiden. Du sollst es bereuen.“