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Fast frech. Als wollte er sagen: „Was wollt ihr eigentlich von mir? Ich brauche auch mal Abstand von euch. Will schließlich selber mal den Blick von draußen wagen.“
Das Einfangen dieses Vogelviechs war jedes Mal ein lautstarkes und fürchterliches Spektakel.
Denn Hansi wollte nie so, wie sie es wollten. Zwar kam er sofort und folgsam auf den Arm, wenn man ihn rief, doch sobald man sich dem Käfig irgendwie näherte, flog er – haste nicht gesehen – zurück auf seinen Ast und schimpfte von dort aus auf alle Rufenden herab. Vollführte ein unglaubliches Gezeter! Und es war nicht ausgeschlossenen, dass sich dieser oder jener Nachbar darüber beschwerte. Aber eigentlich konnte man Hansi ja verstehen.
Zumal es die Familie ebenfalls oft in die Natur zog. Meist an den Wochenenden oder in den Ferien. Wenn sonnabends keine Schule war und Anton frei hatte, wurde schon freitags zusammengepackt und die Fünf fuhren aufs Land. In den Garten, ihr kleines Glück. Wo sie mit der Natur auf du und du standen. Während der Vater den alten Wolga vollpackte, kam er aus dem Wundern nicht mehr heraus, wann Barbara das alles wohl vorbereitet haben mochte. ‚Wann hatte sie den Kuchen gebacken und diese köstlichen Fleischgerichte gebrutzelt?’
Viel Zeit zum Nachdenken aber blieb nicht.
Beengt im vollbeladenen Auto, die Töpfe zwischen die Beine genommen, die Reisetaschen auf den Knien, den Vogelkäfig ebenfalls irgendwie mit da hineingeklemmt, ging es los. Ihr Kofferraum war immer gleich zuerst voll. Der hatte schon die Wasserkanister und die Werkzeuge zu fassen und natürlich all die aufgestapelten Zementsäcke. Und oben auf dem Dachgepäckträger hatten sie Hölzer, die Rollen mit der Dachpappe und die Metallträger festgezurrt. Alles für den Bungalow.
Ab ging es Richtung Wurzen.
Das konnte spannend werden. So ging es dem schönen Wochenende und den auf dem Lande lebenden Freunden entgegen. Sie freuten sich auf das richtige Austoben! Jahr für Jahr. Egal wie alt sie waren, nichts war vor ihnen sicher. Man fand sie in der Sandgrube, der Schutthalde, dem nahen Freibad, auf Kletterbäumen am Bach; aber zum Essen standen sie plötzlich wieder auf der Matte. Pünktlich wie die Maurer, wie immer und ganz ohne Uhr. Die hätte man nach ihnen stellen können.
Anton, der sich selbst aus diesem Alter noch in Erinnerung hatte, erklärte eines Tages: „Ich baue euch eine Peitsche“.
Und in der Tat, er baute sie, fertigte für jeden seiner drei Söhne eine eigene Peitsche an. Bauen war treffend. Schließlich waren die Peitschen nichts Gewöhnliches. Eine solche bestand aus einem kurzen, selbst gedrechselten Griff mit einer Schlaufe daran, durch die auch Jakob seine Kinderhand steckte und einen festen Halt bekam. Der war unbedingt nötig, denn es schloss sich ein etwa zweieinhalb Meter langer Lederriemen an, der richtig geflochten war und nur das winzige kleine vordere Stück, diese vielleicht zwei Zentimeter, die knallten, wenn man sie durch die Luft zwirbelte, diese paar Zentimeter waren die eigentliche Peitsche.
Jakob war ungemein stolz darauf. Die Brüder ebenso. Und die drei Jungs waren damit dauernd unterwegs. Sie knallten sie nach rechts, schwangen sie durch die Luft, dass es pfiff und knallten sie nach links.
Und wieder und wieder, und wo sie gingen und standen und sie übten sich und knallten, bis der Schafsbock von alledem ganz fuchsteufelswild geworden war. Da war nichts mehr zu machen. Er trat in Aktion, raste auf sie zu, sie wichen ihm noch aus, rannten laut schreiend auseinander, gaben sich gegenseitig Ratschläge, aber der Bock hatte Jakob dann doch eingeholt und nahm ihn auf die Hörner. Das war vielleicht etwas und ein Hallo von allen Seiten! Sie hatten ihren Spaß und irgendwie war sowieso jeder einmal dran. Denn nichts schreckte sie wirklich. Sie legten sich sogar mit dem Bullen an.
Ganz so toll fanden das die hier lebenden Bauern nicht.
Natürlich gab ihr Herumschweifen gelegentlich Anlass, dass sich hier und da ein alteingesessener Bauer mit der Mistgabel bewaffnete, die Bengels mit Schimpf und Schande übergoss und sie von seiner Kuhweide oder Schafswiese vertrieb.
„Müsst ihr Stadtgören denn auf allem reiten, was vier Beine hat? Habt ihr nichts Gescheiteres zu tun? Schert euch runter hier!“, versuchte er ihnen mit seinen Gabelzacken den Garaus zu machen. Was kein Wunder war.
Meist gelang ihm das, Respekt hatten sie schon.
Aber nur kurz.
Obgleich sie ihre Peitschen zwischen die Tiere schwangen, ohne auch nur eines zu treffen, denn sie waren außerordentlich gut in Übung. Es geschah nur, weil es so schön knallte und es machte Spaß, das Hörnervieh zu locken. Gab massenhaft blaue Flecke, manchmal waren die Jungs regelrecht übersät damit. So waren sie eben, bekannt wie bunte Hunde, die Sprösslinge von Barbara und Anton. Richtige Rabauken. Später als heranwachsende Jugendliche zogen sie mit durch die Dorfdiskos, da ging es etwas anders zu, aber auch weiter hinaus bis in die umliegenden Dörfer.
Das eine um das andere Mal saßen sie unter dem Dach der sonnenüberfluteten Terrasse ihres Bungalows, der unterdessen – im Verhältnis zu den übrigen – viel zu groß geraten war. Während die Mutter Kartoffeln schälte, war sie ganz Ohr, was die Söhne ihr anvertrauten. Oft ergab sich unter vier Augen bereits eine Lösung. Als junge Männer dann erbaten sie sich absolute Verschwiegenheit gegenüber dem Vater aus. Er brauchte nicht von Missgeschicken zu erfahren, es wäre blamabel gewesen. Irgendwie aber ging es trotzdem nicht an ihm vorbei. Die Eltern waren sich einig und die Mutter die Einzige, die Vertraute, was Frauen anging.
„Vieles will bei den Frauen beachtet sein. Mädchen sind keine Handelsware, die man mal so eben erwirbt. Sie wollen gehegt, gepflegt und behütet sein. Wenn nötig, noch ab und an in die Schranken gewiesen werden. Ich rede von denen, mit denen sich das Leben lohnt.“ Ziemlich gut kannte sich die Mutter aus, hatte genügend eigene Erfahrungen. Die Jungs nahmen es eher gelassen. Sie stützten den Kopf mit den Händen ab und hörten dem Ganzen „cool“ zu.
„Und dann gibt es noch die andere Spezies Frau: verführerisch, leichtlebig. Die zieht Männer an, wie Licht die Motten, saugt sie aus und wirft sie weg. Als gehörten sie auf einen Haufen für Sondermüll. Denn nachdem sie derart mit dem Mann fertig ist, kann kaum eine andere mehr was mit ihm anfangen. Typisch ist, gerade finanziell sind solche Damen nur auf ihren Vorteil bedacht. Mal ist es das Auto, mal die schicke Wohnung, mal teure Kleidung oder neue Schuhe. Und dann? Und dann ist ein anderes Mal ihnen sogar das alles plötzlich zu viel, weil sie ihr Leben ändern und auf alles Bisherige verzichten wollen. Meinen, ein Mann wäre nur dazu da, ihnen ein solches Leben zu ermöglichen. Und weil sie aussieht wie ein Engel, fällt er darauf herein, tut er alles, damit sie bleibt und es ihr gut geht.“
Jakob und seine Brüder waren gelehrig und wissbegierig.
Vertrauten der Frau, die es auf jeden Fall gut mit ihnen meinte und sie schon früh aufgeklärt hatte. Sie wussten Bescheid, um die ganze Frauenproblematik und das gereizte Verhalten während dieser bestimmten Zeiten.
Jakob betrachtete seine Klassenkameradinnen nun etwas mehr, auch genauer und etwas näher unter diesem Gesichtspunkt.
Doch das war schwer.
Für ihn nicht auszumachen. Er konnte kaum unterscheiden, ob die Mädchen seiner Klasse nur das Frauenproblem hatten oder ob sie immer so empfindlich grillenhaft drauf waren. Er merkte auch nie, wenn ein Mädchen etwas von ihm wollte.
Hin und wieder fragte ihn ein Freund: „Wo hast du denn heute deine Freundin gelassen?“
Jakob: „Hä?“
Er sah sich nach allen Richtungen um und konnte nur verwundert, allerdings auch irgendwie verlegen zugeben: „Bin mir nicht klar darüber, eine zu haben.“
Das traf es.
Er war sich nicht klar darüber. Aber die Mädchen hatten das untereinander einfach mal so festgelegt. Und im Prinzip für ihn geregelt. Jakob ließ es sich gefallen.
„Gut, dann hab ich also eine Freundin.“
Er rückte sich seine Jacke am Kragen etwas zurecht und fuhr mit den Fingern von vorn nach hinten beidseitig durch die Haare.
„Welche ist es denn? Und seit wann? Sieht sie wenigstens gut aus?“
Und der Freund, der auf dem Gebiet längst viel weiter war, brachte Jakob, wie schon häufiger, wieder einmal auf den neuesten Stand.
Jakobs Vater mischte sich selten ein, wenn es um solche Belange ging, hatte aber immer ein offenes Ohr. War eher für die praktischen Dinge zuständig. Anton erklärte den Söhnen die Welt. Zeigte auf, wie viel man mit den eigenen Händen schafft und ab wann es nötig wird, eine Fachkraft heranzulassen. Er brachte ihnen allerlei Fähigkeiten bei, erläuterte, welche Bücher maßgebend seien oder woran und wie man sich im freien Gelände orientiert. Barbara legte ihnen Gewissen und Anstand, Mitgefühl und Verständnis ans Herz. Auch Toleranz gegenüber einem Jeden. Beide hatten in ihrer Ehe durchaus eine Rollenverteilung, die aber Jakob ebenfalls nicht recht durchschaute. Es reichte, wenn sie funktionierte. Was Jakob aber besonders imponierte, war: Der Vater stellte sich immer vor seine Frau, um sie zu beschützen. Und er stellte sich hinter sie, um sie zu unterstützen. Sie mussten einfach über alles miteinander sprechen, soviel bekam er mit, und das wohl bis spät in die Nacht hinein.
Konspirierten auch, als es um Jakobs Lehrausbildung ging. Manches schloss sich gleich von selbst aus. Bei den Zensuren kam bestimmt nur ein Handwerksberuf in Frage. Das war doch zu regeln. Auch Jakob war daran interessiert. Überaus sogar, mit einem solchen Gedanken konnte er sich anfreunden.
Aber Jakob redet nicht.
Ist sich klar: Alles kann es sein. Nur kein Maurer.
Wenn Jakob reden würde,
kämen gut durchdachte Ferien ans Licht
Denn da war etwas, was lockte.
Gut, dass endlich Sommerferien in Sicht waren, nur einen Monat Schule noch, dann das erste eigene Geldverdienen.
Schon im Februar hatte sich Jakob ernsthaft um einen Job in der HO-Kaufhalle bemüht. Da er im Juni vierzehn werden wird, durfte er laut Gesetz bis zu drei Wochen Ferienarbeit leisten. Sicher, er hatte darüber nachgedacht, er hätte auch bei seinem Vater auf einer der zahlreichen Baustellen oder bei seiner Mutter im Kinderheim in der Küche als Helfer unterkommen können. Aber nee, ein Jakob nicht. Der wollte bei den Eltern nicht auch in den Ferien noch unter der Fuchtel stehen. Wollte seine eigenen Erfahrungen machen. Endlich.
In der ersten Ferienwoche hieß es: 7.30 Uhr ist Beginn.
Prompt konnte man Jakob schon eine viertel Stunde vorher am Personaleingang hin- und herlaufen sehen, damit eine Verspätung unter jeglichen Umständen von vornherein auszuschließen ist. Schließlich hatte er im Kopf, der erste Eindruck ist der beste, und er wollte sich die Arbeit noch weiter für künftige Ferien sichern. Denn begehrt waren solche Jobs. Seine drei Wochen als Lagerhelfer in dieser Kaufhalle vergingen wie im Fluge. Schnell stellte Jakob fest, dass es ihm recht flott von der Hand ging, flotter als anderen, und er konnte dem einen gewissen Spaß abgewinnen. Wieso auch nicht?
Es waren ohnehin immer die gleichen Abläufe: Waren entgegennehmen, sie im Lager unterbringen oder gleich im Verkauf in die Regale einsortieren. Verderbliches wurde meist schon am Vorabend raus auf die Rampe gefahren und in Containern entsorgt. Nur bei der Milch verhielt es sich anders. Das war eine Wissenschaft für sich und war wesentlich umständlicher. Die musste sortiert werden.
Die H-Milch wurde in bedruckten Plastikbeuteln, die am oberen und unteren Ende verschweißt waren, geliefert. Immer ein Liter pro Beutel. Die lagen dann, wenn es ganz schlimm kam, in riesigen verzinkten Aluminiumwannen. Am Boden jeder Wanne gab es dafür einen Ablauf.
Wenn dann hier und da einige Milchbeutel an den Schweißnähten kaputtgegangen waren, wurden die noch unversehrten, aber glitschig-schwabbelnden per Hand herausgefischt, mit einem Lappen einigermaßen trocken gewischt, in kleinere viereckige Kübel sortiert und schließlich wieder in der Verkaufsraum gefahren. Oder sie wurden, falls das Verfallsdatum überschritten war, mit einem Messer aufgeschnitten und die noch übrigen leeren Folienfetzen wurden gekonnt aus der weißen Lake gefischt. ‚Igitt!’ Die in der Wanne verbliebene Milch wurde nun in verschließbare Kübel abgelassen. Im Sommer eine üble, sehr geruchsintensive Angelegenheit. Im Winter nur wenig anders. Allerdings, da konnte man Pech haben, wenn die Wanne draußen auf der Rampe stand. So hatte man entweder Milch mit Eisklumpen oder gleich einen großen Eisblock im Ganzen.
Doch war das noch nicht das Schlimmste, es ging noch einen Zacken schärfer. Wenn nämlich die Milch längst geronnen war, die zusammengeschüttet im Kübel unerträglich vor sich her stank, mit so einer dicken gelbbräunlichen Kruste oben drauf. Im Sommer zog das pausenlos die grün schimmernden Fliegen und auch größeres Getier an, wie Ratten.
Richtig ekelhaft.
Dagegen half auch kein Kübeldeckel, sofern er überhaupt vorhanden war. Schön und interessant anzuschauen indes waren die Milchschleier, die beim Ausspritzen der Alu-Wanne mit dem Wasserschlauch entstanden. Egal wie es kam, umpacken, sortieren, ein- und ausräumen der Regale waren an der Tagesordnung, ebenso wie das Fegen und Wischen sämtlicher Verkaufsräume.
Und das ständige Zählen.
Soviel gezählt hatte Jakob bis dahin in seiner ganzen Schulzeit nicht. Hier kamen Mathe und das richtige Leben zusammen. Geruchsintensiv wurde es außerdem, wenn mal ein paar Bier- oder Limoflaschen, aus welchen Gründen auch immer, zersprangen. Dann stank es so süßsauer.
Aber er war ja nur drei Wochen dort. Und das Geld, was er verdient hatte, wurde in bar ausgezahlt, so richtig mit Lohnschein, jedoch ohne großartige Abzüge. Ein wirklich sehr guter Verdienst! Die Mutter hatte es in Verwahrung genommen und für ihn auf das Sparbuch bei der Sparkasse eingezahlt.
Dort summierte es sich.
Und dann, ab jetzt, hatte er wirklich Ferien. Fünf Wochen Sommer, baden mit Freunden, herumhängen und ins Ferienlager fahren. Herrlich!
In den Winterferien allerdings durfte er nur eine Woche in seiner Kaufhalle arbeiten, mehr war nicht erlaubt.
Aber die Schule hatte für die Jüngeren Ferienspiele veranstaltet, und so konnte Jakob zwei Wochen zusätzlich als Ferienhelfer mitmachen. Eigentlich durfte er das gar nicht mehr, doch was der Eine weiß, macht den Anderen nicht heiß. Und so hatte Jakob mehr Geld verdient als mancher andere. Obwohl die Schule längst nicht so gut bezahlte wie der Handel, dachte sich Jakob: ‚Kleinvieh macht auch Mist.’ Ihm konnte es nur recht sein: war beschäftigt, von zu Hause raus, kam auf diese Weise kostenlos in den Zoo, ins Theater und hier und da hin. Das ging jedes Jahr so. In den Ferien wurde doppelt verdient und Spaß gab’s obendrein. Über Langeweile konnte er sich wirklich nicht beklagen.
Aber Jakob redet nicht.
Weiß Bescheid. Egal, ob das wen wundert.
Wenn Jakob reden würde,
verknüpfte sich Liebe mit Trauer und Tragik
Denn da war etwas, was er das erste Mal erlebte, was ihn lenkte.
Das Mädel kam mit einer Anmut daher, auf die sein ganzes Körperorchester anschlug. Obwohl die Sache mit den Mädchen zuvor auch schon so seine Besonderheit hatte: Ob Kindergartenzeit oder Pubertät, Jakob ließ sich gerne von Mädchen leiten. Auch richtig anleiten. Sie brauchten ihm bloß kundtun, was sie bei ihren Doktorspielchen sehen oder ausprobieren wollten, er zeigte sich ihnen gegenüber höflich.
Außerdem war er selbst ein bisschen neugierig.
Die Mädchen waren so seltsam anders. Und Jakob, der gelehrig und wissenshungrig war, konnte ihnen kaum etwas abschlagen.
Später aber, etwa ab der siebenten Klasse, konnte er ihnen neben kleinen, üblichen Knutschereien – wozu waren Klassenfahrten und Schuldiskos denn sonst gut? – jedoch bereits ein richtig treuer Freund sein.
Daran lag ihm viel.
Eigentlich fand er nichts wichtiger.
So war es denn auch mit seiner ersten Jugendliebe, einer Wochenend- und Ferienbeziehung. Selina lebte mit Eltern, Schwestern und dem Rest der Verwandtschaft im selben Ort, in dem seine Familie ihren Garten hatte. Wo er quasi jede freie Minute verbrachte. Bis zum Ende der Neunten.
Gerade fingen wieder einmal die Sommerferien an und strahlend blau war der Himmel vor Verheißung. Da aber: Plötzlich stand ein Umzugswagen vor genau dem Wohnblock, in dem er ein- und ausgegangen war.
„Mein Vater hat die Bewerbung seit langem laufen. Jetzt hat er die Stelle in Thüringen ganz kurzfristig bekommen und muss sie in ein paar Tagen schon antreten.“
„Und? Was wird aus uns?“
Jakob wusste zwar von sich, dass er manches erst etwas spät mitbekam, aber das nun wollte er keinesfalls wahrhaben. Er stieß ein paar Kieselsteine mit dem Fuß weg. Und hielt die Hände in die Taschen versenkt.
„Ich glaub einfach nicht, dass eine Brieffreundschaft ausreicht.“
„Lass es uns versuchen. Wir reden nochmal. In ein paar Tagen kommen wir sowieso wieder und holen die restlichen Sachen nach.“
Jakob stand allein da. Wie vor den Kopf gestoßen. Dass ein Schornsteinfeger so kurzfristig eine neue Stelle bekommen kann … Er begriff es nicht. Die Tränen ließen sich nur schwer verbergen, wo sie doch schon im LKW saß, sein Mädchen, und ihm hinter dem Fenster bloß noch winkte.
Die Enttäuschung war groß. Zu groß. Lange Zeit war es still um ihn.
Sieben Wochen. Das letzte Wochenende der Sommerferien war es denn, da machte er die Bekanntschaft eines blonden, hübschen Mädchens in seinem Alter. Sie war so ganz anders als die Mädchen, die er bis dahin kennengelernt hatte. Sandra war viel reifer in ihrem Denken, reifer in dem, was sie wie sagte, reifer in der Art, wie sie sich bewegte, wie sie sich gab, auch reifer als die Mädchen seiner Klasse.
Und Jakob?
Der schwebte mit seinen 16 Jahren im siebten Himmel oder sonst wo. Ein geradezu breites Grinsen lag auf seinem Gesicht. Er nutzte jede erdenkliche Ausrede, um zu ihr ins Nachbardorf zu gelangen.
Das ging ein halbes Jahr so. Ein glückliches halbes Jahr! Man sah sie nur zu zweit: in den Dorfdiskos, im Freibad, im Steinbruch beim Baden und bei ihr zu Hause, wenn er sie zum Spaziergang abholte. Was sie nicht alles wusste! Jakob war fasziniert. Ihm schien, als hätte sie Tag und Nacht nichts anderes getan als gelesen. Die schönen Momente für sie beide schätzte Jakob, er hielt sie einfach für unerschöpflich.
Und doch. Eines Tages öffnete nicht sie, sondern ihr Vater das schwere Hoftor. Jakob runzelte die Stirn. Wieso nicht sie, wie sonst immer? Er sah sich überall um. Wieso lugte sie nicht erwartend hervor, sie wusste doch, dass er kommen würde.
Aber er sollte sie nie wieder sehen.
Das Schicksal hatte sich von grausamer Härte gezeigt. Sandra verstarb im Frühjahr 1983. Es war Leukämie. Hatten sie ihm danach erzählt. Nichts, aber auch gar nichts hatte er gemerkt. Stand wieder ganz allein da.
Mitten auf der Dorfstraße vor dem großen Hoftor. Musste sich immer wieder vergewissern …, nein, nein – doch! – quietschte das Hoftor. Sandra war plötzlich nicht mehr. Er konnte es nicht fassen. Ahnte auch in keiner Weise, wie sehr sich das Mädchen schon in ihm festgesetzt hatte. Ihm fiel niemals auf, wie traurig ihm die kleine Schwester hinterher schaute, während er leise in sich hineinweinend zum Nachbardorf zurücktrottete.
Jakob sah es nicht.
Wo gerade die Welt einstürzte! Nichts mehr wie früher war. Jakob hatte nichts geahnt, wer hätte sich ausrechnen können, welche Härten von einer Minute zur anderen auf einen Mann zukommen können. Da war alles nur noch Hohlraum und auch er, Jakob, war leer. Von jetzt an zog er sich in sich selbst zurück. Lehnte sämtliche Anfragen von Schulkameradinnen ab, mit ihnen zu gehen. Irgendwie war er für die Außenwelt nicht mehr erreichbar, es kam ohnehin nichts mehr bei ihm an. Darüber hinaus war ihm zu dem Zeitpunkt überhaupt noch nicht klar, wie lange ein Mann, wie lange er, Jakob, um seine Liebe zu trauern vermochte, es einfach musste. Womit soll man einen solchen Hohlraum füllen?
Das legte sich auf alles, beeinflusste wie ein Schema sämtliches Tun. Die Prüfungen der Zehnten hatte er geradeso mit drei Komma vier geschafft. Und als seine Klasse auf Abschlussfahrt ging, fuhr er zwar mit, doch blieb dem bunten Treiben weitestgehend fern. Er, Jakob, trauerte. Tief und ehrlich. Und ohne, dass diese Abgrundtiefe auch nur irgendein Mensch von ihm erfahren hatte oder hätte erfassen können. Da war kein Ende abzusehen. Egal, was kam.
Seither steckte in jeder der nachfolgenden Frauen ein kleines Stück von diesem, seinem Mädchen. Möglicherweise war es das, was Jakob in späteren Frauen beständig suchte. Vielleicht etwas von dieser Reife, mit Bestimmtheit aber irgendetwas von ihr.
Aber Jakob redet nicht.
Stößt sich an der Leere, Leere, Leere. Und lehrt es sich ohne Ende.
Wenn Jakob reden würde,
kämen manch Zufall, Anfall und Abfall ins Spiel
Denn das sollte er bald gewohnt werden.
Dass wie von selbst auf ihn zukam, was ihn prägte.
Erstmal hatte Jakob mit der Trauer zu tun. Das ging auch noch so, als er in Leipzig seine Lehre zum Dachdecker antrat. Die theoretische Ausbildung fand in der „Querbreite“, einer Straße, in der sich die Berufsschule befindet, statt. Die Praxis im Betrieb. Als Einstiegsgeschenk bekam er von seinen Eltern das Werkzeug: einen Spitz- und einen Schieferhammer, eine Rötelzange, einen Zollstock, ein Beil, eine Axt, sowie einen Gürtel mit Nageltasche und Hammerschlaufe. ,Boa-eh’! Jakob riss die Augen auf! Denn das war alles auffallend hochwertig hergestellt. Aber woher seine Eltern das besorgt hatten und wie viel es wohl gekostet haben mochte, das blieb Jakob ein Rätsel. Später ging ihm auf: Vielleicht hatte auch die Westverwandtschaft Anteil daran? Im ersten Moment jedoch war seine Freude darüber riesig! Derart gewappnet konnte man loslegen.
Jakob war aufs Äußerste motiviert.
An diesem ersten Tag, als er sich mit den übrigen Lehrlingen auf dem Betriebsgelände einfand, schien die Sonne.
Jakob war wieder der Erste und bereit, seit dem frühen Morgen. Etwas später betraten dann auch die drei anderen Dachdeckerlehrlinge den Hof und man stellte sich gegenseitig vor. Es gab außer Jakob zwei Manuels und den Markus, der alle einen ganzen Kopf überragte. Ein Herr Schuster kam und begrüßte die vier jungen Männer, zeigte ihnen den Betriebshof, das riesige Lager, die Büros, sowie die Umkleide nebst Duschen und WC. Im Anschluss trabten sie alle in das winzige Büro, in dem sie von ihren zwei Lehrausbildern in Empfang genommen wurden.
Der Eine von ihnen hatte seinen Jungmeister gerade erst erfolgreich abgeschlossen, der Andere, kleine hingegen, war ein alter, schon gestandener Handwerksmeister. Beide stellten sich mit ihren Positionen nacheinander dar und Jakob lauschte interessiert. Dann folgte eine Belehrung für die Neulinge, wie man sich auf der Baustelle, und noch wichtiger, auf dem Dach zu verhalten hat. Anschließend wurden die Vier auf die einzelnen Brigaden aufgeteilt, der eine Manuel kam zur Rotschen-Brigade, der zweite und Markus wurden Meister Kurze zugeteilt. Jakob kam in die Bertholdsche Brigade. Zu guter Letzt ging der Altmeister mit den Vieren ins Lager, kleidete sie ein und versorgte jeden mit einem vollständigen Werkzeugsatz. Eben mit allem, was ein Dachdecker so braucht.
Jakob staunte nicht schlecht.
Auf einmal hatte er einiges doppelt.
Doch was machte es, das störte nicht. Seither konnte er sich das erste und bessere Werkzeug fürs Pfuschen und für den Notfall aufheben. Komplett ausgerüstet stiegen die Neuen mit Sack und Pack in den Barkas und der Altmeister fuhr jeden von ihnen zu der entsprechenden Brigade. Diesmal war Jakob als Letzter im Bus verblieben.
Warum?
Das sollte ihm bald klar werden. Der Altmeister hatte Jakob vorher beiseite genommen und dem Verdutzten erklärt, dass er als Meister vom obersten Chef in Kenntnis darüber gesetzt worden war, und nun also quasi genau Bescheid wüsste, um Jakobs Vater und dessen persönlich-freundschaftlichen Beziehungen zum Chef.