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Daraufhin fuhr ihn der Altmeister bloß an: „Bilde dir ja nicht ein, Jakob, dass du hier Privilegien hast! Dich stecken wir zum strengsten Meister rein. Zum Schinder der Firma. Der duldet keinerlei Schlampereien und kein Zuspätkommen.“
‚Na bestens’, dachte Jakob. Klare Fronten. Doch die Pappmesser für die Dachpappe schliff der alte Berthold für Jakob höchst persönlich und schenkte sie dem jungen Schnösel. Aha. Das registrierte der, er lernte ziemlich schnell und allerhand gerade von dem Alten.
Aber auch die, die sonst noch in der Brigade arbeiteten, lehrten ihn sehr viel Praktisches, so dass er unerwartet schnell in die Feierabendbrigade aufgenommen wurde. Als später die Brigade geteilt wurde und Jakob einen neuen Meister erhielt, kam es zu einer seltsamen Begegnung.
Jakob stellte beim Gegenüberstehen fest, dass der ihm gerade mal bis ans Kinn reichte, allerdings viel kräftiger und etwa dreißig Jahre alt war. Ein Malocher, fand Jakob schnell heraus, doch mehr als fair, denn er verlangte seinen Jungs stets nur das ab, was ihm bereits in Fleisch und Blut übergegangen war.
Sie wurden ein eingespieltes Team, Jakob wuchs daran und ihm machte die Arbeit richtig viel Spaß. Immer öfter gingen er und Biene, so des Meisters Spitzname, zu zweit pfuschen. Über die Wochen und Monate entstand eine wahrhaft enge Freundschaft zwischen ihnen. Biene übernahm immer mehr die Rolle eines großen Bruders für Jakob. Ihr Zusammenspiel harmonierte, war ein himmelweiter Unterschied zu dem, was mit Jakobs Klassenkameraden, mit denen er theoretischen Unterricht hatte, einherging.
Seine Klasse bestand aus dreißig Jungen und zwei Mädchen. Da waren Hänseleien und Rangeleien geradezu an der Tagesordnung.
So was passte Jakob gar nicht; das machte ihn oft und gern erst recht zum Ziel der Attacken.
Im Bauhof ging es besonders hart zu. Da ging es um das Praktische, um die Ausbildung an Modelldächern. Wenn Jakob wirklich sehr viel lernen wollte, woran ihm lag, hatte er keine Chance.
Von zweien aus der Brigade Meister Kurz wurde er nur allzu gerne aufgezogen und bald hierhin und bald dahin geschubst. Ohne jeden Grund. Was war Jakob immer heilfroh, wenn er wieder in seine eigene Brigade, zu Biene, zurückkonnte. Hier schätzte man ihn. Nutzte seinen Eifer, sein Bemühen, immer mehr Arbeitsschritte als die gezeigten oder erklärten zu bringen.
Aber die heiklen Situationen sollten sich noch verschlimmern.
Nach einem Jahr stand die Auszeichnungsreise für die besten Lehrlinge des Betriebes an. Man durfte gespannt sein, auf wen würde die Entscheidung fallen? Wer könnte da in Frage kommen? Schließlich galten alle vier Dachdecker inzwischen als die besten, wiesen alle vier gleichermaßen einen Gesamtdurchschnitt von eins Komma zwei in Theorie und Praxis auf und waren kaum zu toppen. So was hatten sie hier noch nie.
Also waren sie alle vier dabei.
Die Reise dauerte sieben Tage und führte sie, und dazu noch einen Maurerlehrling und die zwei Lehrausbilder mit Anhang nach Lenin, ins Brandenburgische. Schön. Und es hätte prima werden können, aber aus Gründen, die sich später als medizinisches Fiasko herausstellten, fiel Jakob dort um.
Er hatte seinen ersten schweren Krampfanfall. Es kam aus heiterem Himmel.
Alles war erschrocken. Aber Jakob war klar bei Verstand und gab instinktiv Anweisungen: „Setzt mich auf den Stuhl da und schiebt mich ans Fenster.“ Sie taten es.
„Hakt meine Hände in den Fensterrahmen und drückt meine Füße gegen die Wand!“
Nun zog Jakob solange am Fensterhaken, bis seine Finger wieder einigermaßen gerade wurden und er auch die Knie wieder durchdrücken konnte. Doch seine Mühen reichten nicht. Kaum war er vom Fenster weg, waren die Krämpfe zurück. Und die anderen mussten den völlig Verkrampften ins Bett tragen. Nichts half. Nicht einmal die Herztropfen, die er sowieso schon seit ein paar Tagen einzunehmen hatte – alles blieb wirkungslos. Es war einfach unmöglich, der Sache Herr zu werden. Der Maurermeister, ein Schrank von einem Mann, musste wirklich um das Leben von Jakob kämpfen.
Das tat er.
Die drei anderen Lehrlinge aber wussten weder sich, noch dem Betroffenen zu helfen. Und Jakob war nicht mehr er selbst vor Schmerzen, war in einer Zwangslage; hätte beinahe die Pranken dieses Schrankes unbewusst gebrochen. Heftig übermannten ihn diese Zustände immer wieder aufs Neue. Kaum eine Unterbrechung.
Fast bewusstlos von all dem, das da von einer Minute zur anderen kam und von ihm Besitz ergriff, standen er und Leben und Tod beieinander.
Jakob war klar, ohne die Hilfe des Maurers hätte er den Kampf glatt verloren.
Der starke Mann aber konnte sich das Geschehen nicht erklären und gab, weil er zuweilen etwas von der Hänselei gehört hatte, den anderen, den Lehrlingen, die Schuld. Nur das war für den Maurer naheliegend.
Dem aber war nicht so.
Zu einem späteren Zeitpunkt dann sollte Jakob erfahren, die Krämpfe hätten ihn immer und überall erfassen können. Keiner trug dafür eine Verantwortung oder gar Schuld. Ebenso, wie sie auch keiner hätte jemals verhindern können.
Unter den Gegebenheiten hier nun war es erst der Notarzt gewesen, der mit Spritzen dem Ganzen ein Ende bereiten konnte. Zur Nachkontrolle tags darauf begleiteten Markus und der eine Manuel ihren Mitstreiter zum Arzt, wo er gleich nochmals zwei Spritzen verpasst bekam. ‚Na, danke schön auch!’, maulte Jakob für sich im Stillen.
Im November desselben Jahres hatten alle Jungs der Dachdeckerklasse ins GST-Lager zu fahren. Auch Jakob.
Das war Pflicht und dauerte sechs Wochen.
Und natürlich hatte sich der ungewöhnliche Vorfall damals in Lenin inzwischen unter allen Lehrlingen längst herumgesprochen. Und wie es mit unerklärlichen Besonderheiten oft geht, es gibt immer welche, die Freude daran haben, das noch auf die Spitze zu treiben, es methodisch zu provozieren. So geschah es.
Drei langhaarige Typen vom Bauhof, die mit Jakob in dieselbe Klasse gingen, stürmten ganz plötzlich das Zimmer der Jungen rigoros und schlugen – aus Sensationslust, Langeweile oder vermeintlicher Überlegenheit – wie verrückt auf Jakob ein, der nichts ahnend im oberen Doppelstockbett lag. Es geschah aus heiterem Himmel. Sie hatten es so beschlossen, wollten sich die Krämpfe gerne mal live ansehen. Jakob seinerseits versuchte, so gut es ihm auf der kleinen Fläche da oben gelang, sich zur Wehr zu setzen.
Und wie er zurückschlug …
Doch unter diesen Umständen – einer gegen drei – das war wie Jakob gegen den Rest der Welt. Er konnte machen, was er wollte, zu gewinnen war der Kampf für ihn nicht. Aber es gab noch die Lehrer.
Ach ja, die. Der eine, der das mitbekommen haben musste und auch bemerkt hatte, der schaffte Klärung, durchaus.
Kam aber erst nachträglich hinzu. Später, viel später, nämlich dann, als die drei Angreifer das Zimmer bereits verlassen und sich verkrümelt hatten. Und dieser Lehrer war auch noch Boxer, war das zu fassen; aber Jakob hatte ihn durchschaut. Er dachte noch: ‚Was bist du bloß für eine miese Ratte von Mensch?’, als sich der andere gerade genau vor ihm aufbaute. An Zuspruch war hier nicht zu denken. ‚Der war wohl blind?’ Stattdessen gar schrie der Lehrer Jakob an: „Randalieren Sie hier mal nicht so rum, lassen Sie die anderen gefälligst in Ruhe! Sie richten jetzt Ihr Bett her, räumen das verwüstete Zimmer wieder auf und finden sich auf der Stelle beim Lagerkommandanten ein. Aber ein bisschen plötzlich! In zwei Minuten will ich Sie dort sehen!“
Jakob sprang wie wild aus dem Bett und schrie seinerseits: „Du Holzhirsch, bist total blind auf den Augen! Du Idiot, du kapierst ja überhaupt nicht, worum es geht! Und ein fieser Drecksack bist du obendrein! Wie kannst du dir anmaßen, mich, den Geschädigten, abzumahnen, anstatt die Angreifer?“
Im Büro des Lagerkommandanten traf Jakob erneut auf diesen Holzhirsch, auf noch zwei weitere Männer und, oh Wunder, sogar auf den Schuldirektor der „Querbreite“. Alles stand wartend da. Auf ihn.
In GST-Uniformen mit Dutzenden von Abzeichen an den Jacken.
Kaum hatte Jakob einen Fuß in den Raum gesetzt, ergriff der Lagerkommandant das Wort: „Ich erteile Ihnen hiermit einen Verweis. Einen Verweis, der sich auch in Ihrer Personalakte und im polizeilichen Führungszeugnis niederschlägt.“
‚Unauslöschlich wie ein Brandmal!’, dachte Jakob.
Der Verweis lautete dann: „… wegen Angriffs gegen uniformierte Bürger der DDR und Verbreitens von imperialistischer Hetze.“
Als Jakob das hörte, war er entrüstet und flippte nun völlig aus. War das zu fassen? Verbal konnte er sie auch bedrohen.
„Ihr Verleumder, passt bloß auf, ihr verliert gleich eure Männlichkeit und alle eure Weichteile! Da kann dann selbst dieser Rummelboxer von Drecksack nichts mehr gegen mich unternehmen.“
Jakob geriet in Rage. Machte eine perfekte Verbeugung, die er vom Judo her kannte und sagte: „Haschime!“
Und siehe, einer der Uniformierten versuchte den wirklich zum Kampf entschlossenen Jakob zu beschwichtigen. Tat es, indem er zugestand: „Wir wissen doch über deinen gesundheitlichen Zustand Bescheid und wollen darum den Sachverhalt noch einmal prüfen.“
Jakob hatte aber nie ausmachen können, ob das je in irgendeiner Weise geschehen war. Der Eintrag jedenfalls wurde in sämtlichen Akten vorgenommen. Selbst beim MfS wurde daraufhin noch eine Akte angelegt mit eben diesem falschen Sachverhalt.
Auf solche Weise also war der ursprüngliche, erste Eintrag entstanden, dem viele weitere folgen sollten.
Als Jakob, der immer noch voller Wut war, schließlich auf sein Zimmer zurückkehrte, sah er die anderen, die wie gehabt immer noch auf ihren Betten lungerten. Ihm konnte speiübel werden, wenn er daran dachte, wie schön genüsslich sie der Aktion vorhin zugesehen hatten. Und er bedankte sich sehr scharf bei den Kollegen, die nicht einmal diese Bezeichnung verdienten, für ihre ach so große Unterstützung. Aber die grinsten ihm nur frech ins Gesicht.
‚Doch im Gegensatz zu euch Fratzen’, dachte Jakob, ‚bin ich jetzt ein Mann der Tat!’
Und er packte seine Sachen. ‚Weg hier, so schnell wie möglich, hier kann man nur noch abhauen. Die Grenze zum Westen ist nicht weit’, ging es ihm durch den Kopf. Ja, er war ein Mann großen Schrittes. Immer über die Felder. In der Dämmerung dann tauchte das Zonenrandgebiet vor ihm auf. Die Polizei allerdings auch.
Man brachte ihn – wie milde – zurück ins GST-Lager. Von da ab wurde er von sämtlichen vormilitärischen Ausbildungsschwerpunkten ausgeschlossen. Jakob setzte sein hämisches Grinsen auf: ‚ Mann, ist das für mich schade …’
Erfreulicherweise war auch die GST-Ausbildung zeitlich begrenzt und als Jakob endlich in den Betrieb zurückkam, ging alles wieder seinen normalen Gang. Damit konnte man schon eher leben und er fühlte sich wohl und gebraucht dabei.
Nach einigen Wochen Arbeit auf dem Dach aber bekam er hohes Fieber. Ein Fieber, das nicht abklingen wollte, was er auch versuchte.
Um es medizinisch abzuklären, fuhr er ins Sankt Georg Krankenhaus, wo man ihn unverzüglich auf die Quarantänestation legte.
Drei Monate lang.
Er musste dort bleiben, ob er wollte oder nicht und erfuhr, dass ein Virus in seinem Körper ausgebrochen war. Ein Virus, den 80 Prozent der Weltbevölkerung in sich trüge, der aber nur äußerst selten zum Ausbruch käme.
Ein Taubenvirus.
Anschließend, also am ersten Tag nach der Entlassung aus dem Sankt Georg sollte er gleich in die neurologische Abteilung der Uni-Klinik Leipzig nach Dösen eingewiesen werden, um die Folgeschäden des Ausbruches klassifizieren zu lassen und die gebliebene Höhentauglichkeit zu prüfen. Der Virus hatte ganze Arbeit geleistet. Seine Höhentauglichkeit war futsch.
‚Also ist’s Essig mit dem Dachdecker’, sagte sich Jakob, ‚kann ich vergessen.’
Der Betrieb setzte Jakob vorübergehend als Lageristen auf dem Hof ein. Und stellte ihm einen frisch aus dem Knast Gekommenen an die Seite, der bei schweren Lasten helfen sollte. Wie auch immer, den Lehrabschluss hatte Jakob bereits abgeschrieben.
Und nach eineinhalb Jahren wurde der Lehrvertrag nun vom Betrieb aufgelöst.
Dann kam der letzte Tag in der „Querbreite“.
Jakob machte ihn für alle Anwesenden zu einem Erlebnis.
Wie immer besetzte er die letzte Bank.
Nur, dass er diesmal nicht saß, sondern beinahe auf seinem Stuhl lag. Und trank.
Während des EDV-Unterrichts. Schluck für Schluck und direkt aus der Schnapsflasche. Es war ein guter, ein Wodka aus dem „Delikat“. Das ging solange, bis ihn die EDV-Lehrerin des Schulgebäudes verwies.
Den Rest des Tages verbrachte er dann in irgendeiner Kneipe der Stadt. Er konnte trinken, wie er wollte, er hatte sich trotzdem nicht mehr genau merken können, wo das eigentlich gewesen war. Warum auch. Volltrunken kam er immerhin bei seinen Eltern, seinem zu Hause, an.
Hier brachte man ihn verständnisvoll zu Bett. Darüber wurde nie wieder ein Wort verloren. Vielleicht hätten sie es getan …
Aber Jakob redet nicht.
Ein Mann, der drei Mal kräftig schluckt: Virus. Verweis. Wodka
Wenn Jakob reden würde,
stünden seine große Klappe, Ellenbogen und Hervorstechendes an
Denn das setzte Jakob wie ein Komplettprogramm ein, wie einer in etwas sein Siegel eindrückt. Warum und wem auch immer Jakob damit etwas zu beweisen suchte.
Oktober war es, da ging er, ohne irgendjemand – nicht mal die Eltern – informiert zu haben, ins Plattenwerk. Pah! Brauchte er vielleicht wen?
Verdiente sich hier die eigenen Brötchen als Komplettierer. Allerdings nur wenige Tage später wusste er schon genau, ja doch, das kann nur der erste Schritt gewesen sein. ‚Wie kann ein Mensch diese Plackerei ein Leben lang aushalten?’ Bitumenstreifen auf einem speziellen Ofen weichmachen, die auf Fenster- oder Türrahmen kleben, das Ganze exakt einsetzen; dann mit Schleudern und Schrauben an der rohen Betonplatte fixieren, bis schließlich alles haargenau ausgerichtet und für die Vollendung festgeschraubt wird. Zu guter Letzt hieß es dann die schweren Glasfenster und Glastüren einhängen. Und das alles im Akkord!
Nein, das war nicht sein Ding. Das war auf die Dauer garantiert nichts für Jakob. Aber erst Wochen später konnte er aufatmen. Da kam er denn endlich in die Schlosserbrigade, in die er von Anfang an immer gewollt hatte.
Das waren Kerle.
Die wussten mit dem Schneidbrenner umzugehen!
So was wollte Jakob auch.
‚War das nicht genial? Auf Anweisung etwas kaputtmachen.’ Etwas, das immer im Dreischichtwechsel geschah und nach der Frühschicht scherte er sich gleich auf die Abendschule.
Wegen der Schlosserausbildung, die jetzt für den Dachdecker stand. Zu der Zeit hatte er meistens Frühschicht, zudem noch der Kranschein und der Schweißer-Pass auf ihn warteten. Das galt es unbedingt mitzunehmen. Wer weiß schon, dachte sich Jakob, wann und wozu das noch gut sein kann. Die Sache mit dem Schweißer-Pass gestaltete sich äußerst problematisch, aber den brauchte Jakob zum Schlosserabschluss nun gerade am nötigsten. Doch die Chefs stellten sich quer.
„Das find ich vielleicht doof“, gestand Jakob seinem Kollegen.
„Angeblich ist keine Stelle mehr frei. Von wegen!“, knurrte er vor sich hin.
Da half es nicht mal, dass der Schweißer-Ausbilder sich für ihn stark machte, alles daran setzte, ihn in seine Klasse zu bekommen. Unter sechs Augen mit Bereichsleiter und „Parteifutzi“ des Kombinats – alles nannte letzteren nur so – legte man Jakob an Herz und Verstand: „Tritt doch in die Partei ein. Damit können wir uns begründet für deine Bildung einsetzen.“ Nach heftigem Zwei-Stunden-Gespräch, lauter Geschwafel, und vor allem nach einigen Zugeständnissen seitens des Parteivorsitzenden, hatte Jakob schließlich so manchen Vorteil für sich herauszuschlagen gewusst.
Dann erst unterschrieb er den Aufnahmeantrag in die SED.
Gleich am nächsten Tag hielt er nicht nur die Zusage für die Schweißer-Ausbildung samt geforderter Freistellung in den Händen, nein, er wurde auch um sage und schreibe zwei Lohngruppen höher gestuft. Ein neuer Vertrag und alles, was dazugehörte.
Mit schelmischem Lächeln und gewachsenem Selbstbewusstsein betrat Jakob seinen Arbeitsplatz. Vom Brigadier wurde er sofort als seinesgleichen aufgenommen. Das musste gefeiert werden!
Jakob ging es oft so: Durch viel Fleiß, Überstunden, einer ihm angewachsenen großen Klappe und genügend Ellenbogenarbeit schaffte er tatsächlich den Berufsabschluss Stahlbauschlosser und wurde zudem Kranfahrer für alle im Werk herumstehenden Krane. Nun war er wer und sein Können war gefragt!
Mittlerweile mit Parteibuch in der Brusttasche und dem Parteiauftrag, sich in Zukunft um die Belange besonders der jungen Arbeitskollegen zu kümmern, ihnen bei der Problembewältigung behilflich zu sein.
Jakob nahm diesen Auftrag richtig ernst.
Zu ernst.
Denn wenn sich ein Jakob einmal etwas vorgenommen hat, ist die lästige Angewohnheit, das unter allen, aber auch allen und noch so widrigen Umständen durchzusetzen, nicht weit. Koste es, was es wolle.
Jakob setzte alle Hebel in Bewegung. Bei der Feier zu seinem neuen Vertrag durfte es genauso hoch hergehen wie bei seinem ersten Brigade-Einstand hier.
Drei Fünfliterkanister aus Plaste mussten heran.
Wurden im nächsten Dorf mit Obstwein gefüllt und um die Werkshalle herum bewusst vom Hinter-Tor aus in die angrenzende Schlosserei geschleust. Zum Wein kamen noch zwei große Flaschen Pfefferminzlikör und vier Flaschen Sprudel hinzu, weil der Kleine, der noch Lehrling im zweiten Lehrjahr war, keinen Alkohol trinken durfte.
Er hatte ohnehin gleich Feierabend und sollte in der Lage sein, ihnen mit dem Moped noch etwas Nachschlag heranzuschaffen. Es war nichts Besonderes, fiel nicht weiter auf, dass an diesem Tag über die Hälfte der Schlosser eine Doppelschicht einlegte; denn zu tun gab es reichlich.
Die Arbeit selbst allerdings vollzog sich vorn in der Werkstatt. Auch dafür lösten sie sich fairer Weise zu regelmäßigen Zeiten ab. Als die Spätschicht zur Hälfte um war, trafen die der Nachtschicht Zugeteilten ein. Auch sie zogen, als sie sich zu den schon ziemlich angesäuselten Kollegen hinzugesellten, zwei Flaschen „Pfeffi“ aus ihrer Jackentasche.
Ohne Frage, das Heimkommen war die reinste Herausforderung.
Gestaltete sich offensichtlich schwierig.
Aber Patte, der Brigadier des eingeschworenen Haufens, hatte selbst dafür eine Lösung. Er ließ einfach drei Taxis vor die Umkleide kommen. Um die neun Männer, die alle heimwollten, abzuholen.
Doch der Heimfahrtsgedanke war ihnen ganz plötzlich, während sie da drinnen saßen, wie weggeblasen. Es schoss ihnen vielmehr in den Sinn, dass sie eigentlich die Brigadeversammlung gleich jetzt noch in ihrer Stammkneipe abhalten könnten. Was geschah.
Die Nacht war kurz, aber am nächsten Tag stand alles zur Frühschicht wieder auf der Matte. War zwar noch nicht ganz bei sich, doch Erscheinen war Pflicht. Viel ist an dem darauffolgenden Tag nicht fertig geworden, eher nur das Notwendigste. Drei Formenwagen rüsteten sie um und ein Absperrgeländer für den Kipptisch wurde angeschweißt.
Der dazu diente, den jeweiligen Formenwagen anzukippen, die darin befindliche Betonplatte aus ihrer Form zu lösen und sie an den Kran mittels Traverse zu hängen, um sie dann in die Komplettierung auf die Förderschiene zu heben. Von da an fuhr die Traverse, also die Aufhängung mit ihrer weiteren Aufhängung, entweder samt Platte oder auch mal ganz leer nur noch hängend auf Schienen durch die Halle. Das vorangegangene Einfädeln auf die Schiene war immer eine Übung für sich, da musste der Kranfahrer ein sehr ruhiges Händchen haben, wenn keiner der Untenstehenden von der Last erschlagen werden sollte.
An diesem Tag war Jakob an der Reihe. Die Frühschicht war ohne Kranfahrer geblieben, weil der wegen einer Grippe ausgefallen war. Jakob musste also in seinem Zustand, mit Schmerzen und Drehen im Kopf, die Sache übernehmen.
Nun, an Aufputschmitteln mangelte es nicht. Kaffee beispielsweise wurde ihm in regelmäßigen Abständen in einer großen Tasse auf die gerade am Haken hängende Traverse gestellt. Die zog Jakob dann in die Höhe und über den Kippschalter, den er überbrückte, ganz nah an seine Krankabine heran, so dass er aus dem Seitenfenster mit nur wenigen Streckungen oder Verrenkungen die Tasse ergreifen und Kaffee tanken konnte.
‚Etwas Gutes hat dieser Kranjob!’, fand Jakob, man hat wenigstens seine Ruhe.
Und gegen Mittag waren auch die Kopfschmerzen wie weggeblasen.
Nur, als in der Mittagspause Jakob vom Kran herunterstieg, um die Essenmarke in der Kantine gegen Kartoffeln, Kassler und Sauerkraut einzutauschen, nahm ihn der Betriebsleiter beiseite. Fragte ihn ungewöhnlich freundlich: „He, Jakob, hast du nach Feierabend heute was vor?“
Jakob stutzte. Worauf wollte der denn hinaus?
„Kommt ganz drauf an“, gab er zurück.
Aber eine Antwort schien der Fragende gar nicht erwartet zu haben. „Mensch, kannst du uns nicht zusätzlich noch die Spätschicht fahren? Der Lothar hat auch die Grippe gekriegt und ich finde einfach keinen Ersatz.“ Er sah flehend zu Jakob hoch, meinte zwar, man suche noch, doch Jakob möge sich schon mal drauf einstellen. Auch das noch. Noch ’ne Nachtschicht.
„Eigentlich müsst ich Koffer packen – aber sonst liegt nichts Umwerfendes an …“
„Überleg’s dir. Für Kaffee, Essen und das Finanzielle hab ich schon gesorgt.
Da sollte ganz schön was für dich drin sein“, klopfte er dem Angesprochenen auf die Schulter, als würde es dadurch besiegelt. Noch während er davon ging, fragte Jakob sich und lauter dann ihn: „Gesetzt den Fall, ich tue es. Wie komm ich denn danach bloß zu den anderen? Es steht ja langes Wochenende an. Und wir wollen doch alle zusammen den Betriebsausflug für verdiente Jungarbeiter und -genossen machen, oder?“
Aber Jakobs Einwand war schnell vom Tisch.
„Falls sich kein andrer für die Nachtschicht findet? Dann wirst du direkt vor Ort chauffiert. Könntest vorher noch mal nach Hause, Sachen packen und dich frisch machen. Ich regle das schon.“
Alles klar.
Und es kam, wie es kommen sollte.
Jakob fuhr auch noch die dritte Schicht.
Hintereinander.
Handelte sich damit zugleich den „Aktivisten“ und den Bonus von zweihundert Ostmark ein und die ungewöhnliche Ehre für den Folgetag: im Wolga des Betriebs in die Ferien chauffiert zu werden. Hatte in der Tat reichlich viel Arbeit, da außerdem das Soll ziemlich auf der Kippe stand, wegen der vielen Grippeausfälle. All das bedurfte Unmengen an Tassen Kaffee.
Aber Jakob war eben Jakob.
Schaffte es, ohne mit dem Kran dabei irgendeinen Schaden anzustellen, über diese Nachschicht hinwegzukommen.
Der Bereichsleiter stand Punkt 6.00 Uhr in der Umkleide, drückte Jakob das Geld in die Hand und legte zum Lob gleich noch einen Fünfziger als Bonus auf den Bonus mit drauf. Auch der Wolgafahrer wartete schon und chauffierte Jakob fix nach Hause, Koffer holen und dann weiter in die Ferien, auf nach Marienberg.
Von der Fahrt allerdings bekam Jakob wenig mit. Er war ihm schon mühsam genug gewesen, beim Kofferpacken nichts zu vergessen. Die Hinreise sollte er vollends verschlafen. Gleich beim Auffahren auf die Autobahn war es um ihn auf der Rückbank geschehen. Das dumpfe raue Surren des Motors und die regelmäßigen Stöße der Bitumenfugen taten ein Übriges.
In Marienberg hingen dichte Nebelschleier über dem Ort, es war diesig und nasskalt. Schlaftrunken stieg Jakob aus und gewahrte einen ebenso verschlafenen Ort. Das passte ja wieder mal. ‚Nichts los hier!’, gähnte er. Er stieß einen Kieselstein mit dem rechten Schuh von sich und drehte sich einmal um die eigene Achse.
Ach da, ein paar Meter hinter ihm stand ein Bus. Und bekannte Gesichter stiegen aus dem. Nanu? Verblüffte Gesichter. Der ganze Bus staunte nicht schlecht.
„Das gibt’s doch gar nicht. Du bist schon da? Wie jetzt?“
Ab sofort war Jakob das Gesprächsthema Nummer eins. Die jungen Kollegen und Parteigenossen, die wie er fast alle FDJler waren und sich sowohl von Veranstaltungen, als auch von der Arbeit her kannten, begrüßten ihn anständig.