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Im Jahr 2005 hatte für insgesamt 25.307 junge Menschen die Hilfe zur Erziehung in einem Heim oder in einer sonstigen betreuten Wohnform (wieder) neu begonnen und war im Jahr 2012 bereits um 42 % auf 36.048 junge Menschen angestiegen. Im Jahr 2016 gab es einen erneuten Anstieg um 30 % auf 95.582 Kinder und Jugendliche in stationärer Erziehungshilfe. Dieser Anstieg ist wohl primär mit dem Schutzauftrag der Jugendhilfe zur Prävention und Abwehr von Kindeswohlgefährdung zu erklären. Auch die geflüchteten Kinder und Jugendlichen bedürfen der Unterstützung durch die Jugendhilfe. Die absolute Zahl der in Heimen oder sonstigen Wohnformen lebenden Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen war dagegen im Vergleichszeitraum relativ gleich. Betrug im Jahr 2005 die durchschnittliche Aufenthaltsdauer noch 27 Monate, waren es im Jahr 2012 nur noch 20 Monate und im Jahr 2016 sogar nur noch 17 Monate (Statistisches Bundesamt 2014, 2018b). Unterschiedliche Evaluationsstudien zeigten auf, dass Hilfen zur Erziehung im Durchschnitt erst ab dem zweiten Jahr der Hilfe nachweisbare Erfolge aufweisen, die im dritten Jahr noch weiter ansteigen. Dem würde die oftmals vorgefundene Praxis widersprechen, aus Kostengründen von Beginn an festzulegen, Erziehungshilfen schon nach kürzerer Zeit zu beenden (Macsenaere/Herrmann 2004, S. 39). Die Realität bietet gegenwärtig folgendes Bild: Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer war bei den im Jahre 2016 aus der Heimerziehung Entlassenen mit 17 Monaten deutlich kürzer als die für erforderlich gehaltene Mindestdauer von zwei Jahren. Rechnet man die 23 % Kinder und Jugendlichen heraus, welche nur bis zu drei Monaten im Heim verblieben (vermutlich zur Klärung ihrer Lebenssituation und/oder zur Überbrückung einer akuten Notlage), so wurden weitere 35 % bereits nach einer Aufenthaltsdauer von drei bis zwölf Monaten und insgesamt 47 % nach einer Dauer von bis zu eineinhalb Jahren entlassen. Als Gründe lassen sich jedoch keineswegs nur fiskalische Überlegungen der Kostenträger anführen. Denn in 32 % aller Fälle wurde die Hilfe abweichend vom Hilfeplan bzw. den Beratungszielen vorzeitig abgebrochen, davon zu 51 % auf Veranlassung der Sorgeberechtigten und/oder den jungen Volljährigen und zu 24 % durch Minderjährige (Statistisches Bundesamt 2018b). Rumpf (2009, S. 28) beklagt, „dass die betroffenen Personensorgeberechtigten nur halbherzig die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der Hilfemaßnahme mittragen und sie wie auch das der Hilfe bedürftige Kind das Prinzip der Freiwilligkeit überbewerten. Es ist wohl nicht immer gelungen, ihnen zu vermitteln, dass die gleichberechtigte Beteiligung am Kommunikationsprozess über geeignete Hilfen nicht bedeutet, gemeinsam geplante Ziele kurzfristig eigenmächtig zu verändern.“
54 % der jungen Menschen erhielten nach ihrer Entlassung aus der Heimerziehung weitere Hilfe(n) zur Erziehung bzw. Eingliederungshilfe, 5 % wurden durch den Allgemeinen Sozialdienst des Jugendamtes oder weitere Beratungsstellen unterstützt, in 41 % wurden allerdings keine weiteren Hilfen mehr gewährt (Statistisches Bundesamt 2018b).
Quantitative Veränderungen/Träger der Einrichtungen
Die Struktur der Trägerschaft der Heime und sonstigen betreuten Wohnformen bietet folgendes Bild: Von den insgesamt 36.754 Institutionen der stationären Erziehungshilfe sind 77,5 % in freier Trägerschaft und 22,5 % in öffentlicher Trägerschaft. Bei den freien Trägern sind die beiden konfessionellen Verbände, das Diakonische Werk (22 %) und der Caritasverband (15 %), besonders stark vertreten, nämlich mit 37 % aller freien Träger. Es folgen Institutionen des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes mit 17 % und der Arbeiterwohlfahrt mit 5 %. Etwa 6 % der Einrichtungen werden von Wirtschaftsunternehmen vorgehalten, 20 % von sonstigen juristischen Personen und anderen Vereinigungen. Die restlichen 15 % verteilen sich auf verschiedene Träger wie z. B. das Deutsche Rote Kreuz, die Zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland und andere religiöse Gemeinschaften des öffentlichen Rechts (Statistisches Bundesamt 2018a).
Am 31. Dezember 2016 waren insgesamt 93.551 pädagogisch/therapeutische Fachkräfte in Einrichtungen der Heimerziehung und in sonstigen betreuten Wohnformen incl. Internaten, die nach §34 KJHG aufnehmen, tätig. Den Hauptanteil der Mitarbeiter*innen nehmen mit 40 % Erzieher*innen ein. Danach kommen mit 24 % Sozialpädagog*innen und Sozialarbeiter*innen (Diplom Fachhochschule oder Bachelorabschluss, beides mit staatlicher Anerkennung). Die Berufsgruppe der Pädagog*innen und Erziehungswissenschaftler*innen hat einen Anteil von 7 %. Annähernd 1 % sind Heilpädagog*innen. Kinderpfleger*innen findet man nur noch mit einem Anteil von weniger als 1 %. Heilerzieher*innen und Psycholog*innen sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen sind jeweils zu etwa 3 % vertreten. Darüber hinaus finden sich verschiedene Berufsgruppen wie z. B. Familienpfleger*innen, Lehrer*innen, aber auch Krankenpfleger*innen (Statistisches Bundesamt 2018a).
Resümee
Die Geschichte der Heimerziehung ist durch sehr viel Leid, Missachtung und durch das Fehlen einer Befriedigung elementarster Grundbedürfnisse wie liebevolle Zuneigung, Geborgenheit, Anerkennung und Lob gekennzeichnet. Unzulängliche Rahmenbedingungen und der Mangel oder das Außerachtlassen pädagogisch begründeter Vorgehensweisen innerhalb der Praxis haben zu einer Abseitsstellung und einem Negativimage der Heimerziehung geführt. Wie wir gesehen haben, hat sich das Praxisfeld Heimerziehung innerhalb der letzten 70 Jahre sehr stark verändert. Die Einrichtungen wurden von Anstalten mit Aufbewahrungscharakter zu differenzierten pädagogischen Institutionen mit qualitativ gut ausgebildeten pädagogischen Mitarbeiter*innen. Diese verbesserte pädagogische Ausgangslage wird in der Gesellschaft aber weiterhin zu wenig gesehen und anerkannt. Heimerziehung gilt oftmals immer noch als letztes (pädagogisches) Mittel.
Der Ende der 1960er-Jahre während der Heimkampagne laut gewordene Ruf: „Holt die Kinder aus den Heimen!“ ist aus heutiger Sicht, wenn man die Forderungen auf alle Kinder und Jugendlichen bezieht, pädagogisch weder notwendig noch verantwortbar, vor allem aber in der Praxis nicht realisierbar. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn wir die Indikationsstellung, d. h. die Problemlagen der Kinder und Jugendlichen, die auf Heimerziehung angewiesen sind, näher analysieren. Die heutige Heimerziehung hat die notwendigen Reformen weitgehend realisiert. Die sehr differenzierten Institutionen der stationären Erziehungshilfe bieten ein großes Spektrum von Leistungsangeboten für junge Menschen mit schwierigen Ausgangs- und Lebenslagen und für deren Familien. Die breite Öffentlichkeit hat diese Reformen zumeist nicht erkannt, zu oft wird Heimerziehung noch mit einer unfreiwilligen Fürsorgeerziehung gleichgesetzt, die aber weder im Kinder- und Jugendhilfegesetz (Sozialgesetzbuch VIII) noch in der Praxis existent ist. Auch aktuell ist die Heimerziehung noch immer eine der häufigsten Formen von Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen.
Indikationen für Heimerziehung und sonstige betreute Wohnformen
Aus welchen Familien kommen Heimkinder?
Aus welchen Gründen kommen heute Kinder und Jugendliche in Heime und sonstige Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe? Wir wissen aus der Geschichte der Heimerziehung, dass es sich früher fast ausschließlich um elternlose oder um ausgesetzte Kinder handelte. Dies ist aber, nachdem zunächst noch zahlreiche Kriegswaisen nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges beheimatet werden mussten, längst nicht mehr der Fall. Waisenkinder sind in der gegenwärtigen Heimerziehung eine seltene Ausnahme.
Kinder und Jugendliche leben heute in Heimen oder in sonstigen betreuten Wohnformen (Außenwohngruppen, Wohngruppen, Betreutes Wohnen), wenn sie aus sehr unterschiedlichen Gründen in ihrer Herkunftsfamilie vorübergehend oder auf längere Sicht nicht leben können, wollen oder dürfen. Es handelt sich in der Regel um junge Menschen, die aus schwierigen oder aus schwierigsten Verhältnissen stammen. Sie bringen bei der Aufnahme ihre eigene individuelle Lebensgeschichte mit, die manchmal schon auf den ersten Blick sehr erschütternd sein kann. Bisweilen werden traumatische Lebenserfahrungen, langandauernde Frustrationen und Erziehungssowie Erfahrungsdefizite jedoch erst im Laufe des Heimlebens erkennbar.
Die Kinder stammen in der Regel aus unterprivilegierten Bevölkerungsschichten, der Ausbildungsgrad und der berufliche Status ihrer Eltern sind überwiegend gering. Kinder mit einem Stiefelternteil sind besonders häufig. Alkoholoder andere Suchtprobleme spielen in vielen der Familien eine Rolle und zeigen in der Regel negative Auswirkungen auf die dort lebenden Kinder.
Sogenannte Scheidungskinder oder auch Scheidungswaisen sind in der Heimerziehung überrepräsentiert. Kinder und Jugendliche aus gescheiterten Pflegeverhältnissen kommen in den vergangenen Jahren immer häufiger in stationäre Institutionen der Jugendhilfe, insbesondere mit Beginn der Pubertät, wenn neue und möglicherweise auch größere Erziehungsprobleme auftauchen. Viele der Kinder und Jugendlichen haben leidvolle – auch sexuelle – Gewalterfahrungen in ihren Familien erdulden müssen.
Eine Heimeinweisung erfolgt in der Regel nicht beim Erstkontakt mit dem Jugendamt. Oftmals wurden die Schwierigkeiten zuvor vergeblich mit ambulanten Maßnahmen abzubauen versucht. Manche älteren Kinder bzw. Jugendliche melden sich auch selbst beim Jugendamt, weil sie es in ihrer Familie nicht mehr aushalten, weil sie sich zu eingeengt und zu unwohl fühlen und bitten um die Aufnahme in ein Heim oder in eine Wohngruppe.
Im Jahr 2016 hat für insgesamt 61.764 junge Menschen die Hilfe zur Erziehung in einem Heim oder in einer sonstigen betreuten Wohnform (wieder) neu begonnen, davon waren 28 % Mädchen. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit ausländischer Herkunft mindestens eines Elternteils betrug 59 %, wobei der erhöhte Anteil auf die hohe Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge zurückgeht (Statistisches Bundesamt 2018b).
Wie war die Situation in der Herkunftsfamilie?
Situation in der Herkunftsfamilie in % Elternteil alleinlebend 28 Elternteil mit neuem Partner 14 Eltern zusammenlebend 18 Unbekannt 38 Eltern verstorben 2Es wird deutlich, dass viele der Kinder und Jugendlichen vor der Aufnahme in eine stationäre Erziehungshilfe nicht in traditionellen Familienkonstellationen gelebt haben (Stephens 2013), sondern ein relativ hoher Anteil bei alleinstehenden Elternteilen bzw. in Stiefelternfamilien aufgewachsen ist (Statistisches Bundesamt 2018b). Die Gefahr der Armut ist in diesen Familienkonstellationen höher, was sich wiederum zu einer höheren Belastung der Familienmitglieder führen kann (Pears/Capaldi 2001). Der hohe Anteil der Fälle, in denen über die Familiensituation vor der Aufnahme ins Heim nicht viel bekannt ist, ist sicher unter anderem auch wieder auf die Situation der geflüchteten jungen Menschen zurückzuführen.
Wo hatten sich die jungen Menschen vor der stationären Hilfegewährung aufgehalten?
Aufenthalt vor der Hilfe in % Eltern 43 Heim, betreutes Wohnen 25 Pflegefamilie 6 Verwandtenfamilie 3 Sonstiger Aufenthaltsort (z. B. Jugendstrafvollzug) 3 Psychiatrie 1 sozialpädagogische Einrichtung (z. B. Internat, Mutter-Kind Einrichtung) 5 Nichtverwandte Familien 2 ohne festen Aufenthalt 5 Unbekannt 7(Statistisches Bundesamt 2018b)
Im Vergleich zum Ausgangsjahr 1991 hat sich der prozentuale Anteil der jungen Menschen, die aus einem Heim in ein anderes Heim vermittelt wurden, fast verdreifacht (vgl. auch Statistisches Bundesamt 1997).
Die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, die vor ihrem Aufenthalt bei ihren Eltern gelebt haben beträgt nur 43 % und ist im Vergleich zu 2012 deutlich gesunken. Dagegen ist die Zahl der vorher in einem anderen Heim lebenden Kinder von 17 auf 25 % nochmals angestiegen (Statistisches Bundesamt 2012, 2018b).
Wer hat den Heimaufenthalt angeregt?
Soziale Dienste 56 % Eltern/Personensorgeberechtigter 21 % Junger Mensch selbst 15 % Gericht 2 % Schule 1 % Arzt 2 % Sonstige 3 %(Statistisches Bundesamt 2018b)
In mehr als der Hälfte der Fälle wurde der Heimaufenthalt direkt vom Sozialen Dienst des Jugendamtes angeregt, aber in mehr als einem Drittel der Fälle kam die Anregung aus der Familie selber.
Die Altersverteilung der jungen Menschen, die im Jahr 2016 neu in einem Heim oder in einer sonstigen betreuten Wohnform aufgenommen wurden, sieht wie folgt aus:
Alter von … bis unter … Jahren unter 1 631 1,0 % 1–3 768 1,3 % 3–6 1.714 2,7 % 6–9 2.949 4,7 % 9–12 4.045 6,6 % 12–15 9.518 15,4 % 15–18 33.686 54,5 % 18–21 8.391 13,7 % 21 und älter 62 0,1 %(Statistisches Bundesamt 2018b)
Der Hauptschwerpunkt der Neuaufnahmen lag – wie auch in den Vorjahren – ganz eindeutig mit fast 77 % bei der Altersgruppe der 12- bis 18-Jährigen, wobei die 15- bis 18-Jährigen besonders stark vertreten waren. Vielfältige Praxiserfahrungen belegen, dass ältere Kinder und Jugendliche mit größeren Schwierigkeiten und persönlichen Problemen in die Institutionen aufgenommen werden. Die Aufnahme erfolgt zum Teil auch nicht aus der Familie direkt, sondern aus anderen Hilfen wie Pflegefamilien oder anderen Heimeinrichtungen. Zusätzlich wurden in den Jahren 2015 – 2016 auch verstärkt junge Menschen aufgenommen, die ohne ihre Familien nach Deutschland geflohen waren. Der Schwerpunkt der Aufnahmen im Pubertätsalter, das durch Ablösung, Identitätsfindung und Auseinandersetzung mit Bezugspersonen gekennzeichnet ist zeigt, dass unter diesen Bedingungen die Ausgangsbedingungen in der stationären Erziehungshilfe herausfordernd sein können.
Die Problemlagen der Kinder und Jugendlichen
Kinder und Jugendliche, für deren Erziehung Interventionen im Rahmen der stationären Erziehungshilfe als notwendig erachtet werden, sind solche mit besonderen Problemlagen, die gesellschaftlich, individuell und/oder familiär begründet sein können.
Hauptgrund für die Hilfe der jungen Menschen, die am 31. Dezember 2016 in einer Institution der stationären Erziehungshilfe lebten:
Einschränkung der Erziehungskompetenz 12 % Gefährdung des Kindeswohls 14 % Auffälligkeiten im sozialen Verhalten 6 % Unversorgtheit des jungen Menschen 32 % Gefährdung des Kindeswohls 14 % Auffälligkeiten im sozialen Verhalten 6 % Unversorgtheit des jungen Menschen 32 % Unzureichende Förderung 10 % Belastung durch familiäre Konflikte 5 % Belastung durch Probleme der Eltern 5 % Entwicklungsauffälligkeiten 5 % Übernahme eines anderen Jugendamtes 9 % Schulische Probleme 2 %(Statistisches Bundesamt 2018b)
40 % der Herkunftsfamilien bzw. der jungen Volljährigen waren auf staatliche Transferleistungen angewiesen, sie lebten ganz oder teilweise von Arbeitslosengeld II, von Grundsicherung oder von Sozialhilfe. Empirische Befunde zeigen, dass das Risiko, emotionale und Verhaltensstörungen zu entwickeln, für Kinder, die in prekären Verhältnissen leben deutlich erhöht ist. Dazu kommen weitere traumatische Erlebnisse aufgrund von Vernachlässigung, körperlicher Misshandlung und sexuellem Missbrauch, die ebenfalls zu hohen psychischen Belastungen wie Angst und Depressionen bis hin zu aggressivem Verhalten führen können (Mills et al. 2013).
So zeigte sich beispielsweise in einer Untersuchung von Günder und Reidegeld (2007) zum Thema „Aggressionen in der Stationären Erziehungshilfe“ in der die Angaben von 367 in der Heimerziehung tätigen Fachkräften ausgewertet wurden, dass bei 42 % der in den stationären Einrichtungen lebenden Kindern und Jugendlichen aggressive Verhaltensweisen ein wichtiger Grund bereits bei der Aufnahme waren. Auf die Frage, wie sich die Aggressionen in den letzten fünf Jahren entwickelt haben, antworteten 71 % der befragten Fachkräfte, dass aggressive Verhaltensweisen zugenommen bzw. stark zugenommen hätten. Die große Mehrheit ist der Auffassung, dass verbale Aggressionen (81 %), körperliche Gewalt (58 %) und autoaggressive Gewalt (47 %) in der stationären Erziehungshilfe extrem stark zugenommen hätten. 52 % sind überzeugt, dass verstärkt Gewalt gegen Sachen festzustellen sei. Überwiegend (59 %) wird vermutet, dass 5 bis 15 % aller Kinder und Jugendlichen intensiv aggressiv seien. Insgesamt muss in der Heimerziehung von einem erhöhten Anteil psychisch belasteter, traumatisierter Kinder ausgegangen werden.
Die besondere Situation unbegleiteter minderjähriger geflüchteter Kinder und Jugendliche (UMF) in der stationären Erziehungshilfe
Ein erhöhter Anteil von traumatischen Erfahrungen und psychischen Belastungen trifft auch auf unbegleitete minderjährige Geflüchtete in der stationären Erziehungshilfe zu, die in den Jahren 2015/2016 verstärkt nach Deutschland gekommen sind. In dieser Zeit erreichten mehr als 65.000 UMF die Bundesrepublik Deutschland, wovon über 80 % männlich und zwischen 15 und 17 Jahre alt waren (Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen 2017). Unbegleiteten Minderjährigen wird im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe Schutz gewährt im Rahmen einer Inobhutnahme durch das Jugendamt gemäß §42 KJHG. Sie bekommen in der Regel einen Amtsvormund (nach § 55 KJHG) an die Seite gestellt, der die rechtliche Stellung eines Erziehungsberechtigten vertritt. Häufig erfolgt dann eine Unterbringung der jungen Menschen im Rahmen der stationären Jugendhilfe in Heimgruppen oder in Pflegefamilien. Durch die hohe Anzahl ankommender Geflüchteter und damit auch unbegleiteter Minderjähriger, nahm die Zahl der Unterbringungen in stationären Einrichtungen der Erziehungshilfe in den Jahren 2015/2016 deutlich zu. Im Jahr 2015 wurden 42.309 unbegleitete minderjährige Geflüchtete (davon 91% männlich) im Rahmen der Jugendhilfe in Obhut genommen (Statistisches Bundesamt 2016). Die Einrichtungen mussten sich auf eine hohe Nachfrage nach stationären Plätze einrichten, was zu einer Neugründung von Gruppen, aber auch freien Trägern führte und teilweise Übergangslösungen und Notgruppen notwendig machte (Muss 2019, S. 49). Neben der quantitativ gestiegenen Zahl an Plätzen musste außerdem den besonderen Bedarfen der UMF gerecht werden. So waren z. B. Sprachbarrieren zu überwinden, aber auch die Eingewöhnung in das Leben in Deutschland zu erleichtern. Besondere rechtliche Kenntnisse z. B. im Bereich von Asylrecht wurden notwendig, um die UMF entsprechend beraten bzw. an entsprechende Stellen verweisen zu können. Inzwischen ist die Zahl der UMF zwar wieder deutlich zurückgegangen (im Jahr 2017 wurden ca. 20.910 Jugendliche aufgrund unbegleiteter Einreise nach Deutschland in Obhut genommen, s. Statistisches Bundesamt 2018), da sich die Politik gegenüber geflüchteten Menschen wieder verschärft hat, dennoch ist es sinnvoll, die Bedarfe dieser speziellen Gruppe einmal aus ihrer Sicht genauer zu betrachten und Fachkräfte in der (stationären) Kinder und Jugendhilfe im Hinblick auf die Notwendigkeit interkultureller Schlüsselkompetenzen zu sensibilisieren.
Im Rahmen eines transdisziplinären Praxisforschungsprojektes zur Situation von UMF in stationärer Jugendhilfe (Nowacki/Remiorz/Muss 2018) wurden 44 männliche Jugendliche im Alter von durchschnittlich 17,05 Jahren (min 15 max 18), die ohne familiäre Begleitung nach Deutschland geflüchtet waren, zu ihrer Lebenssituation in der Jugendhilfe befragt. Es konnten insbesondere eine hohe Bildungsaffinität und der Wille, sich in die deutsche Gesellschaft einzufügen, festgestellt werden (Nowacki/Remiorz/Mielke 2019).
„Ich möchte was in meinem Leben erreichen. Ausbildung, Weiterbildung vielleicht und … Ja, es gibt viele Dinge, an die ich mich nicht erinnern möchte. Aber als ich hier nach Deutschland kam, dachte ich, dass alles gut für mich wird. Ich möchte hier bleiben und leben“ (Nowacki et al. 2019, S. 98).
Auch der Wunsch selber etwas für andere zu tun wurde deutlich: „Ich gehe regelmäßig in die Schule, dann gehe ich auch dreimal in der Woche zum Sport. Dann habe ich aber auch noch selber ein Projekt ‚Flüchtlinge für Flüchtlinge‘“ (Nowacki et al., 2019, S. 97).






