- -
- 100%
- +
Es konnte eine positive Einstellung der jungen Menschen insbesondere zu ihren Betreuer*innen festgestellt werden. So betont ein junger Mann im Hinblick auf die Betreuerin in seiner Gruppe: „Sie (meine Mentorin) betreut mich, wenn ich Probleme habe … Sie hilft mir überall und beschützt mich, wie meine Eltern mich beschützen würden“ (Nowacki et al. 2019, S. 99).
Gleichzeitig wurden aber auch erhöhte psychische Belastungen und Traumatisierungen aufgrund der Fluchtgeschichte deutlich, mit gleichzeitig deutlich erhöhtem Bedarf an entsprechend geschultem Personal mit einschlägigen und weiteren kulturellen Kenntnissen und einem Mangel an Therapieplätzen (Nowacki/Remiorz/Nyrabia 2019, S. 83).
Die Ergebnisse zeigten sich vergleichbar in einer weiteren Untersuchung. Auch Bohn und Rada (2019) betonen, dass geflüchtete Kinder und Jugendliche zentrale Kompetenzen mitbringen, die für ihre Integration in Deutschland wichtig sind (S. 109 ff.). Auch sie haben eine hohe Freude der Jugendlichen gefunden, zur Schule zu gehen und sich z. B. in Sportvereinen zu engagieren. Gleichzeitig stellen sie aber auch heraus, dass es Barrieren für die jungen Menschen gibt, die ein Einleben erschweren. Dies betrifft auch junge Geflüchtete, die mit ihren Eltern eingereist sind und in Notunterkünften leben. Diese erführen häufig Diskriminierung seitens der Ämter und das Gefühl der Nichtbeachtung, Ablehnung und Rechtlosigkeit. Die Kinder fühlten sich isoliert, teilweise aggressiv und sehr unglücklich (S. 116).
Auch in einer aktuellen Umfrage des Bundesfachverbandes unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (2019) zeigt sich eine vermehrte Angst vor Abschiebungen, eine Zunahme des Erlebens von Rassismus und Angst vor der Zukunft.
Die positiven Ergebnisse der Studien im Hinblick auf Bildungsaffinität und Integrationswillen der jungen Menschen mit Fluchtgeschichte stehen im Gegensatz zu den geschilderten negativen Erfahrungen von Diskriminierungen und unklaren Zukunftsperspektiven. Insbesondere bei den jungen Männern mit Fluchtgeschichte wird häufig eine erhöhte Kriminalität vermutet und ihnen werden häufig mit Erreichen des Erwachsenenalters viele Möglichkeiten der Integration erschwert (Graebsch 2019). Konkrete Zahlen zur Kriminalität von Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte müssen im Gesamtzusammenhang verstanden werden. So ergibt sich zwar ein höherer Anteil von Straftaten auch bei den jungen Menschen mit Fluchtgeschichte, dies ist zum einen aber vergleichbar mit den Alters- und Geschlechtsgenossen ohne Migrationshintergrund (junge Männer sind überzufällig häufig vertreten), zum anderen ist die Anzeigebereitschaft gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund deutlich größer. Hinzu kommen Straftaten im Rahmen des Migrationsrechts, die für Menschen ohne Migrationshintergrund gar nicht gelten. Pfeiffer, Baier, Kliem et al. (2018, S. 82 ff.) betonen, dass insbesondere junge Männer aus Bürgerkriegsländern wie Syrien oder Afghanistan einen deutlich geringeren Anteil an Straftaten junger Männer insgesamt ausmachen. Dies liegt u. a. an der besseren Bleibeperspektive, die junge Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte seltener in die Illegalität drängt.
Den jungen Menschen mit Fluchtgeschichte sollte also individuell und abgewogen begegnet und ihre humanitären Bedürfnisse unabhängig von ihrer Herkunft berücksichtigt werden. Eine Integration in die Mehrheitsgesellschaft ist eine Bereicherung im Hinblick auf Vielfältigkeit.
Insgesamt kann für die Betreuung von unbegleiteten, aber auch begleitet nach Deutschland eingereisten Kindern und Jugendlichen festgehalten werden:
•Berücksichtigung der individuellen Geschichte im Hinblick auf die Familie, Fluchtgründe und Fluchtgeschichte,
•erhöhte Wahrscheinlichkeit traumatischer Erfahrungen bedenken und ggf. weitere therapeutische Hilfe vermitteln,
•Beachtung von Sprachbarrieren und einer schnellen Unterstützung, die deutsche Sprache zu erlernen,
•Hilfe und Unterstützung beim Zurechtfinden in der deutschen Mehrheitsgesellschaft,
•Unterstützung bei Schule und Ausbildung,
•Hilfe und Vorbereitung auf die Zeit nach der stationären Erziehungshilfe (Wohnungssuche, Beantragung weiterer Hilfe nach §41 KJHG).
Hilfen für junge Volljährige und „Care Leaver“
Junge Menschen, die einen wesentlichen Teil ihres Lebens in Heimerziehung aufgewachsen sind und deren Herkunftsfamilien keine große Unterstützung darstellen können, sind mit dem Erreichen der Volljährigkeit u.U. sehr stark auf sich alleine gestellt. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz sieht zwar eine Möglichkeit vor, nach dem 18. bis zum 21. Lebensjahr „Hilfe für junge Volljährige“ und in begründeten Einzelfällen sogar darüber hinaus nach §41 KJHG zu beantragen, eine Bewilligung hängt allerdings von vielen Faktoren ab. Häufig werden zum einen Bedingungen an einen regelmäßigen Schuloder Ausbildungsbesuch geknüpft, zum anderen müssen aber noch genügend Defizite formuliert werden, sonst wird die Notwendigkeit der Hilfe unter Umständen nicht gesehen. Gerade öffentliche Träger, die kreisfreien Städten oder Kreisen angehörig sind und sich in schwieriger finanzieller Situation befinden, bekommen ggf. hohe Auflagen, gerade im Bereich der jungen Volljährigen Geld einzusparen. Nüsken (2008) spricht hier von regionalen Disparitäten, also großen kommunalen Unterschieden, was die Bewilligung von Hilfen zur Erziehung im Allgemeinen, aber insbesondere auch bei jungen Volljährigen betrifft.
In der Praxis führt dies teilweise dazu, dass junge Menschen in einer Wohngruppe, die durch verschiedene Jugendämter zugewiesen wurden, unterschiedlich lange Zeit für die Verselbstständigung haben. Natürlich liegen hier individuelle Hilfepläne zugrunde, die sich ausschließlich an den Ressourcen und Bedarfen der jungen Menschen orientieren sollten, aber in der Praxis der Jugendhilfe kommt es eben auch darauf an, wie die Bewilligungspraxis der örtlichen Träger für junge Volljährige aussieht (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2017). Diese Aspekte gelten auch bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, u. U. sogar noch verstärkt, da ihnen aufgrund der gelungen Flucht nach Deutschland von vorneherein eine stärkere Selbstständigkeit zugesprochen wird (Nowacki/Remiorz/Muss 2018). Bei diesem Argument wird wenig berücksichtigt, dass die Flucht mit potenziell traumatischen Erlebnissen einhergeht und die jungen Menschen ohne familiäre Unterstützung in einem für sie fremden Land zurechtkommen müssen. Hier muss eine selbstverständliche Unterstützung mit Erreichen der Volljährigkeit möglich sein und wird teilweise auch umgesetzt. Allerdings zeigen die politischen Debatten eher eine Verschärfung der Unterstützung der jungen Menschen und die Bleibeperspektive ist häufig unklar (Graebsch 2019, S. 8). Aus Sicht eines freien Trägers der Jugendhilfe stellen sich teilweise folgende Probleme:
„Wir haben erlebt, dass ein gerade volljährig gewordener afghanischer Flüchtling in eine Sammelunterkunft des Sozialamtes ziehen musste und sein Zimmer in der Wohngruppe von einem 19-jährigen afghanischen Flüchtling bezogen wurde, der eine weitere stationäre Hilfe erhalten hatte, obwohl die Hilfebedarfe vergleichbar waren. Dies war den jungen Menschen gegenüber kaum darstellbar und sie konnten nicht verstehen, dass der entscheidende Faktor zur Weiterführung einer Hilfe davon abhängig sein kann, welches Jugendamt zuständig ist“ (Muss 2019, S. 60).
Die finanziellen Engpässe diverser Kommunen sind sicherlich Realität, allerdings sind die Hilfen gerade auch in Hinsicht auf einen Ausgleich prekärer Lebensbedingungen verschiedener Gruppen von jungen Menschen zu sehen, die auf die Unterstützung der Gemeinschaft angewiesen sind. In diesem Zusammenhang wird auch argumentiert, dass Kinder, die in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen, im Schnitt erst mit 23,7 Jahren den elterlichen Haushalt verlassen (Statista 2018). Dies ist deutlich über dem Alter, in dem von jungen Menschen mit schwierigen Startbedingungen eine Selbstständigkeit erwartet wird. Eine Verlängerung des Hilfeprozesses böte eine größere Chance zur psychischen Stabilisierung und positiven Entwicklung. Dies zeigt sich auch in einer Analyse von Macsenaere und Arnold (2015), die herausstellen, dass Hilfen, bei denen Verselbstständigung gelingt, durchschnittlich doppelt so lange andauerten als solche, in denen dies nicht gelungen ist (S. 18). Im Hinblick auf weitere Wirkfaktoren einer gelungenen Verselbstständigung zeigt sich, dass sich insbesondere höhere Ressourcen im Lernbereich einerseits und keine dissozialen Probleme sowie Straffälligkeit oder Suchtgefährdung andererseits als förderlich für eine gelungene Verselbstständigung herauskristallisierten. Gerade die förderlichen Faktoren wurden häufiger bei Mädchen bzw. jungen Frauen gefunden, während die Schwierigkeiten stärker bei den Jungen und jungen Männern auftraten (S. 18). Wenn die Weitergewährung von Hilfen also an strengen Auflagen, wie dem regelmäßigen Schul- bzw. Ausbildungsbesuch hängt, haben Jugendliche mit psychischen Schwierigkeiten, die aufgrund ihrer Geschichte deutlich häufiger zu erwarten sind, eine geringere Chance auf ein gelungenes selbstständiges Leben. Dies findet sich auch in weiteren, zum Teil internationalen Studien, die deutlich machen, dass die Bildungssysteme im jungen Erwachsenenalter wenig auf diverse Biographien eingestellt sind. Die Notwendigkeit der Aufarbeitung von schwierigen Lebenserfahrungen und der Ausgleich eines geringeren finanziellen und kulturellen Kapitals für junge Menschen, die stationäre Erziehungshilfen verlassen, wird oft nicht ausreichend zur Verfügung gestellt (Schroer/Köngeter/Zeller 2012, S. 274).
Aufgrund der erläuterten Probleme müssen neben der Forderung nach einer verstärkten Förderpraxis für junge Volljährige weitere Konzepte für die jungen Menschen überdacht werden.
So gibt es mittlerweile neben dem Einzelengagement von Mitarbeitenden der Jugendhilfe mehr und mehr Angebote und Programme für junge Menschen, die in stationärer Erziehungshilfe aufgewachsen sind. Dies können z. B. regelmäßige stattfindende Treffen in Räumlichkeiten des Trägers sein, die von Mitarbeitenden begleitet werden. Aber auch Sprechstunden für praktische Fragen, z. B. im Hinblick auf Antragsstellungen etc., sind möglich. Der Einbezug bereits bekannter Bezugspersonen aus der Einrichtung (Betreuer*innen, aber auch Peers) ist ein wichtiger Aspekt für das Gelingen einer solchen fortgesetzten Hilfe (Thomas 2017). Hilfen für die stärkere Verortung in den Sozialraum sind ebenfalls sinnvoll, um die soziale Anbindung der jungen Menschen außerhalb der eigenen Institution zu stärken.
Diese Möglichkeiten der weiteren, informellen Unterstützung und persönlichen Ansprachen sind wichtige Elemente, um die jungen Menschen nicht vollkommen alleine zu lassen. Auch junge Menschen, die in Herkunftsfamilien aufgewachsen sind, haben in der Regel noch erwachsene Ansprechpersonen und einen Ort, der für sie ein Zuhause ist. Junge Menschen, die über viele Jahre in einer Wohngruppe aufgewachsen sind, betrachten diesen Ort mit hoher Wahrscheinlichkeit auch als ihr Zuhause, mit dem sie viele emotionale Erlebnisse verbinden und das in gewisser Weise Halt und Ansprache gegeben hat (Remiorz/Nowacki 2018). Natürlich wird dies von den jungen Menschen unterschiedlich empfunden und ggf. spielen die Herkunftsfamilien auch noch wichtige Rollen, aber das darf nicht über die Bedeutsamkeit von Wohngruppen hinwegtäuschen, auch wenn es sich um professionelle Einrichtungen mit darin arbeitenden Fachkräften handelt. Das menschliche Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit und Wichtigkeit für andere Personen ist hoch und muss in der Sozialen Arbeit berücksichtigt werden.
1Nationalsozialistische Volkswohlfahrt
2Reichsjugendwohlfahrtsgesetz
Kapitel 2
Heimerziehung im Kontext des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG)
Die generelle Zielsetzung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG)
Das Sozialgesetzbuch (SGB) VIII trat am 3. Oktober 1990 in den neuen und am 1. Januar 1991 in den alten Bundesländern in Kraft. In der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe ist die Bezeichnung Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) gebräuchlich.
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz folgt den Erkenntnissen der Sozialisationsforschung sowie neueren Ansätzen der Pädagogik und anderer Sozialwissenschaften. Der im Verhältnis zum alten Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) aufgetretene Perspektivenwechsel wird schon in § 1 des neuen Gesetzes deutlich:
Unter der Überschrift „Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe“ werden die Grundlagen und Zielsetzungen der Jugendhilfe zusammengefasst:
„(1) Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere
1.junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,
2.Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung zu beraten und zu unterstützen,
3.Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen, dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen.“
Die Lebensweltorientierung als Leitnorm des KJHG stärkt eindeutig die Stellung der Eltern und unterstreicht damit den Wert der Familie. Gleichwohl war sich der Gesetzgeber durchaus bewusst, dass Rahmenbedingungen in Familien so ungünstig sein können, dass sie sich gefährdend auf das Wohl der Kinder auswirken. Natürlich ist nicht jede Abweichung von der klassischen Kernfamilie als defizitär oder pathogen zu verstehen. Kinder und Jugendliche, die Erziehungshilfen benötigen, entstammen jedoch häufig Lebensformen, in denen Familien von Langzeitarbeitslosigkeit, der Not, eine angemessene Wohnung zu finden und bezahlen zu können sowie weiteren Herausforderungen eines Lebens am Existenzminimum betroffen sind. Das ist häufig verbunden mit alleinerziehenden Elternteilen, teilweise nach Scheidung, die schon deswegen stärker vom Armutsrisiko betroffen sind (s. u. a. Pears/Capaldi 2001). Das Leben am Existenzminimum geht insgesamt mit einem erhöhten Risiko für psychische Belastungen einher, was auch durch den vierten Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung (Bundesregierung 2017) bestätigt wird, wonach insbesondere von Arbeitslosigkeit betroffene Familien, Alleinerziehende und deren Kinder, gefolgt von Familien mit Migrationshintergrund ein besonders hohes Armutsrisiko tragen (S. XXI – XXII).
Das Armutsrisiko von Kindern ist nach wie vor deutlich höher als in der Gesamtbevölkerung. So leben rund 2,7 Millionen Kinder und Jugendliche in Haushalten mit geringem Einkommen (S. 248). Dies sind fast 20 % aller in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen.
Armut sowie die anderen vorgenannten familiären Situationen können negative Sozialisationsverläufe von Kindern und Jugendlichen auslösen und begünstigen. Da die Erziehungsverantwortung im KJHG primär bei den Eltern angesiedelt wurde, galt es, die Leistungen zugunsten der familiären Erziehung stark auszuweiten. Damit folgt dieses Gesetz auch systemorientierten Erklärungen, wonach Schwierigkeiten und auftretende Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen vorwiegend als Symptome der individuell vorhandenen Beziehungsstrukturen der Familie und des sozialen Systems zu verstehen sind.
Das Gesetz gibt nicht allgemeine Erziehungsziele vor, sondern spricht von individueller sozialer Entwicklung. Damit werden die Lebensbezüge der Menschen akzeptiert und ernst genommen. Auf diese gilt es sozialpädagogisch aufzubauen, die unterschiedlichen Leistungsangebote der Jugendhilfe sind umwelt- und lebensweltorientiert (Frankfurter Kommentar 2019, S. 360). Für die Heimerziehung bedeutet das Konzept der Lebensweltorientierung die Akzeptanz, Beachtung und Förderung früherer und gegenwärtiger örtlicher und sozialer Beziehungen der jungen Menschen. Deren individuellen Lebenswelten werden zum Ausgangspunkt einer ressourcenorientierten Entwicklungsförderung. Diese zielt auf eine Bewältigung der Anforderungen im Alltag ab, auf soziale Gerechtigkeit und letztlich auf eine Hilfe zur Selbsthilfe (Grunwald/Thiersch 2018, S. 906).
Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung
Die Absicht des Gesetzgebers war es, durch die Veränderung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes bzw. Sozialgesetzbuch VIII (SGB VIII) im Jahr 2005 einen besseren Schutz von jungen Menschen vor Kindeswohlgefährdungen zu erreichen. Spektakuläre Fälle von Kindstötungen, Misshandlungen und Vernachlässigungen hatten die Öffentlichkeit, Fachwelt und Politik aufgewühlt. Zwar war auch bislang bereits der Schutz von Kindern und Jugendlichen in diesem Gesetz berücksichtigt (§ 1 Abs. 3. Nr. 3: Jugendhilfe soll „Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen“), durch den neuen § 8a SGB VIII wurde diesem Schutzauftrag eine klare gesetzliche Grundlage gegeben (Frankfurter Kommentar 2019, S. 120 ff.).
„Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte abzuschätzen. Dabei sind die Personensorgeberechtigten sowie das Kind oder der Jugendliche einzubeziehen, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht infrage gestellt wird. Hält das Jugendamt zur Abwendung der Gefährdung die Gewährung von Hilfen für geeignet und notwendig, so hat es diese den Personensorgeberechtigten oder den Erziehungsberechtigten anzubieten.“
Ebenso verpflichtend ist dieser Schutzauftrag für die Fachkräfte von Trägern und Diensten, welche Jugendhilfeleistungen anbieten. Sie sollen bei der Gefährdungseinschätzung eine erfahrene Fachkraft hinzuziehen, bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken und das Jugendamt dann informieren, wenn dies nicht ausreichend gelingt. Erforderlichenfalls wird das Jugendamt sich wegen eines Sorgerechtsentzugs an das Familiengericht wenden. Bei dringender Gefahr und wenn eine Entscheidung des Familiengerichts nicht abgewartet werden kann, ist das Jugendamt verpflichtet, nach § 42 SGB VIII das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen.
„Eine der größten Herausforderungen in der Kinderschutzarbeit besteht darin, den Grenzpunkt zu lokalisieren, an dem die Nicht-Gewährleistung des Kindeswohls in eine Gefährdung des Kindeswohls übergeht und das staatliche Wächteramt aktiviert wird, da die freiwillige Hilfestellung zur Überwindung einer belastenden Situation nicht (mehr) zu greifen scheint. Der Gesetzgeber sieht keinerlei Verpflichtung zur Inanspruchnahme von Hilfen vor, wenn eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist (…), sondern erst dann wenn die Schwelle zur Gefährdung überschritten wurde“ (Klees/Wiesner 2014, S. 87).
2012 wurde zur weiteren Stärkung des Kindeswohls außerdem das Bundeskinderschutzgesetz eingeführt. Es enthält sowohl Ausführungen zu Maßnahmen der Intervention auf der Grundlage des Kinder- und Jugendhilfegesetzes bei Kindeswohlgefährdung, es stärkt aber auch die Prävention. Hier sind unter anderem Maßnahmen der Frühen Hilfen aufgeführt, wie Hausbesuche bei Familien, aber auch die stärkere Vernetzung verschiedener Fachkräfte sowie das Vorgehen z. B. von Ärzt*innen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2019).
Erziehungshilfen im KJHG
Das KJHG bzw. SGB VIII regelt unter anderem differenziert die Hilfe zur Erziehung und verzichtet auf negativ besetzte und pädagogisch fragwürdige Begrifflichkeiten des alten Jugendwohlfahrtsgesetzes wie beispielsweise „Fürsorgeerziehung“ oder „Verwahrlosung“. Die Angebote der erzieherischen Hilfen sind als Leistungsangebote zu verstehen, auf welche bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen ein rechtlicher Anspruch besteht. Im Gegensatz zu Teilaspekten des alten JWG geht der Gesetzgeber nun nicht mehr von „Erziehungseingriffen“ aus, sondern betont durchgängig den freiwilligen Charakter der Hilfeangebote sowie die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit den Familien.
Unter der Überschrift „Hilfe zur Erziehung“ lautet § 27 Abs.1 des KJHG:
„Ein Personensorgeberechtigter hat bei der Erziehung eines Kindes oder Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist.“
Art und Umfang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall, das engere soziale Umfeld des Kindes oder Jugendlichen ist dabei einzubeziehen. Somit ist wiederum der Bezug der Lebensweltorientierung vorhanden. Bei der Hilfe zur Erziehung wird insbesondere von der Gewährung pädagogischer und damit verbundener therapeutischer Leistungen ausgegangen.
Nachfolgend werden im Gesetz die Leistungsangebote der Hilfe zur Erziehung angeführt:
§ 28 Erziehungsberatung,
§ 29 Soziale Gruppenarbeit,
§ 30 Erziehungsbeistandschaft, Betreuungshelfer,
§ 31 Sozialpädagogische Familienhilfe,
§ 32 Erziehung in einer Tagesgruppe,
§ 33 Vollzeitpflege,
§ 34 Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform,
§ 35 Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung.
Satz 2 des § 27 sagt aus, dass Hilfe zur Erziehung insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 gewährt wird. Durch das Wort „insbesondere“ kommt zum Ausdruck, dass das im Gesetz aufgeführte Leistungsspektrum unterschiedlicher Erziehungshilfen keinen ausschließlichen Charakter haben kann. Es wird hier auch Raum gelassen für neue, noch zu entwickelnde Hilfeformen, und auch die sogenannten „Außenseitermethoden“ werden nicht von vornherein kategorisch ausgeklammert (Fegert 1996, S. 74 f.). Inzwischen werden Hilfen, die nicht unter eine der in den §§ 28 bis 35 aufgeführten Kategorien passen, auch als „Flexible Hilfe zur Erziehung nach § 27 KJHG“ geführt (s. z. B. Statistisches Bundesamt 2019). Diese wurden erstmals explizit von Klatetzki (1995) beschrieben und ermöglichen einen besseren Einsatz individueller, maßgeschneiderter Unterstützungen.
Bei den §§ 28 bis 31 handelt es sich um ambulante Erziehungshilfen; die Erziehung in einer Tagesgruppe (§ 32) versteht sich als teilstationäres Angebot; Vollzeitpflege und Heimerziehung (§§ 33 und 34) sind stationäre Erziehungshilfen; dagegen kann die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§ 35) sowohl in ambulanter als auch in stationärer Form erfolgen.
Aufgrund der Betonung des Familienbezugs im KJHG sind ambulante Erziehungshilfen den stationären dann vorzuziehen, wenn die familiären Beziehungsstrukturen und Bindungen noch einigermaßen vorhanden sind und zu erwarten ist, dass durch ambulante Hilfen die Verhältnisse wieder stabilisiert werden können (Informationen zu Erziehungshilfen: s. z. B. Günder 2006, Macsenaere, Esser, Knab & Hiller 2014).
Heimerziehung im Kinder- und Jugendhilfegesetz
In § 34 KJHG wird die Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht geregelt. Der Gesetzgeber spricht von Heimerziehung und sonstigen betreuten Wohnformen und trägt damit dem Tatbestand Rechnung, dass Heimerziehung heute in sehr differenzierten Institutionen stattfindet.
„Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung) oder in einer sonstigen betreuten Wohnform soll Kinder und Jugendliche durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung fördern. Sie soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie






