Logos Gottes und Logos des Menschen

- -
- 100%
- +
Ausgehend von diesem Gedanken ist es logisch, dass auch die Zukunft des Menschen von seiner Geschichte beeinflusst wird: „Die Zukunftsfähigkeit des Menschen hängt davon ab, welche Wurzeln er hat, wie er Vergangenheit in sich aufzunehmen und von da aus Maßstäbe des Handelns und des Urteilens zu bilden vermag.“148 Hier zeigt sich deutlich die Bedeutung der Geschichte des Menschen, die Bedeutung seiner jeweiligen Kultur, für sein moralisches Denken und Handeln, welches ja ein auf die Zukunft gerichtetes Denken ist. Die moralische Vernunft des Menschen kann für Ratzinger folglich keine geschichtslose Vernunft sein; sie kann sich nicht an der jeweiligen Geschichte und kulturellen Tradition vorbei, nicht unabhängig von ihr entwickeln. Dieser Zusammenhang wird im Folgenden näher erläutert.
2.3.2. Das moralische Wissen der Traditionen
Ausgehend von den vorhergehenden Einsichten in die geschichtliche Verfasstheit des Menschen kann nun gesagt werden, dass menschliche ‚Tradition‘ sich für Ratzinger aus dem Zusammenspiel von Gedächtnis und Sprache in einem gemeinschaftlichen Traditionssubjekt aufbaut. Denn wie gesehen, wirkt Gedächtnis seiner Ansicht nach „sinngebend, indem es Einheit stiftet, das Vergangene in Gegenwart vermittelt und zugleich Ausgriff auf Zukunft vollzieht.“149 Ebenso verhält es sich mit der Sprache: „Sie erfüllt ihre einheitsstiftende Funktion wesentlich als vorgegebene, als empfangene; Bedingung ihrer Wirksamkeit ist ihre Unbeliebigkeit, ihr Traditionscharakter.“150 Gleichzeitig aber ist sie offen für zukünftige Weiterentwicklung und Weiterbildung der Tradition.151 Als drittes Element neben Gedächtnis und Sprache braucht Tradition ein Traditionssubjekt, das sie im Normalfall in der jeweiligen Sprachgemeinschaft findet.152 „Sie ist nur möglich, weil viele Subjekte im Zusammenhalt gemeinsamer Überlieferung so etwas wie ein Subjekt werden.“153 Wir sind als Menschen von unserer Herkunft her in die Geschichte eines bestimmten Traditionssubjekts eingegliedert, „sodass wir unausweichlich an Segen und Fluch dieser bestimmten Geschichte beteiligt sind.“154
Wie schon angedeutet, kann die moralische Vernunft des Menschen nach Ansicht Ratzingers nun nicht unabhängig von seiner geschichtlichen Tradition gedacht werden. Dieser Gedanke ist auch von daher logisch, dass Ratzinger das moralische Vernunftvermögen des Menschen als ein ‚Organ‘ bezeichnet hat155, dessen Ausbildung und Wachstum innerhalb von Geschichte und Gemeinschaft des Menschen erfolgen muss. „Denn auch die praktische Vernunft braucht das Bürgnis des Experiments, aber eines größeren, als es in Laboratorien geleistet werden kann: Sie braucht das Experiment des bestandenen Menschseins, das nur aus der bestandenen Geschichte selbst kommen kann.“156 Menschliches Denken und „die Bewährung des Lebens sind in einer Wechselbeziehung ineinander verschränkt, in der auf keine der beiden Seiten zu verzichten ist.“157
Aufgrund dieser ihrer Bezogenheit auf geschichtliche Erfahrung ist die moralische Vernunft des Menschen auf geschichtliche Räume verwiesen, in denen sie sich bewähren kann. Sie ist nach Ratzinger „immer eingeordnet in den großen Erfahrungs- und Bewährungszusammenhang ethisch-religiöser Gesamtvisionen.“158 Moralische Werte sind für Ratzinger folglich aufs Engste mit der Kultur verknüpft, in die der einzelne Mensch hineingeboren wird. Kultur ist für ihn in dieser Hinsicht „die geschichtlich gewachsene Ausdrucksgestalt der das Leben einer Gemeinschaft prägenden Erkenntnisse und Wertungen.“159 Moralische Werte existieren nicht einfach nackt und abstrakt, sondern immer in Abhängigkeit von geschichtlicher Tradition, in geschichtlichen Bewährungszusammenhängen: „Geschichtlich betrachtet, ist Moral gerade nicht der Bereich der Subjektivität, sondern von der Gemeinschaft verbürgt und auf die Gemeinschaft bezogen.“160 Sie ist kein „abstrakter Kodex von Verhaltensnormen, sondern sie setzt einen gemeinschaftlichen way of life voraus, in dem sie ihre Evidenz und ihre Vollziehbarkeit empfängt.“161 So ist moralische Vernunft auf ein ‚Wir‘ mit all seinen geschichtlichen Erfahrungen angewiesen, „in denen nicht nur Berechnung des Augenblicks spricht, sondern Weisheit der Generationen zusammenströmt.“162 Moralische Vernunft hat ihren Ort in den geschichtlichen Kulturtraditionen der Menschheit.
Laut Ratzinger wusste schon Platon um diese Verbindung von moralischer Vernunft und Geschichte, denn sein Denken zielt Ratzinger zufolge nicht etwa auf eine „Philosophie der reinen Vernunft“163, sondern darauf, die Vernunft dahin zu führen, „sich von jenen Grundüberlieferungen her neu zu finden, die wahre Gemeinschaft ermöglichen.“164 Auf dem Boden dieser überlieferten Weisheit war Platons Denken für Ratzinger nicht etwa auf abstrakte Spekulation, sondern vielmehr auf „die Wiederermöglichung der Polis, die Neugründung der Politik“165 ausgerichtet. Platon wollte also die in der Gemeinschaft bewährten und tradierten Werte wieder für das geordnete Leben in der Gemeinschaft fruchtbar machen. Diese geschichtliche und traditionsorientierte Ausrichtung des Platonischen wird dort Ratzinger zufolge völlig verkannt, wo Platon „als individualistischer und dualistischer Denker eingestuft wird, der das Irdische verneint und die Menschen zur Flucht ins Jenseits anleitet.“166 Im Gegensatz zum Deutschen Idealismus wird der platonischen Philosophie von Ratzinger also eine angemessene Geschichtsbezogenheit bescheinigt.
Ratzinger ist nun allerdings weit davon entfernt, moralische Vernunft in Geschichte aufzulösen bzw. ihre Erkenntnis ganz auf den inneren Raum der geschichtlichen Wirklichkeit zu beschränken. Geschichtliche Tradition ist zwar der Ort, an dem sich moralische Vernunft in menschlicher Gemeinschaft bewährt und sich das Organ des menschlichen moralischen Vernunftvermögens auf diese Weise ausbildet; die moralische Wahrheit, auf die die Vernunft des Menschen dabei Bezug nimmt und die in den menschlichen Kulturen tradiert wird, ist aber keine geschichtlich erfundene, sondern eine geschichtlich gefundene Wahrheit: Die tradierte Wahrheit transzendiert die Geschichte selbst.167 Es handelt sich dabei um die übergeschichtliche moralische Wahrheit des Logos Gottes, die der Mensch in seinem Gewissen und mittels der moralischen Weisung der Natur erfassen kann.168
Genau diese moralische Wahrheit ist es, auf die sich der Mensch in seiner geschichtlich verfassten moralischen Vernunft beziehen kann und die sich dann in geschichtlichen Zusammenhängen bewähren muss. Laut Ratzinger ist uns das Wissen um diese moralische Wahrheit heute in den großen Traditionen der Menschheit erhalten geblieben. Denn „nahezu der ganzen vormodernen Menschheit“ war seiner Ansicht nach die Überzeugung gemeinsam, „dass im Sein des Menschen ein Sollen liegt; die Überzeugung, dass er Moral nicht selbst aus Zweckmäßigkeitsberechnungen erfindet, sondern im Wesen der Dinge vorfindet.“169 Zwar gibt es bezüglich dieses Wissens der Kulturen Unterschiede im Detail, „aber viel stärker als die Unterschiede ist das große Gemeinsame, das sich als Urevidenz menschlichen Lebens darstellt: die Lehre von objektiven Werten, die sich im Sein der Welt aussagen; der Glaube, dass es Haltungen gibt, die der Botschaft des Alls entsprechend wahr und darum gut sind und dass ebenso andere Haltungen, weil dem Sein widersprechend, wirklich und immer falsch sind.“170
Ratzinger richtet sich damit gegen die Auffassung eines Kulturrelativismus, der die moralischen Aussagen unterschiedlicher Kulturen als miteinander unvereinbar versteht. Dem neuzeitlichen Menschen wird seiner Ansicht nach eingeredet, „dass all dies menschliche Erfindungen seien, deren Ungereimtheiten wir nun endlich durchschauen und durch vernünftige Erkenntnis ersetzen könnten.“171 Eine solche Diagnose aber ist für Ratzinger extrem oberflächlich.172 Tatsächlich ist es seiner Ansicht nach so, „dass die Grundintuition über den moralischen Charakter des Seins selbst und über den notwendigen Zusammenklang des menschlichen Wesens mit der Botschaft der Natur allen großen Kulturen gemeinsam ist und dass daher auch die großen moralischen Imperative gemeinsam sind.“173 In den großen kulturellen Traditionen der Menschheit werden Ratzinger zufolge also nicht etwa ausschließlich zufällig geschichtlich entstandene Wertvorstellungen überliefert, sondern ein immer gleiches Wissen, das das rein Innergeschichtliche übersteigt, weil es sich auf die übergeschichtliche Wahrheit der moralischen Vernunft der Wirklichkeit bezieht, ermöglicht durch die „Transparenz der Schöpfung, die ihre Weisungen durchscheinen lässt.“174
2.3.3. Die speziellen Traditionen
Diese moralische Vernunft des Seins, deren Wissen die vormodernen menschlichen Kulturen nach Auffassung Ratzingers teilen, wird in diesen Kulturen mit verschiedenen Namen bezeichnet. Die chinesische Tradition spricht dabei vom ‚Tao‘, das „kosmisches wie sittliches Gesetz [ist; H. N.]. Es verbürgt die Harmonie von Himmel und Erde und so auch die Harmonie des politischen gesellschaftlichen Lebens.“175 Vergleichbar damit ist der indische Begriff des ‚Dharma‘, „das ebenso kosmische wie ethische und soziale Ordnung bedeutet, der der Mensch sich einfügen muss, damit das Leben recht werde.“176 Ratzinger nennt auch „das moralische Erbe der Griechen, wie es besonders von Platon, Aristoteles und der Stoa artikuliert wurde, die den Menschen zum Vernehmen der Vernunft des Seins hinführen wollen“177. Für das Christentum ist die moralische Vernunft der Natur unmittelbar mit dem Schöpfungsgedanken verknüpft. Es ist der Logos des Schöpfers, welcher der Wirklichkeit ihre Struktur gibt und auf den der Mensch mittels seines moralischen Vernunftvermögens Bezug nehmen kann.178
In der jüdischen Tradition manifestiert sich die moralische Vernunft laut Ratzinger in herausragender Weise in den Zehn Geboten, „in denen Israel und die Christenheit mit den Ältesten und reinsten Traditionen der ganzen Menschheit kommunizieren.“179 Der Dekalog ist seiner Auffassung nach also nicht etwa ein „Sonderbesitz der Christen oder der Juden. Er ist ein höchster Ausdruck moralischer Vernunft, der sich als solcher weithin auch mit der Weisheit der anderen großen Kulturen trifft.“180 In ihm ist gleichzeitig auch „der wesentliche Kern dessen grundgelegt, was die Neuzeit unter dem Begriff der Menschenrechte formuliert hat“181. Auch diese sind für Ratzinger also keineswegs gegen, sondern ganz im Gegenteil im Anschluss an das moralische Wissen der Traditionen formuliert worden. Sie sind nicht verständlich ohne das durch die Traditionen vermittelte Wissen der moralischen Wahrheit des Seins, ohne die Voraussetzung, „dass der Mensch als Mensch, einfach durch seine Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, Subjekt von Rechten ist, dass sein Sein selbst Werte und Normen in sich trägt, die zu finden, aber nicht zu erfinden sind.“182
2.3.4. Geschichtliche Verdunkelung der moralischen Vernunft
Auch wenn moralische Vernunft nach Ansicht Ratzingers nicht unabhängig von Geschichte und Tradition bestimmt werden kann, so sind diese für ihn nun aber nicht automatisch Träger moralischer Vernunft. Sie können im Gegenteil moralische Vernunft auch verdecken und entstellen. Denn „Tradition, deren Wesen es ist, Humanität zu begründen, ist allenthalben auch mit dem vermischt, was den Menschen entmenschlicht.“183 Die Geschichte und mit ihr die Tradition, auf die der Mensch, wie gesehen, in seinem Menschsein notwendig angewiesen ist und ohne deren Zusammenhang er nicht gedacht werden kann, birgt immer auch die Gefahr, ihn von der moralischen Wahrheit des Seins zu entfremden. Ratzinger bezeichnet dies als die „eigentliche Tragödie des Menschen. Man muss Tradition festhalten, um überhaupt den Menschen festzuhalten, aber man hält unweigerlich mit ihr immer auch die Kraft der Entfremdung fest.“184 Denn es kann seiner Ansicht nach „zwar auf Dauer keine Gesellschaft geben, die sozusagen nur vom Negativen, vom Bösen lebt. Eine Gemeinschaft, die überleben will, muss bis zu einem gewissen Grad immer wieder auf die Urtugenden, auf die grundlegenden Maßformen des Menschseins zurückkommen.“185 Dennoch können trotz dieser grundlegenden Ausrichtung an moralischen Grundwerten „wichtige Lebenszonen einer Gesellschaft verderbt sein, sodass geltende Sitte den Menschen nicht führt, sondern verführt.“186
Folglich kann der Mensch sich nur in begrenztem Maße auf die ihm überlieferte geschichtliche Erfahrung verlassen, was ihre moralische Vernünftigkeit angeht. Denn gerade ihr geschichtlicher Charakter impliziert die Fehlbarkeit menschlicher Vernunft: Sie ist eben nicht „absolut wie die Vernunft Gottes“, sondern gehört „einem Wesen, das in geschichtlichen Entfremdungen steht, die das Sehvermögen der Vernunft beeinträchtigen.“187 Es ist also nicht die moralische Vernunft des Schöpfers, die fehlgeht, sondern das Vernunftvermögen des Menschen, das aufgrund seiner geschichtlichen Verfasstheit Schwierigkeiten hat, der Vernunft des Schöpfers nachzudenken: Es ist „seine Geschichte, die ihn von der Schöpfung trennt“188 und aufgrund der er die „Stimme des Logos nur gebrochen … vernehmen“189 kann. Denn die Geschichtlichkeit ist es ja, die dem Menschen einen Freiheitsraum ermöglicht, in dem er sich der Vernunft des Seins ebenso öffnen wie auch verschließen kann.
In diesem durch seine Geschichtlichkeit ermöglichten Sich-Verschließen des Menschen gegenüber der moralischen Vernunft der Natur erzeugt der Mensch nach Meinung Ratzingers eine gegen die Schöpfungsbotschaft gerichtete Gegenbewegung, „die durch die Sünde in der Welt ist“190 und „in der er sich gewissermaßen gegen Gott seine eigene Welt zu bauen versucht.“191 Der Ursprung dieser geschichtlichen Gegenbewegung des Menschen gegen den Willen Gottes liegt für Ratzinger also in der Sünde. Sie ist es, die den Menschen dazu bringt, sich Gott gegenüber zu verschließen, seine schöpferische Vernunft in der Wirklichkeit zu ignorieren und sich stattdessen ganz auf sich selbst zu konzentrieren. Man könnte mit Ratzinger „geradezu sagen, der tiefste Gehalt der Sünde sei es, dass der Mensch sein Geschöpf-Sein leugnen will, weil er die Tatsache, dass er ein Maß hat und eine Grenze hat, nicht annehmen will. Er will nicht Geschöpf sein, denn er will nicht gemessen sein, will nicht abhängig sein.“192
Sünde bedeutet demnach für Ratzinger, dass der Mensch sich der Einsicht in seine eigene Geschöpflichkeit und seine Abhängigkeit vom Schöpfungslogos verschließt und die moralische Vernunft des Schöpfers nicht anerkennt. Damit emanzipiert er sich von der Idee eines objektiven Maßstabs in der Wirklichkeit, von der Idee einer objektiven Wahrheit des Seins. „Sünde ist, so wird nun deutlich, ihrem Wesen nach Absage an die Wahrheit. Der Mensch, der die Grenze nicht will, will nicht sein, der er ist, er bestreitet die Wahrheit.“193 Der Mensch lässt nur noch seinen Eigenwillen gelten und ignoriert den Willen Gottes, den er mittels seiner moralischen Vernunftfähigkeit, seines Gewissens, in der Wirklichkeit vorfindet.
Theologisch führt Ratzinger diese Verschließung des Menschen vor dem Willen des Schöpfers auf die Ursünde zurück, die dem Menschen durch die Menschheitsgeschichte hindurch überliefert wird.194 Die moralische Vernunftfähigkeit des Menschen ist durch ihre Bindung an die Geschichte von der menschlichen Ursünde, von seiner geschichtlich ermöglichten Verschließung vor Gott, beeinträchtigt; sein Gewissen ist durch die Erbsünde abgestumpft.195 Dies ist der Grund, warum in den Traditionen der Menschheit nicht nur Einsichten in die moralische Wahrheit der Schöpfung, sondern auch die Sünde, also die Abkehr von ebendieser Wahrheit, überliefert wird. Diese Abkehr kann so weit gehen, dass die Schöpfung selbst „in die Seinslüge des Menschen hineinverstrickt“196 wird. Wie bereits im Zusammenhang der technischen Vernunft thematisiert, kann der Mensch so viel Einfluss auf die Natur nehmen, dass sie nicht mehr den Willen des Schöpfers ausdrückt, sondern nur noch den Eigenwillen des Menschen. „So nimmt sie am Sturz des Menschen teil“197 und ist in die Überlieferung der Sünde mit eingebunden.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass nach Auffassung Ratzingers Traditionskritik notwendig ist, weil „keine Tradition unversehrte Gründung des Humanen ist, sondern jede auch infiziert ist von den Kräften des Antihumanen, die den Menschen an der Selbstwerdung hindern.“198 Dies heißt aber nicht, dass der Mensch sich ganz von jeglicher Tradition und Kultur frei machen sollte, selbst wenn er es könnte. Denn die „Traditionskritik findet ihre Grenze darin, dass der Mensch an die Wahrheit seines Wesens, an die geschaffene Schöpfung gebunden bleibt und sich nur finden kann, wenn er diese Wahrheit findet. Und das bedeutet, dass die Vernunft des Machens rückgebunden bleibt an die Vernunft des Vernehmens, die Tradition der Humanität.“199 Trotz aller Sündhaftigkeit des Menschen bleiben seine kulturellen und religiösen Traditionen laut Ratzinger immer auch Erkenntnisquellen der moralischen Vernunft des Schöpfers. „An ihnen vorbei zu denken und vorbei zu leben, wäre ein Hochmut, der den Menschen zuletzt ratlos und leer hinterlässt.“200 Wie das Gewissen das Gedächtnis der moralischen Vernunft des Schöpfers für den Einzelnen ist, so bilden die Traditionen nach Ratzinger das Gedächtnis der moralischen Vernunft für die Menschheit, von dem diese sich nicht abschneiden darf.
2.4 Moralische Vernunft und Schöpfungsglaube
Es wurde deutlich, dass Moral für Ratzinger zwar eine Vernunfteinsicht darstellt, diese Vernunfteinsicht aber im Unterschied zu seiner theoretischen Vernunftfähigkeit einer gewissen Öffnung des Menschen für die Vernunft des Schöpfers bedarf. Weil sie „Vernunft im höchsten Sinn“201 ist, die „tiefer in das eigentliche Geheimnis des Wirklichen vordringt als die experimentelle Vernunft“202, hat sie die Anerkennung der objektiven Vernunftstruktur der Wirklichkeit zur Voraussetzung. „Ob man aber dem Sein Vernunft zusprechen und seinen moralischen Zuspruch dechiffrieren kann, hängt mit dem Entscheid in der Gottesfrage untrennbar zusammen. Denn wenn es den Logos des Anfangs nicht gibt, dann kann es auch den Logos in den Dingen nicht geben.“203
So tritt hier die innere Verschränkung der Annahme eines metaphysischen Vernunftprinzips mit dem Glauben an den Schöpfer bei Ratzinger deutlich hervor: Die Anerkennung des Primats des Logos in der Wirklichkeit ist für ihn gleichbedeutend mit dem Glauben an Gott als Schöpfer. Moralische Vernunft ist deshalb für Ratzinger eine „am Schöpfungsglauben orientierte Vernunft“204: Die von ihm geforderte ‚Öffnung‘ des Menschen entpuppt sich als implizite Anerkennung des Schöpfungsgedankens.205 Denn wenn der Mensch in seinem moralischen Handeln auf Werte zurückgreift, die er in der Wirklichkeit vorfindet, muss er implizit eine schöpferische Vernunft in der Wirklichkeit voraussetzen, auf welche die Existenz dieser Werte zurückzuführen ist. Das ‚Bild Gottes‘ kann man im anderen Menschen laut Ratzinger nur „mit dem neuen Sehen des Glaubens“206 erblicken.
Moralisches Vernunftvermögen des Menschen und Schöpfungsglaube richten sich nach Ansicht Ratzingers also auf ein und dieselbe übergeschichtliche Wahrheit. Finde ich mittels meiner moralischen Vernunft im Gewissen und in der Natur immer gültige Werte und moralische Wahrheit, kann mir das helfen, den Schöpfungsglauben anzunehmen und einen personalen Schöpfer als Ursprung dieser kosmischen Wahrheit anzuerkennen. „Denn die Natur ist nicht, wie ein totaler Szientismus behauptet, eine vom Zufall und seinen Spielregeln aufgebaute Montage, sondern sie ist Schöpfung. In ihr drückt sich der Creator Spiritus aus.“207 Glaube ich umgekehrt an Gott als Schöpfer, sagt dieser Glaube auch meiner moralischen Vernunft etwas. „Der christliche Glaube, der uns hilft, die Schöpfung als Schöpfung zu erkennen, ist nicht eine Lähmung der Vernunft; er gibt der praktischen Vernunft den Lebensraum, in dem sie sich entfalten kann.“208
Daher ist für Ratzinger auch die Morallehre der Kirche, die auf dem Schöpfungsgedanken fußt, nicht etwa eine „Speziallast für Christen, sondern die Verteidigung des Menschen gegen den Versuch seiner Abschaffung.“209 Sie weist den Menschen auf eine Wahrheit hin, die er auch mittels seiner Vernunft einzusehen vermag. Leugnet der Mensch diese Wahrheit, so hat das nach Ansicht Ratzingers schwerwiegende Konsequenzen für sein Selbstverständnis. Denn dann beschränkt der Mensch seine Vernunft allein „auf die Wahrnehmung des Quantitativen“210, sodass er sich selbst und die Welt nur noch nach Maßstäben der naturwissenschaftlichen Vernunft begreifen kann. Ein Verweischarakter der Dinge auf eine an ihnen erkennbare kosmische Vernunft kommt nicht mehr in den Blick.
Dies führt z.B. dazu, dass der Leib des Menschen „zum bloßen Körper, zur bloßen Sache wird: Sein Ausschluss aus dem Bereich des Sittlichen, der geistigen Verantwortung ist zugleich sein Ausschluss aus dem Menschlichen des Menschen, aus der Würde des Geistes.“211 Leiblichkeit und Geistigkeit des Menschen bilden keine Einheit mehr; der Leib wird nur noch funktional betrachtet, ihm selbst kommt keine geistige Würde mehr zu: „Um ihn richtig, ungehemmt, in Besitz nehmen zu können, wird er aus der Sphäre sittlicher Verantwortung ausgeschieden, zur reinen Sache gemacht, die man abseits der eigentlich menschlichen Verpflichtungen und Beziehungen benützen kann.“212 Dieser ‚neue Dualismus‘ führt nach Ratzinger z.B. zur Verwischung und Unterdrückung des Geschlechtsunterschieds213 und zur körperlichen Vereinseitigung der Liebe und Sexualität: Der „zum ‚Sex‘ degradierte Eros wird zur Ware, zur bloßen ‚Sache‘; man kann ihn kaufen und verkaufen, ja, der Mensch wird dabei selbst zur Ware.“214 Eine solche Weltsicht einer reinen naturwissenschaftlichen Kausalität hat keinen Platz für Personalität, Freiheit und Liebe.215 Die Natur – und mit ihr der Mensch – wird auf die reine biologische Ordnung reduziert, während die ihr vom Schöpfungslogos eingeschriebene moralische Ordnung nicht mehr in den Blick kommt.
Im Hören auf den Schöpfungsglauben hingegen kann die moralische Vernunft nach Ansicht Ratzingers ihren Bezug zum Logos des Schöpfers wiedergewinnen und sich so über ein rein materiales Verständnis von Wirklichkeit hinausführen lassen. Denn nach christlichem Schöpfungsverständnis kommt die Welt aus dem Logos Gottes und trägt Vernunft in sich, „und zwar nicht nur eine mathematische Vernunft – niemand kann leugnen, dass die Welt mathematisch strukturiert ist –, also eine ganz neutrale, sachhafte Vernunft, sondern als Logos auch eine moralische Vernunft.“216 Der Glaube kann deshalb der moralischen Vernunft des Menschen „Nachhilfeunterricht“217 erteilen, indem er auf diese der Schöpfung eingeschriebene moralische Vernunft aufmerksam macht und sie auf diese Weise dazu bringt, sich dieser Vernunft zu öffnen. „Die unserem Sein eingesenkte Anamnese braucht sozusagen die Nachhilfe von außen, damit sie ihrer selbst innewird. Aber dies Äußere ist doch nicht etwas ihr Entgegengesetztes, sondern ihr zugeordnet: Es hat mäeutische Funktion, legt ihr nicht Fremdes auf, sondern bringt ihr Eigenes, ihre eigene innere Eröffnetheit für die Wahrheit zum Vollzug.“218 So ist der Glaube an den Schöpfergott „zugleich Glaube an den Gott des Gewissens“219, der dem verschütteten Gewissen des Menschen wieder eine Stimme zu geben vermag.220
Indem sein Erkenntnisvermögen über die rein naturwissenschaftlichen Gewissheiten hinausgeführt wird, kann der Mensch auch sich selbst als ein das rein Empirische transzendierendes Wesen verstehen. Den „Schöpfungsgedanken fassen, bedeutet zugleich, die Grenze des Subjekt-Objekt-Schemas herausstellen, die Grenze des ‚exakten‘ Denkens, und aufdecken, dass erst in dieser Entgrenzung das Humanum, das Eigentliche des Menschen und der Wirklichkeit, vor den Blick kommt“221. Der Mensch kann dann auch „die Leibhaftigkeit seiner Existenz als Reichtum für den Geist“222 erkennen und seinen Leib wieder in der Einheit mit seinem Geist und als Ausdruck dieses Geistes begreifen, sodass der Leib seine geistige Würde wiedererlangt.223 Auf diese Weise geschieht nach Ratzinger „‚Humanisierung‘ des Menschen und der Welt, die eben darin besteht, dass die Materie zu ihren geistigen Möglichkeiten geführt und dass der Geist in der Fülle der Schöpfung ausgedrückt wird.“224
Schöpfungsglaube ist für Ratzinger außerdem untrennbar mit dem Unsterblichkeitsglauben des Menschen verbunden. Die Leugnung der Ewigkeit ist für ihn gleichbedeutend mit der Aussage, dass „Geist nicht das Vorgängig-Schöpferische, sondern das Nachträglich-Zufällige ist“225. Ein der Endlichkeit ausgelieferter Geist nämlich erscheint als sinnlose Laune der Natur, sodass ihm nur noch der Egoismus als Leitlinie seines Handelns übrig bleibt.226 Ein Mensch ohne Hoffnung auf ewiges Leben wird daher laut Ratzinger „versuchen, so viel aus diesem Leben herauszuholen, wie es eben möglich ist. Dann wird er alle anderen als Feinde seines Glücks betrachten, die ihm etwas wegzunehmen drohen; Neid und Gier übernehmen die Herrschaft im Leben und vergiften die Welt.“227