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»Ich teile deine Meinung, dass wir es hier mit einem politisch motivierten Mord zu tun haben«, sagte er, griff zum Telefon und bat Kriminaloberrat Gärtner zu sich.
Der brachte Neuigkeiten mit, als er kurz darauf in das Büro des Abteilungsleiters trat.
»Es gibt ein Bekenntnis im Internet«, berichtete Gärtner. »Ein ›Kommando von Schlieffen‹ bekennt sich zum Mord an einem ›Knecht der Deutschland GmbH‹.«
»›Kommando von Schlieffen‹?«, wiederholte Lüder und zuckte mit den Schultern. »Davon habe ich noch nichts gehört.«
»Ich auch nicht«, bekannte Gärtner. »Diese Organisation, wenn es eine ist, ist uns bisher unbekannt.«
»Wer war von Schlieffen?«, überlegte Lüder laut. »Wenn ich mich richtig erinnere, war er ein preußischer General, der noch dem Kaiser gedient hat.«
»Das erklärt den Zusammenhang mit der Reichskriegsflagge«, sagte Dr. Starke.
Lüder hatte sein Mobilfon hervorgeholt und suchte nach Informationen.
»Ah«, sagte er. »Hier haben wir es. Alfred Graf von Schlieffen. Der hat sich schon vor dem Ersten Weltkrieg in die ewigen Jagdgründe verabschiedet.«
»Auf dem Feld der Ehre?«, wollte Jens Starke wissen.
Lüder schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist altes pommersches Adelsgeschlecht. Schon der Vater war ein hoher Militär, vor 1800 geboren. Damals drehte sich die Welt um die Preußen. Schlieffen wurde achtzig Jahre alt. Das war damals biblisch. Er war übrigens nicht nur General, sondern Generalfeldmarschall.« Er klopfte sich an die Brust. »Ich armer Tropf bin nur ein einfacher Kriminalrat.«
»Na ja«, meinte Gärtner. »Das entspricht dem Rang eines Majors.«
»Solche Vergleiche wollen wir aber nicht anstellen. Wir sind zwar der Polizeiliche Staatsschutz, aber bei uns gibt es keine Hauptleute oder Majore wie bei der Stasi«, sagte Dr. Starke.
»Schlieffen war Generalsstabschef. Außerdem hat er den Schlieffen-Plan verfasst«, las Lüder weiter vor. »Der beinhaltete Strategien, wie man Frankreich in einem Blitzkrieg besiegt, indem man völkerrechtswidrig in die neutralen Länder Belgien und Luxemburg einfällt und Richtung Paris vorstößt. Gleichzeitig sollte nur eine Armee Ostpreußen gegen die Russen verteidigen. Die wollte man sich vornehmen, nachdem die Franzosen vernichtend geschlagen waren. Na ja. So genial war die Strategie offenbar doch nicht. Sie mündete in den blutigen Stellungs- und Grabenkrieg an der Marne. Das war aber, nachdem Schlieffen in Berlin gestorben war. Sonst hätte ihm Willi –«
»Wer?«, unterbrach ihn Gärtner.
»Wilhelm II.«, erklärte Lüder. »Der hat ihm bei der Beerdigung einen Kranz hinterhergeworfen.«
»Ich sehe nur einen Zusammenhang mit der Reichskriegsflagge«, warf Dr. Starke ein. »Was macht die Person von Schlieffen so interessant? Er war ein hoher Militär. Gut. Aber nach ihm ein Mordkommando zu benennen?«
»Wir können dankbar sein für die lange Zeit des Friedens in unserem Teil der Welt«, sagte Lüder. »Eine so lange Friedensphase hat es nie zuvor gegeben. Von Schlieffen war Berufsmilitär. Entsprechend war sein Werdegang durch Teilnahme an mehreren Kriegen bestimmt. Was man ihm aus heutiger Sicht ankreiden kann, war, dass er dank seines Zugangs zum Kaiser Befürworter des Völkermords an den Herero und Nama in Deutsch-Südwest, dem heutigen Namibia, war.«
»In dieser Sache hat sich die Bundesrepublik erst in jüngster Zeit bewegt«, merkte Dr. Starke an. »Ich sehe aber immer noch keinen Zusammenhang. Wir sind hier auch nicht das richtige Forum, um historische Geschehnisse zu bewerten.«
»Auf den ersten Blick fällt es schwer, Schlieffens Wirken im Kontext des aktuellen Mordes an Julian Wiesner zu sehen, wenn da nicht der überlieferte Kommentar Schlieffens zum Völkermord unter Infanteriegeneral von Trotha in Namibia wäre, der als Kommandeur der Schutztruppen in Deutsch-Südwestafrika gewütet hat.« Lüder legte eine längere Pause ein und sah in die angespannten Gesichter der beiden anderen. »Schlieffen hat gesagt: ›Der entbrannte Rassenkampf ist nur durch die Vernichtung einer Partei abzuschließen.‹«
Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen.
»Das wäre schlimm, wenn solche Ideologien bei uns aufkeimen würden«, stellte Dr. Starke fest. »Hoffentlich geht unsere Vermutung ins Leere.«
Lüder legte den Zeigefinger an die Nasenspitze. »Wiesner war im Referat zur Bekämpfung des Rechtsextremismus tätig. Ob er dort auf eine Spur gestoßen ist? Und was ist, wenn dieses Zitat analog gemeint ist und der ›Rassenkampf‹ nicht ethnisch zu verstehen ist, sondern damit die sogenannte herrschende Klasse gemeint ist?«
»Du glaubst, da ist eine Konstellation im Entstehen, die unseren Staat, unsere Demokratie aus den Angeln hebeln will?«, fragte Dr. Starke.
»Eine solche Gruppierung wäre keine Novität. Da sind die Reichsbürger, die sich immer noch als Bürger des Kaiserreichs sehen. Und andere verbreiten obskure Theorien über die Machenschaften der Regierungen, die Menschen zu unterdrücken und zu knechten. Uns wird allen ein Chip eingepflanzt, um uns zu Sklaven von Bill Gates zu machen. Andere behaupten, die Seuche wurde nur erfunden, damit die Menschheit sich impfen lässt. Das Serum mache aber alle unfruchtbar. Vergessen wir nicht das Judentum, das die Weltherrschaft antreten will. Ich habe es nicht glauben wollen, als ich hörte, dass zwanzig Prozent der Studierenden die Evolutionstheorie leugnen. Ich stamme lieber vom Affen ab, als zur gleichen Art wie diese Trottel zu gehören.«
»Das war jetzt aber ein Rundumschlag«, stellte Jens Starke fest.
Lüder nickte. »Es lohnt doch gar nicht, in diesem Fall zu ermitteln. Leute, die mit solchem Gedankengut behaftet sind, werden doch nicht bestraft. Die sind doch nicht zurechnungsfähig.«
»Können wir wieder sachlich reden?«, mahnte der Kriminaldirektor.
»Ist gut. Wir gehen also von einer Aktion einer Gruppierung aus, die sich gegen unseren Staat und dessen Strukturen wendet.«
Jens Starke sah Gärtner an. »Haben Sie etwas in der Pipeline?«
»Die bisherigen Erkenntnisse sind sehr vage. Natürlich gibt es Leute, die solche Ideen kultivieren. Wir wissen um Reichsbürger, die sich gegen alles stemmen, was unsere Rechtsordnung ausmacht. Die Bandbreite ist da sehr weit. Manche zetteln einen administrativen Kleinkrieg gegen die Behörden an, indem sie Ausweise, Amtssiegel und Ähnliches nicht anerkennen. Andere wehren sich gegen jede staatliche Maßnahme …«
»… sofern sie nicht vom Kaiser selbst angeordnet wurde …«, schob Lüder dazwischen.
»Haben Sie Namen?«, wollte Dr. Starke wissen.
»Ja. Es gibt eine Liste. Mit fallen die Wölfe ein«, erklärte Gärtner.
»Die Sonderlinge, die in der Holsteinischen Schweiz leben?«, fragte Lüder.
Gärtner bestätigte es. »Die haben sich zusammengefunden, um ein alternatives Leben zu führen. Dagegen ist per se nichts einzuwenden. Vegetarier. Veganer. Religiöse Gemeinschaften der vielfältigsten Art. Unterschiedliche politische Ansichten. Menschen mit ausländischen Wurzeln. All das prägt die Buntheit unserer pluralistischen Gesellschaft. Und jeder hat seinen Platz darin. Das funktioniert aber nur, wenn man sich an die Spielregeln hält.«
»Und das machen die Wölfe nicht?«, warf Lüder ein.
»Sie folgen ihren eigenen Regeln. Sie picken sich das heraus, was ihnen Vorteile bringt. Die Behörden sind machtlos, wenn sich eine Reihe der Mitglieder durch Transferleistungen wie Sozialhilfe vom verhassten Staat alimentieren lassen. Andererseits weigert sich die Gemeinschaft, ihren Beitrag zu leisten. Sie zahlen weder Steuern noch Gebühren.«
»Und wie versorgen sie sich?«
»Zum Teil durch eigenen Anbau. Wasser beziehen sie aus einem illegalen Brunnen. Die Abwässer und den Müll entsorgen sie ebenfalls illegitim.«
»Und Strom und andere Energie?«
»Die selbst ernannten Umweltschützer verbrennen Holz, das sie in eigenen Wäldern schlagen. Beim Strom allerdings haben sie gemerkt, dass es ohne nicht geht. Hier zeigt sich ihre Scheinheiligkeit. Sie weigern sich, den Lieferanten zu bezahlen. Nachdem der Strom abgestellt wurde, erfolgt die Begleichung der Rechnung durch eine Anwaltskanzlei aus Lübeck. Angeblich sind das Spenden, die von den zahlreichen Anhängern und Freunden der Bewegung aufgebracht werden. Gegen deren Willen. Aber der Strom wird bereitwillig verbraucht.«
»Welche Kanzlei?«, fragte Lüder.
»Hilgenroth Oberthür Neddernfeld«, erwiderte Gärtner.
»Das ist eine große Sozietät aus Lübeck«, stellte Lüder fest. »Die haben einen guten Ruf. Sie vertreten oft Mandanten in publicityträchtigen Fällen. Wie kommen die dazu, für die Wölfe tätig zu werden?«
»Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Gärtner. »Die Kanzlei steht nicht im Verdacht, politische Außenseiter zu vertreten. Sie sind gut im Geschäft mit lukrativen Mandaten aus dem Wirtschaftsleben.«
»Das klingt sonderbar. Ob es da eine Verbindung gibt?«
Dr. Starke klopfte mit der Spitze seines Kugelschreibers auf die Tischplatte. »Wir sollten uns nicht ins Reich der Spekulationen begeben.«
»Gibt es noch andere, die für eine solche Tat in Frage kommen?«, fragte Lüder.
»Ja«, bestätigte Gärtner. »Einige, die wir den sogenannten Reichsbürgern zuordnen können. Manche hängen nur der Ideologie nach, ohne polizeilich aufzufallen.«
»Es ist nicht verboten, einem Irrglauben anzuhängen«, fuhr Lüder dazwischen.
»Wir haben aber auch jene, die strafrechtlich in Erscheinung getreten sind. Da gibt es Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Körperverletzung, Landfriedensbruch, Amtsmissbrauch, Urkundenfälschung, Steuerhinterziehung und vieles mehr. Das geht munter das Strafgesetzbuch rauf und runter.«
»Im schlimmsten Fall kommt jetzt auch Mord hinzu«, sagte Lüder.
»Gut«, schloss Dr. Starke die Besprechung und erteilte Gärtner den Auftrag, die möglichen Verdächtigen im Hinblick auf die vorliegende Tat einzuordnen und Zusammenhänge zwischen dem bisherigen Auftreten in der Öffentlichkeit und der Tat sowie dem Bekenntnis dazu herzustellen.
»Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass es oft auch Trittbrettfahrer gibt. Wenn irgendwo ein Senior mit seinem Pkw infolge eines Schwächeanfalls in eine Passantengruppe gerät, reklamiert der IS dieses als Terrorakt für sich«, gab Lüder zu bedenken.
»Sicher gibt es Unterschiede bei den Akteuren auf diesem Feld, die mitunter auch konkurrieren. Die Reichskriegsflagge, die Bezeichnung ›Kommando von Schlieffen‹, das Tätigkeitfeld des Opfers und dessen Bezeichnung als ›Knecht der Deutschland GmbH‹ weisen aber auf ein begrenztes Täterumfeld hin«, sagte Jens Starke.
»Leider gibt es immer noch genug Blöde im Land«, erwiderte Lüder und ergänzte, bevor der Abteilungsleiter ihm eine Aufgabe zuweisen konnte, dass er die Wölfe besuchen wolle.
»Allein?«, wollte Gärtner wissen.
Lüder lächelte. »Wollen Sie mitkommen?«
Oberrat Gärtner musste nicht antworten. Vor seinem geistigen Auge sah Lüder den umgänglichen und kompetenten Kollegen mit Ärmelschonern vor sich sitzen. Der entsetzte Blick, den Gärtner ihm zuwarf, unterstrich die unausgesprochene Antwort.
Lüder kehrte in sein Büro zurück und verschaffte sich Informationen über die Wölfe. Was mochte die Leute leiten? Welches Motiv trieb sie an, mit ihrem Denken in der Zeit des Kaiserreichs stehen zu bleiben? Was war damals besser als in der Gegenwart? Schwärmer sprachen verklärt von der guten alten Zeit. Lüder fiel nichts ein, was damals besser war als heute. Vielleicht gab es Privilegierte, die in einer Gesellschaft, die deutlich die Klassenunterschiede betonte und auch lebte, von diesem Kastendenken profitierten. »Einigkeit und Recht und Freiheit« hatte Hoffmann von Fallersleben im Text der Nationalhymne geschrieben. Von Gleichheit war dort nicht die Rede.
Lüders Gedanken schweiften kurz ab. Das Lied der Deutschen war bei einem Aufenthalt auf Helgoland entstanden, als die Insel noch englischer Besitz war. Und wer wusste schon, dass der Verfasser der Nationalhymne auch so bedeutsame Texte wie »Alle Vögel sind schon da«, »Ein Männlein steht im Walde«, »Morgen kommt der Weihnachtsmann« oder »Kuckuck, Kuckuck, ruft’s aus dem Wald« geschrieben hatte. Welchen Spott mochten Leute wie die Reichsbürger daraus ableiten und damit die Hymne verunglimpfen?
Also: Was war besser an den alten Zeiten? Der Mehrheit der Menschen ging es schlechter. Die sozialen Verhältnisse waren übel, die Leute lebten in Armut, die medizinische Versorgung war unvollkommen, es gab nicht die Freiheiten, die jeder heute für sich in Anspruch nahm. Lüder fand immer noch für sich selbst keinen einzigen Punkt, der für eine Rückkehr zum Damals sprach. Er nahm sich die Informationen über die Wölfe vor.
Den Namen hatte die Gruppe sich selbst gegeben. Sie präsentierte sich mit einem professionell aufgemachten Internetauftritt. Er war bestimmt von Bildern, auf denen stets fröhlich auftretende Menschen zu sehen waren. Alles sah leicht und locker aus. Die Leute machten einen zufriedenen Eindruck. Sie lachten, verrichteten ihre Arbeit oder saßen in munterer Runde zusammen. Alles sah wie heile Welt aus. Die Örtlichkeiten schienen eine Oase der Ruhe zu sein. Sauber herausgeputzte Häuser und Gärten, dazwischen pickten frei laufende Hühner. Schweine, Schafe und Ziegen tollten herum. Und die Kinderschar strotzte vor Lebensfreude. Ein Idyll. Eine komplett intakte Welt, die nichts mit dem Geschehen »da draußen« gemein hatte. Wer sich hierhin zurückzog, fand Geborgenheit und Frieden.
Lüder nickte versonnen. Das war perfektes Marketing. Handelte es sich um einen Urlaubsprospekt, sprächen sicher viele geschundene Großstädter darauf an. Dem Alltag mit seinen Problemen, der Hektik, den großen und kleinen Sorgen entfliehen und in eine andere Welt eintauchen. Tatsächlich gab es diesbezügliche Angebote. Im Verborgenen hieß es, dass viele Begeisterung für diese Lebensform entwickelten und sich ihr angeschlossen hatten. Die Sorgen und Ängste blieben draußen. Man wurde aufgefangen und getragen von der Gemeinschaft Gleichgesinnter. Und alles war – so las Lüder – weltanschaulich und religiös neutral.
Wer diesen Text las, musste geradezu davon eingenommen sein. Hinzu kam, dass man sich auch autark hinsichtlich der Versorgung gab. Man baute eigenes Gemüse und Getreide nach strengen ökologischen Grundsätzen an, versorgte sich mit den alltäglichen Dingen und Dienstleistungen selbst und war unabhängig von der Diktatur der Ausbeuter. Es war anders formuliert. Eleganter. »Diktatur« und »Ausbeuter« waren Lüders Interpretation. Karl Marx hätte seine große Freude an dieser perfekten Art des Kommunismus in seiner reinsten Form gehabt. Seine Nachfolger im »realen Sozialismus«, die Spitzenfunktionäre der DDR, hatten sich allerdings mit der Waldsiedlung Wandlitz ein eigenes Luxusrefugium geschaffen, das nichts mit den tristen Plattenbauten oder verfallenen Häusern, in denen die arbeitende Bevölkerung darbte, gemein hatte. Ob das auch auf die Führung der Wölfe zutraf?
Oberhaupt der Vereinigung war Sören Michalski, neununddreißig Jahre alt. Auf einem Foto war er von einer bunten Schar von Kindern umgeben. Ein sympathisch aussehender Mann, braun gebrannt, Typ Womanizer, lässig in Sporthemd und Jeans gekleidet, wirkte wie der Traum aller Schwiegermütter. Er war groß und von sportlicher Statur. Lüder hätte sich den Mann mit dem sympathischen Äußeren auch als Model vorstellen können.
Michalski stammte aus Hagen und war der Sohn eines Sparkassenangestellten, der später eine Leitungsfunktion innehatte, und einer freiberuflichen Keramikerin. Das konnte man als bürgerliche Herkunft bezeichnen. Nach dem Abitur hatte er an der Universität Bremen Soziologie studiert und mit dem Master abgeschlossen. Danach verlor sich seine Spur, bis er vor zehn Jahren wiederauftauchte und mit dem Projekt »Wölfe« Furore machte. Michalski selbst war noch nicht straffällig geworden, obwohl er immer wieder bei Demonstrationen mit der Polizei aneinandergeriet. Durch sein Auftreten und seine Forderungen nach einer »anderen Lebensform« war Michalski auch ins Visier des Verfassungsschutzes geraten.
Lüder würde mit Geert Mennchen sprechen müssen.
DREI
Der Verfassungsschutz in Schleswig-Holstein war eine Abteilung des Innenministeriums, kein eigenes Amt. Wie an einer Perlenkette aufgereiht war er wie viele andere Ministerien am Düsternbrooker Weg direkt an der Kieler Förde angesiedelt. In dem Rotklinkerbau, der zwischen Staatskanzlei und Landtag lag, empfing ihn Geert Mennchen. Der Regierungsamtmann war über einen Meter neunzig groß und von massiger Gestalt. Das runde Gesicht des Endfünfzigers hatte Pausbäckchen und wirkte sehr jungenhaft. Er hatte Ähnlichkeiten mit dem Jungen, der von der Verpackung eines bekannten Zwiebackherstellers lächelte.
Mennchen vermied es, Lüder anzusehen. »Das hat bei uns wie eine Bombe eingeschlagen. Natürlich sind wir mit unserer Arbeit nicht jedermanns Freund. Aber dass einer von uns ermordet wird, und das auf so grauenhafte Weise, trifft uns tief. Hier im Amt kennt jeder jeden.« Mennchen schüttelte sich. »Jule, wie Julian Wiesner hier genannt wurde, war ein langjähriger Kollege. Ruhig. Ausgeglichen. Er liebte den Fußball und seine Familie. Wir haben oft einen kleinen Schwatz zwischen Tür und Angel gehalten. Über das Wetter. Das Kantinenessen. Dieses und jenes. Und nun das …«
»Kennen Sie seine Familie?«
»Ich habe sie ein- oder zweimal gesehen, seine Frau und die beiden Töchter. Frau Wiesner stammt von einem Bauernhof in Pronstorf. Der wird heute von ihrem Bruder bewirtschaftet. Es gibt noch eine Schwester, die irgendwo in Westdeutschland lebt. Wiesner und seine Frau haben auf dem Areal der Schwiegereltern gebaut. Alles heile Welt. Wiesners Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben, aber der Vater lebt noch und wohnt in Kiel. Die beiden hatten guten Kontakt miteinander. Eine rundum intakte Familie. Und jetzt diese Wahnsinnstat.« Mennchen suchte Lüders Blick. »Hat er leiden müssen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Lüder. »Das Obduktionsergebnis liegt noch nicht vor.«
»Sie waren aber am Tatort.«
»Am Auffindeort«, berichtigte ihn Lüder und war froh, dass Mennchen keine weiteren Details erfragte.
Erneut schüttelte sich der Verfassungsschützer. »Unser Amtsleiter besucht gerade die Familie. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken. Und in der der Angehörigen auch nicht«, ergänzte er.
»Wir können das Geschehene nicht rückgängig machen«, sagte Lüder, »aber alle Energie darauf verwenden, die Täter zu fassen.«
»Ja«, erwiderte Mennchen leise.
»Hat es Drohungen gegen Wiesner gegeben?«
»Ach«, winkte Mennchen ab. »Der Verfassungsschutz, die Polizei, die Staatsanwaltschaften und Gerichte, aber auch die Medien … Wie oft werden wir beschimpft und bedroht. Vergessen wir auch die Politiker nicht. Wiesner war auch ein ›Knecht der Bourgeoisie‹. Würden wir auf solche Äußerungen hören, dürften wir unser Amt nicht mehr ausüben.«
»Knecht der Bourgeoisie – das kommt Ihnen sehr spontan über die Lippen.«
Mennchen ließ sich Zeit mit der Antwort. »Es gibt Gruppierungen, die wir als mehr als gefährlich einschätzen. Andere ziehen laut tönend durch die Lande. Sie wissen ja – bellende Hunde beißen nicht.«
»Aber sie können erschrecken. Von wem stammt der Ausspruch ›Knecht der Bourgeoisie‹?«
»Das ist eine linke Gruppierung aus Kiel, die sich in der Hausbesetzerszene breitgemacht hat.«
»Haben Sie einen Namen?«
Mennchen zögerte.
»Wir stehen auf derselben Seite.«
»Benedikt von Dortelweil«, sagte der Verfassungsschützer schließlich.
Lüder zog die Stirn kraus. »Ich kenne Wolfgang von Dortelweil. Der mischt bei der Defense Tech AG mit.«
»Das ist der Vater.«
»Bitte?« Lüder war überrascht. »Die Defense Tech ist nicht unumstritten. Man wirft ihr vor, Kriegsgeräte zu produzieren. Und ausgerechnet der Sohn mischt in der linken Szene mit?«
»Links und Antifa.«
»Großartig«, meinte Lüder. »Was ist mit den Wölfen aus Grebin?«
»Die geben sich sehr bürgerlich. Das macht sie besonders gefährlich. Ihr Anführer –«
»Sören Michalski«, warf Lüder ein.
Mennchen bestätigte es durch Nicken. »Das ist ein hochintelligenter Bursche. Der hätte es auf vielen Gebieten weit gebracht. Man könnte bösartig behaupten, Michalski hat das Falsche studiert. Als Soziologe sind die Entwicklungsmöglichkeiten begrenzt. Das ist wie ein Millionärssohn, der Kunstgeschichte studiert.«
»Wir übertreffen uns bei Sticheleien«, stellte Lüder fest. »Michalski sucht sich seinen Platz also bei und durch die Wölfe.«
»Er ist der Leitwolf und führt das Rudel an«, sagte Mennchen. »Es gibt auch einen Stellvertreter. Valentin Untermenger. Der tritt aber wenig in Erscheinung. Die Lichtgestalt ist eindeutig Michalski.«
»Weshalb beobachten Sie die Wölfe?«
»Die sind gefährlicher als die Linksautonomen um Benedikt von Dortelweil, weil sie nicht mit offenem Visier kämpfen. Sie geben sich den Anschein, eine harmonische und erfolgreiche Gemeinschaft zu sein. Hinter den Kulissen braut sich aber etwas zusammen. Es scheint Michalski zu gelingen, seinen Anhängern und Gefolgsleuten zu suggerieren, dass dieser Staat am Ende ist. Es muss eine Erneuerung geben, wenn die Menschen fortbestehen wollen, so sein Credo. Und die Erneuerung kann am besten dadurch erfolgen, dass man wie bei einer Maschine die Steuerung austauscht.«
»Also keine Revolution, in der die Massen den Aufstand wagen?«
»Nein. Die Erneuerung muss von oben kommen. Haben Sie schon einmal etwas von den ›Vordenkern‹ gehört?«
Lüder lachte auf. »Ja. Die Kreuz- und Querdenker sind aber in der Öffentlichkeit weiter verbreitet. Kreuz und quer – hin und her. Es bringt nichts, wenn wir uns hier über diese Leute auslassen. Unsere von diesen Gruppen verhöhnten Medien, unsere Gerichte – die achten darauf, dass unsere Freiheitsrechte gewahrt bleiben.« Lüder tippte sich an die Stirn. »Es entbehrt jeder Logik, dass man lautstark protestiert – und das auch noch darf, um gegen die vermeintliche Meinungsdiktatur anzugehen. Wir brauchen eigentlich keine Bestätigung durch PISA-Studien, dass Deutschland auf dem absteigenden Ast ist. Man muss nur diesen Leuten zuhören. Einen besseren Beweis dafür, dass unser Bildungssystem versagt, gibt es doch nicht.«
»Sollten Sie als Polizeibeamter nicht politisch neutral sein?«, fragte Mennchen.
Lüder grinste breit. »Ja – natürlich. Aber ich bin auch Bürger. Vater. Wenn sich die Staatsverdrossenen auf unleugbar vorhandene Mängel konzentrieren würden, könnte man eine fruchtbare Diskussion wagen. Alle lachen uns aus, aber niemand hinterfragt, weshalb wir nicht in der Lage sind, einen Flughafen zu bauen, weshalb Projekte wie die Elbphilharmonie oder Stuttgart 21 aus dem Ruder laufen. Bleiben wir vor der Haustür. Seit zehn Jahren – zehn! – ist man damit beschäftigt, den Rendsburger Kanaltunnel zu renovieren. Wie lange ist die Schwebefähre jetzt außer Betrieb? Und für die Planung der Autobahnhochbrücke benötigt man mehr Zeit, als der Kaiser für das Buddeln des gesamten Nord-Ostsee-Kanals benötigt hat. Ehrlich. Da versteht man doch die Reichsbürger, dass die den ollen Wilhelm wiederhaben wollen. Aber wir haben ein Gewehr konstruiert, das um die Ecke schießen kann. Während die Welt früher auf uns als das Volk der Dichter und Denker geschaut hat, das Goethe, Schiller und Beethoven, Kant und Nietzsche hervorgebracht hat, das Auto erfand und bedeutende Innovationen in der Chemie, Medizin und auf vielen anderen Gebieten schuf, beschränken wir uns jetzt darauf, Schummelsoftware für Motoren zu konstruieren.«
Mennchen lehnte sich zurück. »Das klingt ja fast wie Frust.«
»Nein«, erwiderte Lüder. »Das ist die Saat, die bei manchem aufgeht, der sich darüber wundert, dass einiges schiefläuft. Leider übersehen diese Menschen aber die vielen positiven Dinge. Welchem Land geht es so gut wie uns? Freiheit. Wohlstand. Ein erstklassiges Gesundheitssystem, gemessen an dem, was anderswo geboten wird. Und ganz wichtig: Frieden.«
»Tja«, sagte Mennchen und atmete tief durch. »Aber diese Botschaft kommt nicht bei jedem an. Stattdessen verfangen solche Ideen wie die der Wölfe.«
»Die wie die Grauen Wölfe im Zweiten Weltkrieg agieren. Sie führten einen Kampf aus dem Untergrund. Tauchten kurz auf, um dann vernichtend zuzuschlagen. Ist das auch die Taktik des ›Kommandos von Schlieffen‹? Der war ja auch ein Militärstratege. Damals war es in vielen Familien Tradition, dass man dem Militär über Generationen verbunden blieb. Sein Schwiegersohn war Generalmajor, dessen Vater Generalfeldmarschall.«