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»Hoffentlich sind die Verbrecher, die sich hinter dem ›Kommando von Schlieffen‹ verbergen, nicht genauso erfolgreich wie der Namensgeber.« Mennchen wiegte bedächtig den Kopf. »Der ist mit Orden und Auszeichnungen überhäuft worden.«
Lüder lachte kurz auf. »Wenn ich solche Leute sehe, erinnert es mich immer an Guido I.«
Mennchen zog eine Augenbraue in die Höhe. »Wer ist das?«
»Keine Ahnung. Ein Karnevalsprinz in der Provinz. Der trug auch viel Klimbim um den Hals. Aber von Schlieffen muss bei den ganzen Orden, die seine Brust schmückten, einen Wirbelsäulenschaden gehabt haben. Da drängt sich Großkreuz an Großkreuz. Ob man auf jede Auszeichnung stolz sein kann? Er war zum Beispiel Träger des Großkreuzes des Ordens der heiligen Mauritius und Lazarus.«
Mennchen knurrte etwas Unverständliches. »Das klingt nach Christentum. Lazarus – das war der, den Jesus wiederbelebt hat.«
»Es gibt auch den Lazarus-Effekt, der beschreibt die Wiederentdeckung ausgestorbener Dinge. Das trifft im übertragenen Sinn auch auf die Reichsbürger zu, die im Gestern verhaftet geblieben sind.«
»Und Mauritius?«
Lüder zuckte mit den Schultern. »Ich bekenne, dass mir dieser Name in Verbindung mit einer Briefmarke etwas sagt. Natürlich ist mir auch die Insel ein Begriff. Und ich gestehe: Ich habe einmal nachgesehen, was sich hinter diesem Orden verbirgt. In meinen Augen ist es kein Renommee, sich in einer Kategorie mit Mussolini, dem Schah von Persien oder Juan Carlos wiederzufinden, die auch mit diesem Blech ausgezeichnet wurden.«
»Juan Carlos? Der von Spanien?«
»Genau jener, der sich in die Vereinigten Arabischen Emirate geflüchtet hat, um der Justiz seines Landes zu entgehen.«
»Und welche Conclusio ziehen wir daraus?«
»Die Frage ist noch nicht beantwortet«, sagte Lüder. »Hat irgendjemand in die Mottenkiste gegriffen? Oder steckt hinter dem Bezug auf von Schlieffen etwas Philosophisches? Es bleibt letztlich Schlieffens Zitat: ›Der entbrannte Rassenkampf ist nur durch die Vernichtung einer Partei abzuschließen.‹ Und wenn wir Rassenkampf nicht ethnisch sehen?«
»Puuuh.« Mennchen spitzte die Lippen und stieß die Luft aus. »Das ist jetzt sehr um die Ecke gedacht.«
»Diese Leute denken nicht geradeaus. Sonst würden sie nicht solch kruden Ideen folgen. Wer bedroht und mordet Beamte und bekennt sich dazu im Internet?«
»Wir kennen es von den Todeslisten rechtsradikaler oder islamistischer Terrorvereinigungen. Darauf werden Politiker, Journalisten oder andere Menschen geführt. Das hat nichts mehr mit Meinungsfreiheit zu tun, die bei uns eine Selbstverständlichkeit ist. Jeder darf den größten Blödsinn denken und es auch verkünden. Er muss dazu nicht einmal einen Aluhut tragen. Die Abgrenzung ist schwierig. Gibt es einen rechtsfreien Raum? Wo endet das Liberale? Denken Sie an die Hausbesetzerszene. Ist es Menschenrecht, sich in fremdes Eigentum einzunisten, weil jedermann ein Dach über dem Kopf braucht? In Hamburg hat die Polizei vor der afrikanischen Drogenszene an der Sternschanze kapituliert. In Berlin geht man noch weiter. Man spricht von einem pragmatischen Ansatz, wenn im Görlitzer Park, einem berüchtigten Drogenumschlagplatz, aufgemalte Linien den Dealern ihren Platz zuweisen sollen. Das ist eine Kapitulation des Rechtsstaats und empört jene, die aufgrund eines Strafmandats wegen falschen Parkens erbarmungslos verfolgt werden.« Mennchen atmete hörbar aus. »Das ist der Nährboden, auf dem manches Pflänzchen gedeiht. Und nun werden die, die das angeblich dulden, verfolgt und sogar ermordet.«
»Das ist absurd«, antwortete Lüder energisch. »Julian Wiesner war mit Sicherheit keiner, der Auswüchse wie die von Ihnen aufgezeichneten guthieß. Er war Verfassungsschützer. Und das darf man wörtlich nehmen. Ich gehe davon aus, dass der Mord nicht ihm als Person, sondern der Institution galt. Er starb, weil er ein Repräsentant unserer Demokratie war. Nein. Es hätte auch Sie, mich oder jeden anderen von uns treffen können.«
»Meinen Sie?«, fragte Mennchen nach einer längeren Pause mit belegter Stimme.
»Ich bin mir sicher. Wir sind die Aushängeschilder unserer Demokratie. Zumindest eine Art Zaun, der das Vordringen in das Zentrum unseres Gemeinwesens verhindern soll. Und aus diesem Zaun ist nun eine Latte herausgebrochen worden. Es liegt nun an uns, dass hier kein größeres Schlupfloch entsteht.«
Mennchen malte ein paar abstrakte Figuren auf einen Notizblock. »Und wenn wir falschliegen? Wenn tatsächlich mehr hinter dem Zitat von Schlieffens steckt, ich meine, dem mit dem Ausrotten einer bestimmten Rasse? Rassismus in der schrecklichsten und gewalttätigsten Form?«
»Wir stehen erst am Anfang. Gibt es außer den Wölfen noch weitere Kandidaten, die wir zuerst in den Fokus unserer Überlegungen rücken sollten?«
Mennchen nagte an der Unterlippe. »Sagt Ihnen der Name Dr. Jürgen Horst etwas?«
Lüder nickte. »Ja. Ein Arzt aus Plön. Der fällt durch manch merkwürdigen Gedanken auf. Er organisiert auch Demos und heizt dort die Menschen auf. Das ist aber alles durch das Demonstrationsrecht gedeckt. Selbst wenn man zwischen den Zeilen eine Aufforderung zur Gewalt heraushören könnte. Horst und seine Anwälte nennen es zivilen Ungehorsam, wenn sie die große Weltverschwörung am Horizont zu erkennen glauben.«
»Mir fallen noch die Osmanen Burners ein. Die wollen auch an den Grundfesten unseres Staates rütteln.«
»Die sind aber mehr kriminell als politisch ausgerichtet«, erwiderte Lüder. »Der Kollege Große Jäger aus Husum hat mit denen seine eigene leidvolle Erfahrung gesammelt, als er mit ihnen zusammenstieß. Die Burners waren auf der Jagd nach dem ausgebrochenen Polizistenmörder, der im Gefängnis ihrem Sergeant-at-Arms eine Gabel ins Auge gestochen hatte. Bei der Verfolgung des Täters ist Große Jäger mit den Burners aneinandergeraten, weil die ihre eigenen Vorstellungen von Ahndung hatten, die außerhalb der Regeln unseres Rechtsstaats liegen. So ist der Husumer auf die Todesliste der Burners geraten.«
»Und wenn darauf Platz für einen Husumer Polizisten ist, passen auch noch andere Staatsbedienstete darauf.«
»Und auf diesem Feld war Julian Wiesner tätig?«, fragte Lüder.
»Wir haben ein breites Spektrum, das unter Beobachtung steht«, erwiderte Mennchen ausweichend.
»Sie verfügen über gute Insiderinformationen über die Wölfe.«
»Hm.«
»Das ist eine ausweichende Antwort. Ich vermute, Sie haben einen Informanten in den Reihen dieser Leute.«
Mennchen wich Lüders Blick aus.
»Wir kennen uns schon lange. Deshalb sollte es keinen Grund geben, mich nicht einzuweihen.«
Mennchen beließ es bei einem erneuten »Hm«. Dann sah er Lüder an. Lüder glaubte, ein ganz schwaches Nicken zu erkennen. Mehr würde er vom Verfassungsschützer nicht erfahren.
»Wir werden in Kontakt bleiben«, sagte Lüder zum Abschied.
Sein nächstes Ziel war das Reich der Wölfe. Michalski und seine Anhänger hatten ein heruntergewirtschaftetes Gut in Grebin erworben. Die Herkunft der Mittel konnte nicht eindeutig geklärt werden. Lüder hatte diesem Punkt wenig Aufmerksamkeit gewidmet, nachdem er gelesen hatte, dass sich das Finanzamt mit dieser Frage auseinandergesetzt hatte. Es gab in Deutschland wohl kaum eine Behörde, die einem Sachverhalt hartnäckiger nachging. Manchmal hatte Lüder gedacht, dass die Polizeiarbeit effizienter wäre, wenn sie mit einem ähnlichen Umfang an Befugnissen ausgestattet wäre wie die Finanzverwaltung.
Aus den anfänglich zwanzig Aktiven war bis heute eine Gemeinschaft von etwa einhundertdreißig Menschen entstanden, die auf dem »Sonnenhof« lebten. Das Ganze war als Genossenschaft organisiert. Immerhin, überlegte Lüder, bediente man sich der geltenden Gesetze. Während Reichsbürger alle Normen unserer Rechtsordnung ablehnten und die Existenz der Bundesrepublik leugneten, war es das Bestreben der Wölfe, die Gesellschaftsordnung nach ihren Vorstellungen zu verändern.
Nach außen waren sie sehr erfolgreich. Dafür sprach auch das gepflegte Areal des Sonnenhofes. Er lag außerhalb der Ortschaft inmitten von Feldern, Wiesen und Wäldern. Ein hölzernes Schild wies den Weg von der Straße durch ein kleines Waldgebiet zum Gutshaus, das mustergültig instand gesetzt war. Sorgfältig geharkte Kieswege verbanden den Hauptplatz mit dem grünen Rondell mit den anderen Häusern. Dazwischen waren kleine Grünflächen angelegt, die liebevoll mit Blumen bepflanzt waren. Es war wirklich ein Idyll und entsprach den Impressionen, die Lüder schon dem Auftritt im Netz entnommen hatte.
Das Ganze hätte auch ein gepflegtes Feriendomizil sein können, wenn nicht der ausgesprochen ländliche Charakter prägend gewesen wäre. Häuser, in denen Wohngruppen untergebracht waren, erstreckten sich über einen größeren Bereich. Dazwischen tummelten sich Tiere. Hühner, ein paar Ziegen. Lüder sah drei Schweine frei herumlaufen. Bei diesem Anblick wunderte man sich, dass der Gruppe nicht neue Mitglieder in Scharen zuliefen.
Er parkte neben dem Haupthaus, stieg aus und fragte eine blonde Frau mit einem langen Pferdeschwanz, wo er Michalski treffen könne.
Sie schenkte ihm ein freundliches Lächeln und zeigte auf das Gutshaus. »Sören ist da drinnen. Meistens jedenfalls.« Mit einem zweiten Lächeln ging sie ihres Weges.
Hinter der schweren Holztür verbarg sich eine kühle Halle, die auch schon vor hundert Jahren dieses Ambiente ausgestrahlt haben mochte. Alles war blitzsauber. Und die dunklen schweren Möbel wirkten auch nicht erdrückend. Hinter einer angelehnten Tür drang Stimmengewirr hervor. Lüder klopfte an und steckte seinen Kopf durch den Spalt. Drei Frauen und ein Mann mit schulterlangen Haaren waren damit beschäftigt, Flyer in Umschläge einzutüten. Der Mann stand auf und begleitete Lüder, nachdem er die Frage nach Michalski wiederholt hatte, zu einem anderen Raum.
Das Büro war ebenfalls »altdeutsch« eingerichtet und hätte den Besucher in die Vergangenheit entführen können, wäre es nicht mit modernster Büro- und Kommunikationstechnik ausgestattet gewesen.
Lüder erkannte in dem groß gewachsenen Mann mit der sportlichen Statur Sören Michalski. Michalski trug lässig wirkende Markenkleidung, eine Edeljeans und ein Sporthemd mit dem Logo eines teuren Herstellers. Der Mann hatte Geschmack. Das spiegelte sich auch in der teuren Armbanduhr wider, die sein Handgelenk zierte. Er machte einen sympathischen Eindruck. Mancher würde ihm sicherlich einen Gebrauchtwagen abkaufen. Oder auch eine Ideologie, überlegte Lüder.
Michalski stand auf, umrundete den Schreibtisch und streckte Lüder die Hand entgegen. Es war ein fester Händedruck.
»Sören Michalski«, sagte er mit einer angenehmen, tiefen Stimme und zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.
»Lüders. Landeskriminalamt.«
Michalskis Miene veränderte sich schlagartig. Er zog die Augenbrauen herab, sodass die Augen zu schmalen Schlitzen wurden.
»So?«
Lüder entschloss sich, auf Konfrontationskurs zu schwenken. »Polizeilicher Staatsschutz«, fügte er an und ließ es gleichgültig klingen.
»Gleich das große Kaliber?« Die zuvor gezeigte Freundlichkeit war urplötzlich verschwunden.
»Noch schlimmer. Ich komme persönlich.«
Damit war der Boden für das Gespräch bereitet.
Michalski kehrte zu seinem bequemen Bürosessel zurück und setzte sich. Lüder nahm unaufgefordert auf einem ledernen Freischwinger gegenüber Platz.
»Wir haben Sie nicht angefordert, sondern wissen unsere Interessen selbst zu vertreten«, sagte Michalski.
»Wir kommen meistens unaufgefordert, weil wir Ihre Interessen vertreten.«
Michalski benötigte zwei Lidschläge, um den Satz zu verstehen.
»Nur weil Sie für den sogenannten Staat tätig sind, bedeutet es nicht, dass es auch unsere Interessen sind.«
»Der Staat ist nicht nur ›sogenannt‹, sondern eine von allen getragene Wirklichkeit. So ist es in einer Demokratie.«
Michalskis Mimik entspannte sich. »So ist es, wenn sich Irrtümer verfestigen. Dēmos und kratós stammen aus dem Altgriechischen. Darunter versteht man aber im Allgemeinen eine Dorf- oder Siedlungsgemeinschaft. Und an der Entscheidungsfindung durften nur Bürger mit vollen Bürgerrechten teilhaben. Den Pöbel hat man außen vor gelassen.«
»Wie gut, dass die Menschheit sich weiterentwickelt. Sie hocken ja auch nicht mehr im Leopardenfell vor Ihrer Steinzeithöhle. Glauben Sie wirklich an die gute alte Zeit?«, fragte Lüder und ließ es betont herablassend klingen.
Michalski ließ sich Zeit mit der Antwort. Sehr viel Zeit. »Was ist gut am Jetzt? Hektik. Stress. Es fehlt an klaren Strukturen. Ein funktionierender Staat – das ist doch Glücksache. Wir lassen es zu, dass wir von außen überlaufen werden. Die Lösung für die Zukunft liegt in der Vergangenheit.«
»Haben Sie sich deshalb den Namen ›Kommando von Schlieffen‹ gegeben?«, fragte Lüder und musterte sein Gegenüber.
Michalski zuckte nicht einmal mit den Augenlidern.
»Von Schlieffen?«, wiederholte er mehrfach. »Das war doch ein … ein …« Er schnippte mit den Fingern in der Luft.
»Ein hoher Militär im Kaiserreich.«
Michalski lächelte. »Im Wilhelminismus war die Armee die beste Schule der Nation. Nur die Besten versammelten sich dort. Die Führung setzte sich aus Männern der ersten Familien zusammen.«
»Man könnte meinen, dass die Offiziersränge vererbt wurden. Man blieb unter sich.«
»Das muss nicht immer das Schlechteste sein. Auch in der Natur setzt sich das Gute durch. Das Raubtier, das nicht mehr schnell genug jagen kann, geht ein. Andererseits werden die zur Beute, die ihren Jägern nicht mehr entkommen können. Die Natur schleppt keine Kreaturen durch.«
»Das geht jetzt entschieden zu weit«, fuhr Lüder mit donnernder Stimme dazwischen, dass Michalski erschrocken zusammenfuhr. »Es ist widerlich, Gedankengut der Nationalsozialisten vorzutragen. Euthanasie. Ein Ausleseprozess. Das ist übelster Sozialdarwinismus. Der Mensch unterscheidet sich von anderen Kreaturen dadurch, dass uns Begriffe wie Ethik und Moral eigen sind. Haben Sie überhaupt ein Gewissen? Eine Seele?«
Michalski hatte sich ein wenig gefangen. »Kommen Sie mir nicht mit Religion, gleich wie sie heißt. Wenn es wirklich einen Gott gibt, hat er in seinem Job versagt. Sehen Sie sich um. Krankheiten. Not. Elend. Kriege. Und selbst wenn Sie behaupten, das sei alles menschengemacht, bleiben die Naturkatastrophen. Und die schickt der Himmel. Oder die Hölle. Und wer trägt die Verantwortung dafür, dass sich die Lebewesen da draußen gegenseitig auffressen? Es sind nicht nur die Tiere, die einander jagen und vernichten. So ist eben die Natur, werden Sie argumentieren.« Michalski breitete die Hände aus. »Was ist mit den sogenannten Menschen, die sich nicht anders verhalten? Es ist doch fast eine Art Kannibalismus, dass sich in Afrika ethnische Gruppierungen gegenseitig massakrieren. Das habe ich gemeint«, versuchte Michalski seine Aussage zu relativieren. »Und nichts anderes haben Leute wie von Trotha, Lettow-Vorbeck oder von Schlieffen erkannt. Die Deutschen haben in Deutsch-Südwest die Zivilisation eingeführt. Und was war der Dank? Die Herero haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen abgeschnitten.«
Lüder stutzte kurz. Gab es einen Zusammenhang? So ähnlich sahen die Verstümmelungen aus, die man Julian Wiesner zugefügt hatte. »Sie betreiben Geschichtsverfälschung. Das war Völkermord, was dort geschehen ist. Verübt von deutschen Militärs unter der Ägide des von Ihnen so gepriesenen Kaisers.«
»Die Historiker schwimmen doch im Mainstream mit. Damals galt Deutschland etwas in der Welt, nicht zuletzt dank der Durchsetzungskraft der Militärs.«
»Können Sie der Vergangenheit so viel abgewinnen? Die von Ihnen hochgelobten Offiziere misshandelten die Rekruten und Untergebenen oft auf bestialische Weise, wenn sie sie nicht sinnlos ins Verderben schickten. Viele, die dem Drill nicht gewachsen waren, desertierten und flüchteten sich in den Suizid.«
Ein Lächeln umspielte Michalskis Mundwinkel. »Drehen Sie mir nicht wieder jedes Wort im Mund um, aber das ist es, was ich vorhin sagte. Das war eine Art Ausleseprozess. Und der Erfolg gab den Verantwortlichen recht. Es gab die Siege über Dänemark, Österreich und Frankreich zwischen 1864 und 1871. Das Volk nahm die neue deutsche Identität auf. Es entstand ein Begeisterungstaumel für die siegreiche Armee. Das stärkte das Selbstbewusstsein der Militärs, das zu einer eigenen kultur- und wertestiftenden Klasse avancierte.«
Lüder schüttelte heftig den Kopf. Dann tippte er sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Sind Sie auch eine zweibeinige Bildungskatastrophe? Ihre Gedanken- und Geisteswelt ist für mich nicht nachvollziehbar. Ich respektiere Ihre Art der Lebensführung, denn jeder muss selbst sehen, wie er zu einem erfüllten Dasein kommt. Schlimm sind die Fanatiker, die meinen, mit Feuer und Schwert ihre Sicht der Dinge anderen aufoktroyieren zu müssen.«
Michalski stach mit dem Zeigefinger durch die Luft in Lüders Richtung. »Da sind wir auf einer Linie. Wir werden geflutet von Leuten, die unsere Lebensweise verachten und unsere Werte vernichten wollen. Das sind doch die Fehler, die die Bundesrepublik fortlaufend begeht. Die Unterwanderung unserer Kultur, die Verdrängung der ursprünglichen Menschen, die all das hier geschaffen haben. Es war ein Fehler, die klaren Strukturen des Kaiserreichs zu zerstören. Es ist ein Makel in der Geschichte, dass das alles hier bei uns, in Kiel, seinen Ausgang genommen hat.«
»Sie meinen den Matrosenaufstand in Kiel, der als Basis für den Novemberaufstand, das Ende des Kaiserreichs und das Ausrufen der Republik durch Scheidemann gilt.«
Michalski lächelte. »So sehen es die Bürgerlichen heute und übersehen, dass Karl Liebknecht parallel die sozialistische Republik ausgerufen hat. Aber im Ernst. Der Soldatenpöbel hat feige gekniffen, den Gehorsam verweigert und die Führung im Stich gelassen.«
»Sie verdrehen die historischen Fakten. Ihre verklärte Offizierselite hat versagt. Im Krieg. Und als alles verloren war, wollte man die Soldaten sinnlos in den Tod hetzen. Daraus resultierte der Matrosenaufstand.«
»Das war Meuterei«, beharrte Michalski.
»Es war die Erkenntnis von vernunftbegabten Menschen, dass dem sinnlosen Töten ein Ende gesetzt werden muss, nachdem allein die Schlacht um Verdun siebenhunderttausend Opfer gefordert hatte. Und«, dabei hob Lüder den Zeigfinger, »Ihr verehrter von Schlieffen war mit seinem falschen Plan nicht unwesentlich an diesem Desaster beteiligt.«
»So ist es«, erwiderte Michalski, »die zurechtgerückte Wahrheit. Heute nennt man es Fake News.«
»Sie nennen sich doch ›Kommando von Schlieffen‹.«
»Wir – nein! Man nennt uns ›die Vordenker‹. Das ehrt uns. Unsere Ideen, unser Leben sind zukunftsgerichtet.«
»Ich sehe Sie eher am anderen Ende – rückwärtsgewandt. Glauben Sie das wirklich?« Lüder sah sich demonstrativ um. »Veranstalten Sie hier auch einen Mittelaltermarkt?«
»Nein. Wieso?«
»Es würde gut zu Ihren rückwärtsgewandten Ansichten passen, verhaftet im Gestern.«
»Es ist doch klug, sich das Beste herauszupicken. Warum wollen Sie nicht anerkennen, dass es bewährte Lebensformen gab?«
»Ein unzureichendes Argument, wenn Sie die ganzen Mankos unberücksichtigt lassen, die damit verbunden waren. Freiheit. Demokratie. Wohlstand.«
»Damals hatten die Menschen eine Orientierung. Sie wussten, an was sie sich halten konnten. Wenn Sie so wollen – es waren Korsettstangen in ihr Leben eingezogen. Niemand konnte, niemand musste sich verbiegen.«
Lüder lachte laut auf. »Nun erklären Sie mir, das Leben war früher besser. Als unsere Vorfahren noch in Erdlöchern hausten, wurde niemand von einem Auto überfahren. Ihre Bewegung wird doch getrieben von der Zukunftsangst.«
»Sehen Sie auf die Natur –«
»Das Thema hatten wir schon«, unterbrach Lüder Michalski.
Der ließ sich nicht beirren. »Dort gibt es Einzelgänger, die sich durchschlagen. Wo das nicht der Fall ist, hat sich ein Rudelführer etabliert.«
»Und das sind Sie? Bei Ihnen gibt es keine demokratischen Strukturen? Sie geben die Marschrichtung vor?«
Michalski blieb die Antwort schuldig.
»Sind Sie und Ihre Anhänger – ein Wolfsrudel? Jagen Sie andere? Vertreter des Staates? Dessen Repräsentanten?«
Michalski verzog das Gesicht zu einem arrogant wirkenden Grinsen. »Fühlen Sie sich gejagt?«
»Es sei Ihnen versichert, dass ich der Jäger bin. Mein Wild sind jene, die sich gegen unsere demokratische Lebensform und unsere Rechtsordnung stellen.«
»Lassen wir es darauf ankommen«, sagte Michalski. Es klang wie ein Schlusssatz.
Lüder beließ es bei einem Kopfnicken. Sie schieden ohne Grußwort. Auf dem Weg zu seinem BMW begegnete ihm ein mittelgroßer Mann mit Vollbart. Braune Augen blitzten Lüder entgegen.
»Grüß Sie«, sagte der Mann mit erkennbarem österreichischen Akzent.
Oder war es Bergbauernbayerisch? Lüder schmunzelte vor sich hin. So, glaubte er, klang es, wenn Bergbauern auf der Alm sprachen.
Um den Mann tollten mehrere fröhliche Kinder, versuchten, sich an ihn zu hängen, an ihm hochzuspringen. Der Mann hob die Hände, hielt eine Weile stand, wenn eines der Kinder daran baumelte, kitzelte ein anderes und lachte lauthals. Es schien nicht nur den Kindern Vergnügen zu bereiten.
Wie erklärte sich der Widerspruch zwischen dem äußeren Anschein eines intakten Gemeinwesens und den kruden Ideen, die Michalski hatte durchklingen lassen? War das die Masche der Wölfe, die Menschen zu gewinnen und für ihre Zwecke einzuspannen? Man hörte oft genug, dass Menschen auf die »gute alte Zeit« verwiesen, die These vertraten, dass nicht alles schlecht war in der DDR, aber zum Glück starb die Generation aus, die gelegentlich hatte durchklingen lassen, »bei Adsche wäre das nicht passiert«. Dieses Heile-Welt-Gehabe beeindruckte offenbar manche, die sich bereitwillig als Mitläufer anheuern ließen.
War es Julian Wiesner gelungen, hinter die Kulissen zu blicken? Hatte der Verfassungsschützer etwas entdeckt? War sein Wissen zu einer Gefahr für jene geworden, die an den Grundfesten von Staat und Demokratie rüttelten? Musste Wiesner deshalb sterben?
Lüder war so in seine Gedanken vertieft, dass er erst nach einer Weile einen Mann wahrnahm, der zehn Meter entfernt auf einer Rasenfläche stand, einen Rechen in der Hand hielt und ihn aus dunklen Augen beobachtete. Lüder nickte dem Gärtner zu, ohne eine Reaktion zu ernten. Nachdenklich fuhr er nach Kiel zurück.
Im LKA besorgte er sich einen Becher Kaffee, wechselte ein paar Worte mit Edith Beyer im Vorzimmer des Abteilungsleiters und suchte dann Dr. Starke auf. Der hörte sich die ersten Sätze an, unterbrach Lüder und schlug vor, das Gespräch gemeinsam mit Jochen Nathusius, dem stellvertretenden LKA-Leiter, fortzusetzen.
Kurz drauf saßen sie am Besprechungstisch in dessen Büro, und Lüder trug seinen Bericht über den Besuch bei den Wölfen vor. Er ließ auch nicht seinen positiven Eindruck vom Ambiente des Sonnenhofes unerwähnt.
»Das ist eine teuflische Strategie. Auf den ersten Blick muss man sich dort einfach wohlfühlen. Falls – was wir nicht wissen – dort mörderische Pläne geschmiedet werden oder gar schon verwirklicht wurden, geschieht das auf sehr subtile Art.«
Nathusius wiegte nachdenklich den Kopf. »Mir fehlt die Motivation für den Mord an einem Verfassungsschützer.«
»Wollen die ein Zeichen setzen?«, gab Dr. Starke zu bedenken.
»Dann müssen sie sich zu erkennen geben«, meinte Nathusius. »Wir kennen es von terroristischen Akten. Die Täter sind immer ganz erpicht darauf, dass ihnen die Urheberschaft zugesprochen wird. Sie wollen Aufmerksamkeit.«
»Die Art der Tatausführung und der Ort, der Mittelpunkt des Landes, weisen doch darauf hin, dass man etwas Spektakuläres ausführen wollte«, sagte Jens Starke.
Lüder stimmte seinem Vorgesetzten zu. »Es ist fast so wie bei der Interpretation eines abstrakten Kunstwerkes: Wie deutet man es? Ein Beamter des Verfassungsschutzes wird aus der Mitte des Landes herausgerissen. Heißt es: ›Wir greifen euch im Zentrum an. Auch dort seid ihr nicht sicher‹? Und weshalb der Verfassungsschutz? Oder galt der Anschlag direkt der Person Julian Wiesner? Hat der Kollege etwas herausgefunden, das für die Täter existenziell gefährlich sein könnte?«