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»Wir wissen zu wenig«, stellte Nathusius fest. »Die Wölfe scheinen aber eine gefährliche Gruppierung zu sein. Ein Wolf im Schafspelz? Falls – falls! – sie dahinterstecken, haben wir es mit einem extrem gefährlichen Gegner zu tun. Sie treten nicht offen als gewalttätig auf.«
»Ich halte Michalski, den Kopf der Bewegung, für hochintelligent. Sie bezeichnen sich selbst als ›die Vordenker‹. Daraus kann man ableiten, dass sie einer Strategie folgen. Ich gehe auch davon aus, dass die Mehrheit der Anhänger gar nicht überblickt, wo sie hineingeraten sind. Es ist teuflisch, ein Wohlfühlambiente zu schaffen, aus dem der Mitläufer nicht ausbrechen kann.« Lüder sah die beiden anderen an.
»Was bewegt Michalski dazu, dem Vergangenen so viel Aufmerksamkeit zu widmen?«, fragte Dr. Starke rhetorisch.
Auf diese Frage wusste keiner eine Antwort.
»Sie unterscheiden sich von Reichsbürgern und Selbstverwaltern«, meinte Nathusius.
»Das ist keine einheitliche Szene. Die sind daher nur schwer zu fassen«, warf Dr. Starke ein. »Da haben sich Gruppierungen und Einzelpersonen zusammengefunden, die die Existenz der Bundesrepublik und deren Rechtssystem ablehnen. Sie lassen sich dabei von unterschiedlichen Argumenten leiten. Manche berufen sich auch auf das Naturrecht, dessen Rahmen sie aber selbst definieren. Das ergibt eine ziemlich diffuse Gemengelage.«
»Die Verschwörungstheoretiker sprechen der demokratisch gewählten Volksvertretung, den Parlamenten, jegliche Legitimation ab.« Lüder tippte sich gegen die Stirn. »Sie berufen sich dabei auf das historische Deutsche Reich. Tendenziell neigt auch Michalski in diese Richtung, auch wenn er noch nicht offen gegen die Bundesrepublik und ihre Institutionen votiert. Er ist zu klug, um sich offen außerhalb unserer Rechtsordnung zu stellen oder gegen sie zu verstoßen. Aber was ist, wenn er beginnt, Nadelstiche zu setzen? Hoffen wir, dass diese Befürchtung nicht real wird.«
»Wie wollen wir weiter vorgehen?«, fragte Dr. Starke.
»Ich werde mit der Kieler Bezirkskriminalinspektion sprechen und fragen, wie weit deren Ermittlungen gediehen sind. Geert Mennchen hat außerdem noch weitere potenziell als Täter in Frage kommende Gruppierungen genannt. Die würde ich auch durchleuchten.«
»Gut«, entschied Nathusius. »Wir behalten mit unseren Möglichkeiten die Gefährder im Auge. Für mich schält sich noch niemand als primär Verdächtiger heraus.«
Lüder zog sich in sein Büro zurück und nahm Kontakt zu Hauptkommissar Vollmers auf.
»Ich dachte schon, der Fall interessiert Sie nicht«, sagte der Kieler mit leicht brummiger Stimme. »Sonst sind Sie doch nahezu nervig am Ball.«
»Ich war nicht untätig, sondern habe den Sonnenhof besucht.« Lüder erzählte von seiner Begegnung mit Michalski.
»Es ist sicher richtig, diese Leute mit ins Visier zu nehmen«, sagte Vollmers. »Aber für mich fehlt ihnen das drängende Motiv. Die politischen Ideen, die von dort ausgehen, klingen fragwürdig. Tatsache ist aber, dass man noch nie zu direkter Gewalt aufgerufen hat, auch wenn ich der Meinung bin, dass Julian Wiesner einem politisch motivierten Mord zum Opfer gefallen ist. Der Leiter des Verfassungsschutzes und Nils Gödeke –«
»Der ist Referatsleiter im Innenministerium für …«
»Personal«, half Vollmers aus. »Die beiden sind nach Pronstorf zur Familie Wiesners gefahren. Das war sicher kein leichter Gang. Ich habe gehört, dass sich vor dem Haus einige Pressevertreter aufgehalten haben, die ›die Stimmung einfangen‹ wollten.«
»Wie weit sind Sie mit Ihren Ermittlungen?«, wollte Lüder wissen.
»Wir haben versucht, Wiesners letzte Stunden zu rekonstruieren. Am Dienstagvormittag wurde er von dem Ehepaar mit dem Wohnmobil entdeckt. Wir haben bisher keine anderen Zeugen ausfindig machen können, die den Platz, der die Mitte Schleswig-Holsteins darstellt, an diesem Tag aufgesucht haben. Karl und Rita Diehm waren die Ersten. Nebenbei angemerkt: Sie sind später noch einmal mit der Polizei in Kontakt gekommen. Man musste sie sprichwörtlich aus dem Verkehr ziehen, nachdem sie mit Entspannungsmedizin abgefüllt, wie sie es nannten, ihre Reise fortsetzen wollten. Sie sollen dabei fürchterlich geflucht haben, dass sie die nächste Leiche, die sie finden werden, nicht melden würden. Also! Zurück zum Fall. Die letzten Besucher vor den Diehms müssen die Täter gewesen sein. Leider hat die Spurensicherung nichts Verwertbares gefunden. Es gab Reifenspuren am Fundort. Aufgrund der Verletzungen, die Wiesner beigebracht wurden, muss der Tatort ein anderer gewesen sein. Das bestärkt uns in der Vermutung, dass die Art der Präsentation des Leichnams Symbolcharakter hat. Damit wird eine bestimmte Aussage gemacht.«
Lüder stimmte Vollmers zu.
»Wir konnten rekonstruieren, dass Wiesner Montag früh ins Amt gefahren ist. Dort hat er sich bis zum Nachmittag aufgehalten. Er hat auch zur Mittagszeit das Ministerium nicht verlassen. Gegen halb drei ist er aufgebrochen. Man weiß nur, dass er noch ein dienstliches Gespräch mit einer Kontaktperson führen wollte.«
»Mann oder Frau?«, wollte Lüder wissen.
»Im Zeitalter des Genderwahns bleibt diese Frage offen«, sagte Vollmers gereizt. »Frau Wiesner war informiert, dass ihr Mann noch einen auswärtigen Termin geplant hatte. Es hat sie auch nicht überrascht, dass er abends nicht nach Hause gekommen ist. Das kam gelegentlich vor. Wenn es sich einrichten ließ, telefonierte er von unterwegs mit seiner Familie. Das ist am Montag nicht erfolgt. Mehr wissen wir nicht. Die Auswertung von Wiesners Kontaktdaten auf den Handys läuft noch. Wir bemühen uns weiter, aber derzeit sieht es nicht gut aus. Die Chance, weitere Zeugen zu finden, ist allerdings nicht sehr groß.«
Sie verabredeten, weiter in Kontakt zu bleiben.
Lüders Handy vibrierte. Er sah auf das Display und nahm das Gespräch an.
»Moin. Der Leichenschänder. Schön, von Ihnen zu hören.«
Es war zwei Sekunden still in der Leitung, bevor Dr. Diether antwortete: »Können Sie als Jurist sich eigentlich selbst wegen Rufschädigung verklagen? Ich mache hier das, was ich sonst nur mit meinen Kunden mache: Ich reiße mir ein Bein aus und nutze eine Atempause, um Sie schlau zu machen. Und das ist der Dank. Sie sind doch nichts weiter als ein Kellinghusener Kleinstadt-Bond. Würde man Sie kennen, würden die Leute von Ihnen sagen: ›Geschlürft und nicht getrunken‹. Leider ist es weniger lustig, was man dem Mann vom Verfassungsschutz eingeflößt hat.«
»Eingeflößt?«, fragte Lüder.
»Ja. Das war teuflisch. Dass Wiesner ermordet wurde, ist ja schon bekannt. Ich habe schon viel gesehen und erlebt, aber in diesem Fall ist man mit besonderer Brutalität vorgegangen. Die massiven Verletzungen an Zunge, Ohren und Nase wurden präletal zugefügt.«
»Oh verdammt. Wiesner hat noch gelebt?«
Die Stimme des Rechtsmediziners klang belegt. »Wenn man es leben nennen kann. Sagt Ihnen KCI – das Kaliumsalz der Salzsäure – etwas?«
»Sie meinen Kaliumchlorid?«
Dr. Diether bestätigte es. »Es wird technisch in großem Rahmen zur Herstellung von Kalidünger eingesetzt. Die farblosen und wasserlöslichen Kristalle schmecken salzig-bitter. Aber zunächst zur äußeren Inaugenscheinnahme des Leichnams. Wiesner wurde von vermutlich mehreren Personen, es könnten zwei gewesen sein, niedergedrückt. Davon zeugen Spuren an den Oberarmen und Oberschenkeln. Er muss sich gewehrt haben.«
»Julian Wiesner war ein Kopfarbeiter, Beamter. Er hatte keine Ähnlichkeit mit prügelnden Rambos aus drittklassigen Agentenfilmen.«
»Man hat ihm eine Handfesselung angelegt, vermutlich mit Einmalfesseln, wie sie auch die Polizei anwendet.«
»Fremdspuren?«, wollte Lüder wissen.
»Die Auswertung ist noch nicht abgeschlossen. Vermutlich werden wir etwas finden. Ich schließe das bei der Behandlung des Opfers nicht aus. Nachdem der Widerstand Wiesners gebrochen war, hat man ihm einen Zugang gelegt. In der Vene am linken Ellenbogen. Eine klassische Stelle. Der Zugang wurde aber vor dem Auffinden wieder entfernt.«
»Kann das jeder?«, fragte Lüder.
»Nicht jeder. Juristen halte ich dafür zum Beispiel für ungeeignet. In diesem Fall war es aber … nun ja … nicht schlecht.«
»Ein Arzt?«, wollte Lüder wissen.
»Nicht unbedingt. In der Praxis ist medizinisches Personal oft geübter in solchen Dingen, weil sie es häufiger machen. Wenn Sie den Täter suchen, dann halten Sie nach einem Krankenpfleger oder einem Arzt Ausschau. Oder nach einem Veterinär oder Scharfrichter.«
»Maskulin?«
»Sorry. Ich vergaß, dass wir ja im Zeitalter der Gleichberechtigung leben. Legen Sie die Frauenquote für diesen Fall aber selbst fest.«
»Was hat es mit dem Veterinär oder dem Scharfrichter auf sich?«
»Wir sprechen von einer hohen Dosis injizierten Kaliumchlorids, die hier verwendet wurde. Sie führt zu einer Hyperkaliämie und Herzstillstand und wird zum Einschläfern von Tieren verwendet, aber auch zur Verhinderung von Lebendgeburten bei späteren Schwangerschaftsabbrüchen. Man benutzt es auch als kardioplegische Lösung zum Einleiten des Herzstillstands bei einer Operation mit der Herz-Lungen-Maschine.«
»Das klingt sehr teuflisch.«
»Das ist es auch.«
»Was hat es mit dem Scharfrichter auf sich?«
»Der Henker setzt es mittels der Giftspritze ein, wenn er ein Todesurteil vollstreckt. Der Delinquent bekommt – laienhaft ausgedrückt – fürchterliches Herzrasen. Das geht mit grauenhafter Todesangst einher. Es ist ein unbeschreibliches Martyrium.«
»Warum wählt man eine solche Art, um jemanden zu ermorden?«, überlegte Lüder laut. »Ist das Symbolik? Soll dort ein Verfassungsschützer auf eine Art und Weise hingerichtet werden, die sonst nur von Staatsorganen ausgeübt wird?«
Dr. Diether überlegte eine Weile. »Das ist ein guter Ansatz«, stimmte er zu. »Dem steht aber entgegen, dass eine Vergiftung mit Kaliumchlorid nur schwer nachzuweisen ist, weil der natürliche Spiegel nach dem Tod durch Zellzerfall schnell ansteigt. Meistens liegt bei einer Kaliumchloridvergiftung ein ärztlicher Behandlungsfehler vor.«
»Und wie haben Sie es herausgefunden?«
»Bedanken Sie sich bei Daniel …«
»Sie meinen unseren Ministerpräsidenten?«
»Ja. Man hat uns in Schleswig-Holstein modernste Analysemöglichkeiten geschaffen. Wie gesagt – Kaliumchlorid gehört zu den am schwersten nachzuweisenden Giften in der Rechtsmedizin. Spektroskopisch gelingt der Nachweis der Elemente mittels Atomabsorptionsspektroskopie.«
»Puuuh«, sagte Lüder und ließ es anerkennend klingen. »Wenn Sie es künftig nicht gegen mich verwenden … Großes Kompliment an Sie und alle Forensiker.«
Dr. Diether lachte verhalten auf. »Es muss ja Menschen geben, die etwas Sinnvolles tun. Klempner zum Beispiel. Oder Rechtsmediziner. Im Unterschied zu Juristen.«
Es folgte noch ein kurzes weiteres Geplänkel, bis sie das Gespräch beendeten.
Lüder sah auf die Uhr. Es war spät geworden. Dr. Diether war ein merkwürdiger Kauz. Wer ihn und seine gewöhnungsbedürftige Art nicht kannte, mochte irritiert sein. Mit Sicherheit war er ein engagierter und hochkompetenter Rechtsmediziner.
Lüder beschloss, nach Hause zu fahren. Dort wartete Margit auf ihn.
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