Intertextualität und Parodie in Ovids Remedia amoris

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Sieht man von den spärlichen theoretischen Zeugnissen ab, kann man jedoch durch konkrete Textarbeit an didaktischen Werken ‚implizite Poetiken‘ herausarbeiten.41 Denn diese weisen, wie Volk zeigt, gemeinsame, für die Gattung Lehrgedicht als konstitutiv zu betrachtende Merkmale auf – „(1) explicit didactic intent; (2) teacher-student constellation; (3) poetic self-consciousness; and (4) poetic simultaneity“.42 Dass sich das didaktische Genre sukzessive aus einem „didactic mode“ heraus entwickelt hat43 und von Hesiod und Empedokles bis hin zu Manilius ein offensichtlich immer konkreteres Gefüge aus didaktischen Bausteinen aufzuweisen beginnt, bestätigt den von Suerbaum beschriebenen Intertextualitätsprozess einer Gattungsgenese im Allgemeinen. Im weiteren Sinne intertextuelle Prozesse spielten demnach auch für das Lehrgedicht als Genre eine wichtige Rolle.
Hier soll Intertextualität aber nicht zur Erklärung der Gattungsgenese eingesetzt werden, sondern zur Untersuchung, welchen Einfluss Gattungssysteme – auch in der Konkretisierung durch bestimmte Textkorpora – und Einzeltexte auf die Remedia amoris haben. Bevor ich meinen Arbeitsbegriff von Intertextualität konturiere, ergänze ich meine Ausführungen noch um die zentralen Ergebnisse der aufschlussreichen Studien von Hinds (1998) und Edmunds (2001), da sie ihre Ausführungen mit lateinischen Textstellen illustrieren und sich kritisch-reflektiert mit intertextuellen Theorien klassischer Philologen (etwa Barchiesis, Contes, Farrells, Thomas’) auseinandersetzen.44
Bei Hinds und Edmunds bilden zwei Themenbereiche einen Schwerpunkt, die Edmunds als die zwei grundlegenden Probleme der Intertextualitätsdiskurse sieht: Diese betreffen sowohl die Frage nach der Autorintentionalität – von Hinds als „fundamentalism“45 bezeichnet – und die Frage nach dem Status des Textes an sich als auch die Rolle, welche der Leser für die Konstitution des Textes spielt.46 Hinds versucht, was ihn mit Pfister vergleichbar macht, einen Mittelweg zu finden, der zwischen dem vielen Lesern intrinsischen Verlangen danach, vom Autor bewusst gesetzte Anspielungen zu entdecken, und einem weiten Begriff der Intertextualität zu verorten ist; letzterer besteht in einer Annäherung an den Bereich der „zero-interpretability“47, der praktisch aber kaum vorhanden sei48 und das Feld für weitere Beobachtungen zu bisher vernachlässigten Anspielungen öffne.49 Aus einer Erweiterung der Bezugstexte ergibt sich aber die Problematik, die darin besteht, dass die Unterscheidung von allusion, quasi ‚Einzeltextreferenzen‘, und Topoi, die eine „intertextual tradition as a collectivity“50 hervorrufen (Hinds bezieht sich auf Contes Gegenüberstellung von modello-esemplare und modello-codice),51 zwangsläufig verschwimmt.52 Hinds zeigt jedoch, dass ein Topos und eine Anspielung auf einen konkreten Text gleichzeitig möglich sein können53 – eine Beobachtung, die auch für Ovids intertextuelles Vorgehen zutreffend ist. So ruft Ovid bei seinen Hinweisen darauf, dass langes klagendes Sprechen über die Geliebte und mangelndes Schweigen zu vermeiden sei (siehe meine Ausführungen in Kapitel 4.3.2.4), den Topos „that an angry tongue is a proof of love“54 auf. Gleichzeitig spielt er aber in einer Allusion, einer markierten Einzeltextreferenz, auch auf Catull. 83 und 92 an, in denen die Verbindung aus dicere, tacere und mangelnder emotionaler Indifferenz paradigmatisch repräsentiert wird. Letztlich verbindet Hinds eine die Autorsubjektivität (und die Ausrichtung auf einen impliziten Leser) berücksichtigende mit der für ihn zentralen leserorientierten Perspektive, bei der durch den Akt der Rezeption erst die Bedeutung des Textes konstituiert wird.55 Für die Analyse der Remedia ist der auf den Leser ausgerichtete Ansatz beispielsweise insofern wichtig und anwendbar, als Ovid durch die intentional primär-naive Lesart der Lesbia- und Juventius-Zyklen die instabile Haltung der Catull’schen Persona sichtbar macht. In der Art, mit der diese Figur zu einem Negativbeispiel für die Schüler der Remedia wird, verleiht Ovid dem Intertext der Carmina somit neue Bedeutung.
Noch stärker auf den Leser ist Edmunds fixiert, der in ihm die Intertextualität überhaupt erst lokalisiert:56 Intertextuelle Anspielungen würden erst beim Lesen erschaffen, ohne dass sie vorher ‚a priori‘ bestünden oder eine „linguistische oder semiotische Basis“ hätten“57; es gebe also auch keine im Text zu lokalisierenden Marker.58 Auch wenn Edmunds grundsätzliche Autorintentionen, besonders in lateinischer Dichtung, nicht verneint, problematisiert er die Sicht, Anspielungen auf die Dichterfigur zurückzuführen.59 Vielmehr werde Intertextualität durch den Sprecher bzw. die Persona eines Gedichts „aktiviert“, und zwar im Leser selbst.60 Das Problem, das sein leserbasierter Ansatz mit sich bringt – so führe es zu Unsicherheit bei der Bestimmung intertextueller Bezüge –, löst Edmunds dadurch, dass er die Entscheidungshoheit über die „validity of a reading“ bei der zuständigen, kritischen „interpretive community“, bei lateinischer Dichtung den klassischen Philologen, sieht.61 Obwohl ich die Rolle des Lesers z. B. für die genannte Catullrezeption ebenfalls als wichtig erachte, erscheint mir Edmunds’ Position teils zu extrem. Denn die Referenz Ovids manifestiert sich deutlich in lexikalisch markierten Anspielungen, die zugleich einen überprüfbaren Beleg für den intertextuellen Bezug darstellen.
Edmunds’ Definition von Intertextualität besteht darin, dass sich in einem target text (T1) quotations62 (Q1, mit Q2 als Quelle) von Wörtern eines source text (T2) finden, wodurch der context des quoted text (C2) einen neuen context (C1) erhält.63 Es gebe drei Arten, auf die eine quotation (Q1) den Kontext des ursprünglichen Textes (C2) hervorrufen könne: Durch die Erweiterung des Kontextes in C1, durch eine „continuous relation between C1 and C2“ und durch Parodie, „in which T1 repeats or closely follows a particular T2“.64 In dieser Hinsicht ist Edmunds für meine Untersuchung wesentlich, da Parodie als intertextuelles Phänomen für Ovids Umgang mit Lukrez, Horaz und Catull in seinen Remedia amoris zentral ist.
Die moderne Intertextualitätstheorie ist jedoch nicht der einzige literaturtheoretische Rahmen für die Textarbeit. Da für die Beschreibung der Beziehung eines Textes zu Prätexten, auch für die Bezugnahme späterer Autoren auf Werke ihrer Vorgänger (etwa in der „Sukzessionsreihe Ennius – Lukrez – Vergil – Ovid – Lukan – Statius“)65 bereits Begriffe wie Imitation, Anspielung, Adaption und aemulatio etabliert sind,66 muss nach dem spezifischen Nutzen der Intertextualitätsforschung, die grundsätzlich mit diesen traditionellen philologischen Analyseinstrumentarien vereinbar ist, gefragt werden.67 Ihr Vorteil besteht nun darin, dass bestimmte Assoziationen mit den aus der antiken Rhetorik und Poetik überlieferten und angewandten68 Termini imitatio und aemulatio keine Gültigkeit haben. Denn sie implizieren in der Rezeption durch moderne Literaturkritik oft eine als vorbildlich geltende Textvorlage und können dazu führen, dass man literarische „Nachahmer“ tendentiell zu „Epigonen“69 herabsetzt, während bei der Intertextualitätsforschung verstärkt die Selbstständigkeit der Textproduktion und ihre neue Interpretation der bestehenden literarischen Tradition akzentuiert und untersucht werden.70 Dabei sollte man aber nicht vergessen, dass sich aus antiker Sicht Originalität und die formale und stoffliche Nachahmung mit folgender ‚nacheifernder Überbietung‘, die auf eine bewusst eigene Leistung verweist,71 nicht ausschließen.72 Römische Literaturproduktion fußte auch im Selbstverständnis der Zeit auf der „kreative[n] m[imesis] (imitatio) der Autoren“, bei der „schöpfendes Nacheifern […] bis zum Wettstreit gesteigert wird (aemulatio).“73 Die explizit in der Antike reflektierten Begriffe imitatio und aemulatio sind also insofern nicht zu übergehen, als sie fundamentale intertextuelle Phänomene beschreiben.74 Der modernere Begriff der Intertextualität denotiert dabei die Bezugnahme eines Textes auf einen anderen, oder sogar den Dialog, in den ein Text mit einem zweiten treten kann. Imitatio und aemulatio bezeichnen die konkreten Formen dieser Referenzen, etwa die (überbietende) Nachahmung einzelner Worte, Motive, Topoi, Strukturen etc.75 Die Ergänzung und Erweiterung der antiken Termini mit dem neueren literaturkritischen Begriff bringt – neben der grundsätzlichen ‚Offenheit‘ der Intertextualitätsforschung – zusätzlich den Vorteil, dass parodietheoretische Überlegungen in diese Forschungsperspektive eingegliedert werden können. Eine Arbeitsdefinition von Parodie ist meinen Ausführungen deshalb vorangestellt.
3.2 Parodie in der Antike und der modernen Literaturkritik
Als ‚neuere‘ und zugleich grundlegende Untersuchung parodistischer Verfahrensweisen kann Roses Monographie (1993) gelten, da Rose in ihrer diachronen Betrachtungsweise, die Texte und Konzepte von der Antike bis zur Gegenwart umfasst, die spezifische, historische Verankerung antiker Texte berücksichtigt.1 Die von ihr vorgeschlagene Begriffsbestimmung sei aber ergänzend mit den Parodiedefinitionen von Verweyen/Witting und Stocker abgeglichen, wobei ich vorab auf die grundsätzliche Übereinstimmung der Forscher hinweisen möchte.
Rose definiert Parodie allgemeingültig als „the comic refunctioning of preformed linguistic or artistic material“2, was sich auch mit den Ausführungen bei Verweyen/Witting deckt. Ihnen zufolge werden „charakteristische Merkmale eines Stils übernommen […], [damit] die jeweils gewählte(n) Vorlage(n) durch Komisierungsstrategien wie Unterfüllung und/oder Überfüllung herab[gesetzt werden]“3. Der Aspekt der Komik findet in Aussagen zeitgenössischer antiker Kritiker oder Scholiasten Bestätigung, da diese darauf hindeuten, dass parodistischen Texten grundsätzlich komische Effekte zugesprochen wurden und dass ‚schärfere‘ Formen des Humors wie „ridicule or mockery“ nur als Zusatzcharakteristika spezifischer Einzeltexte wahrgenommen worden seien.4 Der zweite Aspekt, die Umwandlung bestehenden sprachlichen Materials, beschreibt das Verhältnis des parodierenden Textes zu seinem Ausgangs- bzw. Zieltext, der quasi per definitionem Teil der Parodie und eng mit dieser verbunden ist.5 Dabei entstehe eine „comic incongruity“ zwischen Parodie und Original, wobei ein grundsätzlich ambivalentes Verhältnis zur Vorlage – Wertschätzung/Achtung des Ausgangstextes und gleichzeitig parodierende Erneuerung – zu erkennen sei, das je individuell von Kritik, von Sympathie oder kreativer Erweiterung geprägt sein könne.6 Wichtig ist Rose zufolge – worin ich ihr auch zustimme –, dass die Herabsetzung des parodierten Textes keineswegs als Prämisse für die Bezeichnung eines Textes als Parodie zu gelten habe. Damit verweist Rose auf moderne Reduktionen des Begriffs, denen zufolge Parodie in negativer Manier ein Typus des Burlesken sei, der destruktiven Charakter habe und mit Spott angereichert sei7 – also auf Verkürzungen, die in der Mehrdeutigkeit der Präposition παρά begründet liegen. Denn je nachdem, ob man παρά mit „nach dem Vorbild von“ oder „wider, im Gegensatz zu“ übersetzt, verschiebt sich die Bedeutung des terminus technicus, wie Verweyen/Witting betonen.8
Als Beispiel für die Verengung des Begriffs auf ein polemisches Verhältnis zwischen Parodie und Ausgangstext nennt Rose vor allem Michael Bachtin in dessen Fortführung von Ansätzen russischer Formalisten, die aufgrund ihrer Prominenz in (post-)moderner Rede über Parodie hier zumindest kurz zu berücksichtigen sind:9 Erachte Viktor Šklovskij die Parodie in einer „formalistischen Reduktion“ zunächst als „Verfremdungseffekt für das Aufdecken“10 künstlerischer Verfahrensweisen,11 trenne Jurij Tynjanov, radikaler als sein Vorgänger, das Element der Komik ganz vom Wesen der Parodie.12 Darüber hinaus bestimme er als „the very essence of parody […] its dual planes“, also die Ambiguität, die darin besteht, dass die Parodie den Zieltext schätzen und ihn gleichzeitig parodieren könne.13 Michail Bachtin wiederum beschreibt einen formalistischen und einen karnevalistischen Parodiebegriff, wobei er für ersteren komische Elemente nicht einmal erwähnt und hinter dem zweistimmigen Sprechen, wie man es in Stilisierung und Parodie finde,14 eine feindselige Haltung dem parodierten Text gegenüber sieht;15 zweiteren reduziert er, trotz der Berücksichtigung von Komik, auf das Burleske und Groteske.16 Neben der Fokussierung auf den Aspekt der Feindseligkeit und Destruktivität dem „target“-Text gegenüber – als Abbild der weitestgehend negativen modernen Perspektive auf die Parodie – ist im Hinblick auf Bachtin und die Formalisten, wie Rose treffend herausarbeitet, vor allem problematisch, dass sie den Status des parodierten Textes, der ja wegen der oben genannten Doppelstruktur der Parodie erhalten bleibt und notwendigerweise Teil der Parodie wird, nicht hinreichend berücksichtigten.17 Eben diese Einbeziehung des Ursprungstextes in die Parodie und die Frage nach dem spezifischen ‚Tonfall‘, der den Umgang mit dem Prätext charakterisiert, sind aber die Kriterien, die bei der bewussten Anspielung Ovids auf seinen literarischen Vorgänger mit im Zentrum stehen.
In diesem Punkt zeigt sich also die Verbindung parodie- und intertextualitätstheoretischer Diskurse:
Die literarische Parodie kann als ‚intertextuell‘ beschrieben werden; sie ist jedoch mehr als Intertextualität, weil sie die Nachahmung anderer Texte dazu benutzt, aus einer älteren zitierten oder nachgeahmten Vorlage und ihren veralteten Traditionen einen neuen – von dem nachgeahmten Werk differenzierten – Text durch die komische Umfunktionierung des alten Werkes zu schaffen.18
Parodie sei, so Rose weiter, wegen der „komische[n] Umfunktionierung“ vorgegebenen Textmaterials, als eine ‚Spezialform‘ der Intertextualität zu betrachten.19 Entsprechend definiert auch Stocker Parodie „im engen Sinn [als] eine spezifische literarische Schreibweise, die im wesentlichen durch zwei Merkmale gekennzeichnet ist: Sie ist (a) intertextuell auf eine Vorlage bezogen und (b) komisch.“20
Die Erkenntnis zum Zusammenhang zwischen Parodie und Komik einerseits und dialogischen Intertextualitätsphänomenen andererseits kann wiederum auf antike Überlegungen rückbezogen werden. Quintilian äußert sich im sechsten und im neunten Buch seiner institutio oratoria zur Parodie und führt zwei Begriffsbestimmungen und Einsatzmöglichkeiten von Parodie an: erstens im Kontext seiner Abhandlung zu Komik, Witz (urbanitas), welcher durch Umdichtung bzw. Umwandlung eines bekannten Verses entsteht, und Lachen in der Rede (inst. 6, 3); zweitens unter den Stilfiguren im Rahmen der elocutio (inst. 9, 2). Dabei wird das Phänomen der Parodie einmal umschrieben mit: seu ficti notis uersibus similes quae παρῳδία dicitur (inst. 6, 3, 97).21 Hier geht es also um den den Bezug auf vorgegebenes Wortmaterial. In inst. 9, 2 schreibt Quintilian zudem:
incipit esse quodam modo παρῳδή, quod nomen ductum a canticis ad aliorum similitudinem modulatis abusiue etiam in uersificationis ac sermonum imitatione seruatur (inst. 9, 2, 35).
Der Terminus wird also aus seiner ursprünglich engeren Anwendung auf das Epos, wie ihn Aristoteles für die Homerparodien des Hegemon oder Nikochares22 gebrauchte, und als Begriff für Rhapsoden in den Bereich der Prosa übertragen.23 Auch wenn der antike Rhetoriker nicht von ‚Intertextualität‘ spricht, beschreibt er dieses Phänomen doch im Wesentlichen. Die Themen Prosopopöie und fiktiver Dialog stellen dabei den Rahmen dar, in dem Quintilian die letztgenannte Äußerung zur Parodie tätigt.24 Und der Dialog eines Textes mit einem anderen und die Umfunktionierung bereits existierenden textuellen Materials, die Verbindung beider quintilianischer Parodieaspekte, kann schließlich mit dem modernen Begriff der Literaturkritik gleichgesetzt werden.
Das Ziel dieses Methodenkapitels ist die Etablierung eines für die Textarbeit ‚antike-kompatiblen‘ Arbeitsbegriffs von Intertextualität und Parodie. Die Verbindung zwischen beiden Phänomenen hervorzuheben und auch den Aspekt der Komik, der im antiken Verständnis des Begriffes fußt, zu exponieren, ist deshalb ein zentrales Anliegen. Ich denke, dass man bei der Analyse parodistischer Effekte die Suche nach einem gewissen intentionalen, absichtsvollen Moment, das beim Verfassen vorhanden war, nicht vermeiden kann.25 Den Aspekt der Autorintention für Intertextualitätsstudien zu nutzen, ist aber, wie Hinds und Edmunds demonstriert haben, äußerst problematisch. Ich beabsichtige auch nicht, einen forschungsgeschichtlichen Rückschritt zu machen und einer letztlich unerfüllbaren Suche nach der Absicht des Verfassers das Wort zu reden. Auch ich nehme in dieser Arbeit die Rolle des Lesers ein, der bei der Lektüre versucht, intertextuelle Referenzen wahrzunehmen, und diese beim Lektüreakt möglicherweise erst konstituiert. Das von Edmunds relativierte Problem der analytischen Beliebigkeit erachte ich jedoch als nicht unwichtig. Ich denke, dass eine die Grundkonzeption der antiken Remedia adäquat würdigende Analyse auch beachten sollte, welche Referenzen auf literarische Vorgänger durchaus bewusst von der ovidischen Dichter-Persona (Edmunds Kategorie „poet as persona“26 scheint mir hier am besten zu passen) im Text angelegt wurden und welche Entdeckungen vom antiken Leser erwartet und entschlüsselt werden konnten; eine Berücksichtigung der zeitgenössischen Produktions- und Rezeptionssituation sollte man nicht gänzlich übergehen. Damit beachte ich Pfisters Kommunikativitätsaspekt, den ich auch in Contes Definition des ‚reader-addressee‘, der als antizipierter Leser Teil des Textes ist, gespiegelt sehe.27 Dass nicht alles, was möglicherweise ‚intendiert‘ war, entdeckt wird und dass aber auch Erkenntnisse, die erst im modernen Rezeptionsakt gewonnen werden und deren Entstehung nicht beabsichtigt ist, vom Text unterstützt und im Leser bei der Rezeption aktiviert werden, sind dabei natürliche Konsequenzen und gleichermaßen mögliche Fälle von Intertextualität.
Das Intertextualitätskonzept, das ich aus der bestehenden Forschung gewinne, lässt sich folgendermaßen konturieren: So erachte ich die wörtlichen, paraphrasierten oder kontextuellen und konzeptuellen Referenzen auf Einzeltexte und auch auf Systeme (etwa Gattungen, Untergattungen, bestimmte Topoi etc.), die aufgrund von metapoetischen Reflexionen, Zitaten, ‚Pointiertheit‘ o. ä. markiert sind und so legitim als intertextuelle Referenz interpretiert werden können, als grundlegend für intertextuelle Bezugnahmen. Dabei ist aber auch die Wahrnehmung durch den Leser entscheidend.
Wenngleich ich somit keinen eigenen Intertextualitätsbegriff entwickle, leiste ich mit dem von mir entwickelten Modell einen eigenen Beitrag zur Analyse intertextueller Bezüge: Die ‚Pyramidenstruktur der Intertextualität‘ repräsentiert ausgehend von einem fokussierten Text die systematische intertextuelle Bezugnahme auf mehrere Texte und Gattungen. Dabei handelt es sich um ein Visualisierungsmodell, dessen Vorteil darin liegt, dass es eine funktional perspektivierte hierarchische Struktur bei der Intertextualitätsanalyse veranschaulicht. Grundsätzlich hat es zudem das Potenzial, nicht nur für die Untersuchung der Remedia amoris, sondern auch für andere Intertextualitätsstudien eingesetzt zu werden.
3.3 Ein Visualisierungsmodell: Die Pyramidenstruktur der Intertextualität
In der klassischen Philologie finden sich verschiedene Termini, mit denen ‚Intertextualitätsgefüge‘ abstrahiert beschrieben werden. So ist in der anglophonen Forschung des Öfteren von einer „window reference“ die Rede, wenn ein Text A, vermittelt durch einen auf Text C anspielenden Text B, auf C rekurriert1 – was für die Fälle, in denen es um die diachron-mehrstufige Rückführung zu einem Ursprungstext geht, hilfreich ist. Janka (2013) analysiert wiederum, als Erweiterung eines häufig zu findenden „binären [Modells] zum triangulären Modell“2 „Dreiecksbeziehungen zwischen Texten“3 und spricht so von „Intertextualitätsdreiecken“4. Ich erachte dieses Bild und den damit einhergehenden Rückgriff auf geometrische Metaphorik als grundsätzlich hilfreich für Untersuchungen, wenn ein Text gleichzeitig auf zwei Intertexte rekurriert oder aber Vorbild für zwei andere Texte darstellt und drei Texte miteinander „in einen vielschichtigen Dialog treten“5. Doch werden meiner Meinung nach dabei hierarchische Strukturen im Intertextualitätsgefüge, die im Gespräch über Intertextualität dadurch entstehen können, dass man einen Text zur Beobachtungsgrundlage erklärt und von dort ausgehend die Beziehung zu anderen Prätexten untersucht, teils missachtet. Zudem wird die Referentialität auf eine Dreieckskonstellation beschränkt, was in Einzelfällen zutreffend sein mag, dem komplexen Intertextualitätsgefüge besonders von Ovids Texten jedoch oft nicht gerecht wird.
Ich schlage daher vor, eine andere geometrische Figur als anschauliches Modell für „Text-Text-“ und „Text-Gattungs-Beziehungen“6 zu verwenden: die Pyramide, deren Grundfläche ein Polygon darstellt. An ihrer Spitze steht der Text, der sich im Zentrum der Analyse befindet, in diesem Fall Ovids Remedia amoris. Die Grundfläche in Form eines veränderbaren Polygons ist Teil der Ebene, auf der die in der zeitlichen Chronologie vorausgehenden Intertexte anzuordnen sind; diese stellen die Eckpunkte dar. Die Kanten, welche die Spitze mit den Eckpunkten des Polygons verbinden, symbolisieren die Verbindungen, welche die Remedia mit anderen Texten eingehen, d. h. den intertextuellen Verweis; Pfeile sollen dabei die Richtung der Bezugnahme kennzeichnen.7 Diese gehen grundsätzlich von der Spitze aus und ‚treffen auf‘ die Eckpunkte, da eine solche Beziehung aktiv und bewusst hergestellt ist. Doch auch auf der Grundebene können sich diese Pfeile finden, wenn etwa ein Intertext der Remedia amoris wiederum selbst in einer intertextuellen Beziehung zu einem anderen Text steht. Die bereits erwähnten, ja durchaus möglichen, Dreiecksbeziehungen lassen sich weiterhin darstellen, allerdings durch die Höhenstruktur hierarchisch geformt. Anschaulich gesprochen konstituieren sie eine der Seiten- und Schnittflächen8 der Pyramide (siehe das allgemeine Strukturmodell in Abbildung 1). Die Entstehung dieser Flächen führt mich zur zweiten Form der Intertextualität: Ging es bisher um die Visualisierung von Einzeltextreferenzen, lassen sich durch diese Flächen Systemreferenzen darstellen, nämlich dann, wenn alle an der Flächenkonstituierung beteiligten ‚Punkte‘/Texte dieselbe literarische Gattung vertreten. Es öffnet sich dadurch sozusagen das Gattungsfeld bzw. eine Gattungsebene, die zwischen diesen Punkten aufgespannt ist.9 Eine solche Vorstellung entspricht der Sicht auf literarische Gattungen vor allem dann, wenn man davon ausgeht, dass die Entstehung von Genres nicht, oder auch nicht nur, aus der präskriptiven Festsetzung eines Regelsets an Gattungselementen besteht, sondern dass sich Gattungen durch Fortentwicklungen bestehender Motive und intertextuelle Bezugnahmen im Lauf der Zeit konstituieren.10 Aussagen zu Gattungen möchte ich aber nicht auf diese Flächen beschränken, da es möglich ist, dass etwa in einzelnen satirischen Texten didaktische Gattungselemente integriert sind und auf produktive Weise verhandelt werden (z. B. in Hor. sat. 1, 2) oder ein Text allein schon Vertreter einer Gattung sein kann. Als Beispiel sei kurz Ovids Bezug auf jambische Traditionen genannt. In den Remedia amoris finden sich etwa unterschiedliche, teils gleichzeitige, Bezüge auf sowohl Catull als auch Horaz, also auf zentrale Repräsentanten dieser Gattung – wobei Horaz wiederum selbst auf den Jambiker Catull rekurriert (siehe das markierte Dreieck zur Beziehung zwischen Catull, den Epoden und den Remedia in Abbildung 2).11 Hier lässt sich sowohl die Beziehung zu den Einzeltexten untersuchen als auch der Frage nachgehen, welchen Anteil die Remedia an der jambischen Gattung, die durch diese lateinischen Dichter vermittelt wird und dabei weiterhin auf griechischen Traditionen fußt, haben.
Die Eckzahl der Grundfläche ist grundsätzlich variabel und je nach Zahl der Intertexte bzw. Autoren beliebig erweiterbar. Bei der Betrachtung eines so anspielungsreichen Textes wie der Remedia hat diese Flexibilität der dreidimensionalen Figur den Vorteil, dass sich alle Bezüge gleichzeitig abbilden lassen und das Modell nicht darauf beschränkt ist, nur die Referenzen auf einen oder zwei weitere Texte und Gattungen zu visualisieren. Gibt es etwa eine Beziehung zwischen vier Texten, beispielsweise zwischen Vergils Georgica, Lukrez’ De rerum natura, Ovids Ars amatoria und den Remedia amoris im Fall der ‚Sex-praecepta‘ (vgl. rem. 357–360 und 397–418),12 lassen sich die drei entstehenden Dreiecksflächen zu einem Vieleck verbinden, wobei jede der Kanten eine intertextuelle Beziehung, auch zwischen den einzelnen ovidischen Prätexten, bezeichnen kann, aber nicht muss (siehe die markierten Flächen in Abbildung 3). Geht man von einer Beziehung zwischen vier Texten aus, ergeben die aneinandergefügten Dreiecke ein Fünfeck, wenn man diese Figuren aus der dreidimensionalen Pyramide in die zweidimensionale Ebene überführt und alle Bezugskanten gleichzeitig darstellen möchte (siehe das Intertextualitätsvieleck in Abbildung 4). Um beim genannten Beispiel zu bleiben: Auch wenn ich die Remedia als wichtigsten Bezugspunkt im Hierarchiesystem betrachte, ist bei diesem Modell zu bedenken, dass die Ars ebenfalls auf die Georgica-Stelle und Lukrez anspielt. Das heißt, man muss den Lukrez-Punkt an einer imaginären vertikalen Symmetrieachse, auf der die Remedia liegen, spiegeln, damit man in demselben Vieleck auch das Dreieck Remedia amoris – Ars amatoria – De rerum natura visualisieren und die Ars sowohl mit dem vergilischen als auch dem lukrezischen Intertext verbinden kann.13