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Sofort schob Helger den immer noch bestürzten Mönch und seine beiden Begleiter vor sich her aus der Halle und führte sie zu seiner Hütte.
Erst dort fand Calvinus seine Fassung wieder. Er dankte Helger mit vielen Worten für die Rettung aus höchster Not und schließlich für seine Gastfreundschaft.
„Die Feuerprobe hätte ich nicht bestehen können, denn das Feuer ist das Element des Teufels!“, rechtfertigte er später seine Angst. „Doch dank deiner Hilfe bleibt mir ein wenig Zeit, um einen anderen Weg zu suchen, der uns ans Ziel führt.“
Beinahe die ganze Nacht saß der Mönch wach auf seinem Strohlager und suchte nach diesem Ausweg. Doch erst als die Morgenröte im Osten die Dunkelheit vertrieb, kam ihm ein Gedanke, der vielversprechend zu sein schien. Zufrieden legt er sich zurück und gönnte sich ein wenig Schlaf.
Zur Mittagszeit erwachte er, geweckt von den lauten Gebeten seiner beiden Begleiter. Von Helger war nichts zu sehen. Wahrscheinlich ging der Händler seinem Tagewerk nach. Also weihte er niemanden außer den beiden Mönchen in den Plan ein, doch diese befanden ihn für ebenso aussichtsreich, wie er selbst.
Calvinus ging zu dem Feuer, das seine Mitbrüder entfacht hatten, und zog mit Helgers Schürharken ein paar glühende Stücke Kohle aus dem Feuer und legte sie in eine Holzschüssel. Schnell, und ohne Aufmerksamkeit zu erregen, eilte er mit der Kohle zu der Halle des Jarl und schaute sich davor nach einem geeigneten Ort für seinen Plan um. Er fand ihn in einem dürren Dornbusch, der unweit vom Eingang der großen Halle entfernt einsam auf dem staubigen Platz stand. Er versicherte sich, dass niemand sein Augenmerk auf ihn gerichtet hatte, dann bog er die Zweige zu Seite und schüttete die Schüssel mit der glühenden Kohle vorsichtig unter das Astwerk.
Nun war Eile geboten. Er rannte in die Halle und traf dort zu seiner Erleichterung tatsächlich auf Jarl Fargrim und einige seiner Gefolgsleute. „Wenn ihr die Macht meines Gottes sehen wollt“, rief er mit fester Stimme, „dann kommt heraus vor eure Halle und ich werde sie euch zeigen!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und ging würdevoll aus der Halle. Draußen angekommen, kniete er sich mit erhobenen Händen in die Mitte des Platzes und betete so laut, dass es jeder hören konnte, zu seinem Gott.
„Oh, allmächtiger Vater im Himmel! Gewähre deinem gehorsamen Diener die Gnade und sende diesen wilden Heiden ein Zeichen deiner Macht!“
Aus dem Augenwinkel beobachtete er den Busch, doch noch hatten die dürren Äste kein Feuer gefangen.
Er wiederholte sein Gebet ein zweites und schließlich ein drittes Mal, doch nichts geschah.
Er hörte das belustigte Murren der Nordmänner hinter seinem Rücken und erwartet jeden Moment, dass Fargrim den Befehl erteilen würde, ihn an Odins Esche zu hängen, als der Busch endlich Feuer fing.
„Seht das Zeichen!“, rief er aufgeregt und zeigte auf den brennenden Dornbusch. „Seht die Allmacht meines Gottes!“
Triumphierend drehte er sich zu den Nordmännern um, doch zu seiner Enttäuschung zeigte keiner von ihnen auch nur eine Spur von Ehrfurcht oder wenigstens nur Erstaunen.
„Das ist dein Beweis?“, fragte Fargrim enttäuscht. „Ein Busch der Feuer gefangen hat? In der Nähe der Schmiede passiert das dreimal am Tag.“
„Aber versteht ihr denn nicht?“, rief Calvinus beinahe wütend. „Der brennende Dornbusch war ein Zeichen Gottes für das auserwählte Volk!“
„Du verlangst von Odin als Beweis, er solle dich mit einem Blitz spalten, wenn du Hand an seinen Baum legst“, spottete Fargrim, „doch die unglaubliche Macht deines Gottes soll sich uns durch ein brennendes Büschlein zeigen? Jedes Kind wäre mit einem glühenden Span in der Lage dieses Wunder zu wirken. Das ist alles andere als beeindruckend.“
Nach und nach verließen alle den Platz, nur Helger, der von Calvins Ordensbrüdern gefunden und herbeigeholt worden war, blieb da und ging auf den sichtlich niedergeschlagenen Mönch zu.
„Ich hatte es dir gesagt“, sagte er tröstend, „bis auf eines finden sie alle anderen Wunder Gottes belanglos!“
Helger hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass seine Worte Calvinus Trost spenden könnten, doch zu seinem Erstaunen hellte sich die Mine des Mönches plötzlich auf. „Das ist es!“, rief er freudig aus und klatschte mehrmals in die Hände. „Danke Freund, du hast mich auf einen großartigen Einfall gebracht.“
„Hab ich das?“
„Ja, in der Tat. Doch für die Umsetzung brauche ich deine Hilfe.“
„Ich helfe gerne, wenn es bewirkt, diese Heiden zu bekehren“, versicherte der Händler.
„Das wird es“, gelobte Calvinus. „Wie weit entfernt ist die nächste christliche Siedlung? Oder noch besser – ein Kloster?“
„Ich treibe Handel mit einigen Christen in Altina, das ist eine friesische Siedlung fünfzig Meilen von hier. Soweit ich weiß, stehen diese auch mit einem Kloster in Verbindung.“
„Ausgezeichnet! Wann kannst du aufbrechen?“
„Aufbrechen?“, fragte der Händler verwirrt. „Wohin? Weswegen?“
„Ich werde dir einen Brief mitgeben, den du dem Vorsteher des Klosters übergeben wirst.“
„Willst du sie zu den Waffen rufen, damit sie dich befreien? Das kann ich nicht zulassen. Diese Menschen hier teilen zwar nicht meinen Glauben, aber mein Blut. Ich werde sie nicht verraten!“
„Das sollst du nicht“, beruhigte ihn Calvinus. „Glaube mir. Der Abt soll dir nur etwas aus dem Besitz der Kirche übereignen, was bei der Bekehrung der Heiden dienlich sein dürfte.“
Helger nickte: „Dann habe ich keine Einwände. Schreib deine Nachricht, wenn ich heute noch aufbreche, bin ich in drei Tagen zurück.“
„Der Segen des Allmächtigen sei mit dir!“
Sofort schrieb Calvinus seine Nachricht nieder und übergab sie dem abreisefertigen Händler. Dann ging er in die Halle des Jarl und wünschte mit Fargrim zu sprechen.
„Nun, Mönch?“, höhnte dieser als er Calvinus sah. „Kommst du, um uns ein neues Wunder deines Gottes zu zeigen? Was ist es diesmal? Ein brennender Baum? Oder vielleicht willst du einen Eimer Wasser weihen und das Feuer im Dornbusch auf wunderbare Weise löschen?“
Alles lachte, doch Calvinus zeigte darüber keinerlei Regung. „Ihr habt meinen Gott verhöhnt“, sagte er mit strafender Stimme. „Das würde euch teuer zu stehen kommen, doch ich habe erkannt, dass es meine Schuld war, und will deshalb ein gutes Wort für euch einlegen. Drei Nächte und drei Tage werde ich zu Gott beten, um euer Seelenheil zu retten, doch am Abend des dritten Tages wird er ein Wunder vollbringen, dass euch eure Götzen vergessen lässt!“
„Das will ich für dich hoffen!“, riet ihm Fargrim mit einem bösen Lächeln. „Sonst wird es dein toter Körper sein, der am Abend des dritten Tages an Odins Esche baumelt.“
„Du selbst wirst diesen Baum fällen wollen, wenn mein Gott sein Wunder gewirkt hat!“, sagte Calvinus spitz, während er aus der Halle ging.
Wie er es gesagt hatte, verbrachte er die nächsten drei Nächte und Tage in Helgers Hütte und betete. Allerdings nicht für das Seelenheil der Nordmänner, sondern für eine sichere und vor allem erfolgreiche Rückkehr des Händlers.
Endlich, am Mittag des letzten Tages vor Ablaufen der Frist, kam Helger mit einer Ochsenkarre in das Dorf gefahren. Calvinus lief sofort zu ihm und begutachtete die Ware. Ihm gefiel was er sah.
„Für was brauchst du sieben Fässer Wein?“, wollte Helger wissen. „Willst du dir die Freiheit erkaufen?“
„Mehr als die Freiheit“, antwortete der Mönch verschwörerisch. „Ich werde ein paar Seelen kaufen.“
„Die Hochzeit von Kanaan?“, fragte der Händler zweifelnd.
„Ganz recht!“, nickte Calvinus. „Ich muss nur noch einen Weg finden, die Fässer unauffällig in die Halle zu bringen, und alle glauben zu lassen, dass es Wasser ist. Mir ist bisher noch keine Möglichkeit eingefallen.“
„Das dürfte ohnehin nicht einfach sein“, meinte Helger nachdenklich. „Wenn man in der Halle Wasser braucht, holt man es direkt vom Brunnen. Wasser in Fässern gibt es nur unten am Fluss!“
„Wieso ausgerechnet am Fluss?“, fragte Calvinus nach. „Dort gibt es doch genug Wasser?“
„Für die Schiffe“, erklärte der Händler. „Wenn sie in See stechen, müssen sie Süßwasser mitnehmen. Rudern macht durstig und Met und Bier machen müde.“
Calvinus dachte kurz nach, dann wandte er sich wieder an Helger.
„Also, wenn ich heute Abend den Jarl auffordern würde, mir sieben Fässer Wasser zu bringen…“
„…dann würde er sie unten am Fluss füllen und in die Halle bringen lassen!“, vollendete der Händler mit einer Geste des Verstehens.
„Dann weißt du, was zu tun ist“, lächelte der Mönch verschwörerisch. „Aber füll noch ein achtes Fass mit Wasser und markiere es mit einem Kreuz.“
Der Händler nickte und fuhr mit seinem beladenen Wagen weiter zu dem am Rande der Siedlung gelegenen Flusshafen, um zu tun, worum Calvinus ihn gebeten hatte.
Der Mönch ging derweil siegessicher und gut gelaunt mit seinen Ordensbrüdern in die Halle des Jarls, wo Fargrim bereits auf ihn wartete.
„Ah, Mönch!“, rief er, als er die drei in seiner Halle bemerkte. „Kommst du zu einem Wunder oder zu deiner eigenen Hinrichtung?“
„Das werden wir sehen“, antwortete Calvinus gelassen und setzte sich mit seinen Begleitern an einen der Tische in der Nähe von Fargrims Hochstuhl. „Der Abend ist noch jung. Lass uns abwarten, welches Wunder mein Herr für euch gewählt hat.“
„Nicht so zuversichtlich, Mönch!“, warnte der Jarl höhnisch lachend. „Hier drinnen gibt es keine Büsche, die zu brennen beginnen könnten!“
Die Halle erbebte vom Lachen der Nordmänner.
„Er wird euch überzeugen. Da bin ich mir sicher!“, gab Calvinus mit gespielter Milde zurück.
„Wenn nicht…“, begann Fargrim.
„Baumele ich an der Esche deines Götzen, ich weiß“, unterbrach ihn der Mönch gelangweilt. „Wenn das so sein sollte, wäre das mein letzter Tag auf Erden. Sicherlich gönnt ihr mir doch einen Schluck Wein als Henkersmahlzeit.“
„Wein?“, Fargrim lachte auf. „Leider haben wir hier keinen Wein. Ihr müsst mit Bier oder Met vorlieb nehmen!“
„Keinen Wein?“, gab sich Calvinus enttäuscht. „Das ist sehr bedauerlich. Christen feiern gerne mit Wein, wisst ihr! Vielleicht hat euch ja Helger schon von der Hochzeit von Kanaan erzählt?“
„In der Tat. Dort soll dein Gott Wasser in Wein verwandelt haben. Wirklich, Mönch, das wäre ein Wunder dem selbst ich mich nicht entziehen könnte.“
„Nun, vielleicht soll das euer Zeichen sein!“, gab Calvinus zu bedenken.
„Das ist leicht zu prüfen. Tyrfinn, geh an den Brunnen und hole uns einen Eimer Wasser!“
„Warte!“, hielt Calvinus ihn auf. „Warum soll man ein so großes Wunder mit nur einem Eimer verschwenden. Hole besser gleich acht Fässer, denn so viele waren es in Kanaan!“
Fargrim schien von dieser Idee begeistert und schickte Tyrfinn zum Fluss, um acht Fässer mit Wasser zu besorgen.
Schneller als erwartet war der Mann mit einem mit acht Fässern beladenen Ochsenkarren zurück. Mit ihm gekommen war auch Helger der Händler, der zufällig am Fluss war um Wasserfässer für seine nächste Reise vorzubereiten. Als er von Calvinus Wunsch hörte, war er gerne bereit, seine acht Fässer für den Mönch herzugeben.
Nachdem die Fässer in die Halle gebracht waren, ging Calvinus scheinbar wahllos auf eines der Fässer zu, achtete aber insgeheim darauf, dass es das von Helger mit einem Kreuz markierte Wasserfass war, und ließ es öffnen. Er füllte eigenhändig ein Trinkhorn und brachte es dem Jarl.
„Trink, Jarl Fargrim Aalspießer“, forderte er ihn auf.
Fargrim nahm einen Schluck und setzte sogleich mit einem bösen Lächeln das Trinkhorn ab. „Wasser!“, rief er laut vernehmbar seinen Gefolgsleuten zu. „Heute Abend bekommt Odin einen Mönch geschenkt!“
„Nicht so schnell!“, unterbrach ihn Calvinus mit gebieterischer Stimme. „Glaubst du etwa, mein Gott verschwendet seine Wunder an wilde Heiden? Nein! Wasser für die Heiden, Wein für die Christen! Schwöre erst bei deiner Ehre, dass du und all deine Gefolgsleute, ohne Ausnahme, euch von euren Götzen lossagen werdet und keinen anderen Gott als den der Christen annehmen werdet!“
Der Jarl lachte laut auf: „Ihr Christen wisst nie, wann ihr aufgeben müsst!“ Er hielt sich die Faust ans Herz und verkündete gespielt feierlich: „Ich, Fargrim Aalspießer, schwöre bei meiner Ehre, wenn das Wasser aus diesen acht Fässern zu Wein wird, werde ich und alle hier anwesenden augenblicklich zu Christen!“
„Die sieben Fässer, die noch geschlossen sind, müssen reichen. Mit dem Wasser des achten werde ich euch noch an Ort und Stelle taufen!“
„Meinetwegen!“, gestand ihm der Jarl immer noch lachend zu.
Calvinus ging zurück und ließ nun eines der anderen Fässer öffnen. Er roch sofort den aromatischen Duft des Weines und füllte mit einem leichten Grinsen das Trinkhorn und reichte es wiederum Fargrim.
Ohne etwas anderes als Wasser zu erwarten, nahm der Jarl einen großen Schluck. Plötzlich riss er die Augen weit auf und setzte hustend und spuckend das Trinkhorn ab. Verstört schaute er zuerst in das Horn, dann zu Calvinus und schließlich zu den gespannt wartenden Männern in der Halle.
„Wein“, sagte er zuerst zögernd und leise, dann lauter und schließlich schrie er es regelrecht heraus, „Wein!“
Sofort eilten die anderen Nordmännern zu den Fässern, um sich selbst von diesem vermeintlichen Wunder zu überzeugen.
„Nun?“, rief Calvinus triumphierend in die Runde und stellte sich neben das Wasserfass. „Wer will der erste sein, den ich im Namen des einzigen, des wahren Gottes taufen soll?“
Fargrim erhob sich von seinem Hochstuhl und rief feierlich: „Bei meiner Ehre gab ich dir mein Wort und bei Od… – bei Gott, ich werde es halten!“
Langsamen Schrittes ging er auf Calvinus zu und kniete sich mit gesenktem Haupt vor ihn.
Ein paar lateinische Worte rezitierend, goss der Mönch dem Jarl ein wenig Wasser auf sein Haupt und nahm ihn in die Gemeinschaft der Christen auf.
Nach und nach taufte er zusammen mit seinen beiden Begleitern alle Männer, Frauen und Kinder der Siedlung.
Fargrim betrachtete dieses Schauspiel Wein trinkend von seinem Hochstuhl aus, als sich Helger der Händler, ebenfalls mit einem gefüllten Trinkhorn, zu ihm gesellte.
„Auf dein Wohl, Bruder“, begrüßte er seinen Jarl und hob sein Trinkhorn zum Gruße.
„Auf deines, Bruder“, entgegnete Fargrim wohlwollend. „Und natürlich auf das des ehrwürdigen Bruder Calvinus, auch wenn er etwas länger gebraucht hat als die anderen.“
„Ich habe mein Bestes getan, um ihn darauf zu stoßen“, entschuldigte sich der Händler. „Aber dafür ist dieser Wein erheblich besser als der letzte!“
„Das ist wahr!“, stimmte Fargrim lachend zu. „Aus Klöstern kommt immer ein ganz besonders guter Tropfen.“
„Wie oft bist du jetzt eigentlich schon getauft worden?“, wollte Helger wissen.
„Das weiß nur Odin!“, lachte der Jarl und nahm einen großen Schluck.
3.
DIE SAGA VON WITTE WITTESSON
TEIL 1: DES KÖNIGS NEUE MAUER
H och im Norden herrschte in einem kleinen Reich der Jarl Harlof Thorlofsson, der aber weithin nur als König Harlof bekannt war. Diesen fremdländischen Titel hatte er sich einst selbst verliehen, um allen zu zeigen, welch weit gereister Mann er einst gewesen war, als er bis an die Küsten Afrikas segelte und sogar Rom und Konstantinopel mit eigenen Augen gesehen hatte.
Doch diese Zeiten lagen weit zurück und nun war er alt und nicht mehr bei bester Gesundheit. Trübsinnig saß er auf seinem Hochstuhl in seiner Hauptstadt Glänoy und beschloss, dass diese Welt ihm nichts mehr zu bieten hatte, weshalb er aus ihr scheiden wollte.
Da er aber den Titel eines Königs angenommen hatte, meinte er sein Reich vererben zu müssen, anstatt wie es Brauch war, dem fähigsten seiner Gefolgsleute zu hinterlassen.
Allerdings hatte ihm seine Frau nur Töchter geboren und keine Söhne, weshalb nun einer seiner drei Schwiegersöhne seine Nachfolge antreten sollte.
Er rief sie zu sich und unterbreitete ihnen seine Absichten.
Während einer von ihnen, nämlich Witte Wittesson, der Mann seiner jüngsten aber schönsten Tochter, den König diese Vorhaben auszureden versuchte, verlangten die beiden anderen, Aki Ivarsson und Gnupi Signundsson, nur zu wissen, auf welchen von ihnen die Wahl gefallen sei.
Der König sagte, dass er sich nicht unter ihnen entscheiden konnte, da Aki der Älteste, Gnupi der Stärkste und Witte der Klügste sei, weshalb er sich entschieden hatte, ihnen eine Aufgabe zu stellen und denjenigen zu wählen, der diese als erster erfüllen würde.
So sollte derjenige, der als erster eine zwei Mann hohe Mauer um die Hauptstadt ziehen konnte, nach ihm König sein.
Sofort eilten Aki und Gnupi zu ihren Gefolgsleuten, um sie zur Arbeit einzuteilen, nur Witte sagte: „Es ist Frühling und die Saat steht bevor. Meine Leute müssen säen und anbauen, sonst hungern sie im Winter. Da ist keine Zeit, eine Mauer zu errichten.“
Und so ließ Witte seine Gefolgsleute auf den Feldern und in den Wäldern ihre gewohnte Arbeit tun, während Akis und Gnupis Felder brach lagen, da ihre Mannen in den Steinbrüchen Steine schlugen und vom ersten Tag an mit der Arbeit an den Mauern beschäftigt waren.
Beide kamen anfangs gut voran, doch beäugten sie sich ständig misstrauisch und voller Neid, und immer wenn es so schien, dass einer einen Vorsprung herausarbeiten konnte, sorgte der andere dafür, dass durch Unfälle und Einstürze die Arbeit des Rivalen wieder ins Stocken geriet.
So lagen sie im Sommer weit hinter ihren Erwartungen zurück, als Harlof kam, um ihre Arbeit zu begutachten.
Als der König sah, dass Witte noch nicht mit dem Mauerbau begonnen hatte, fragte er ihn, wann er den ersten Stein legen wolle, doch dieser antwortete: „Es ist Sommer und meine Leute wollen auf Raubzug fahren wie in jedem Sommer zuvor. Da ist keine Zeit, eine Mauer zu bauen.“
Der König nickte verstehend, bedauerte aber Wittes Entscheidung, denn tief in seinem Herzen wünschte er, dass Witte den Wettstreit für sich entscheiden würde, um seine Nachfolge anzutreten.
So fuhr also Witte mit seinen Männern alsbald auf Raubzug, während Aki und Gnupi weiterhin an ihren Mauern bauten.
Aki trieb seine Arbeiter, in seinem unbändigen Wunsch König zu werden, so hart an, dass viele seiner Unfreien an der Mühsal zerbrachen und starben.
Hatte ihn sein unerbittliches Antreiben zuerst in Führung gebracht, warfen ihn nun diese Verluste wieder herb zurück, so dass Gnupi mit seiner Mauer gleichauf zog.
Um seine Möglichkeiten zu bewahren, lies Aki daraufhin einige von Gnupis Sklaven heimlich vergiften.
So lagen beide gleichauf und dennoch weit hinter ihren Erwartungen zurück als der Herbst die Blätter färbte und König Harlof ein zweites Mal ihr Vorankommen begutachtete.
Witte, der mit reicher Beute von seinem Raubzug zurückgekehrt war, hatte immer noch keinen Stein gelegt und der König fragte ihn, da er den Vorsprung der anderen für einholbar hielt, ob er nicht doch mit dem Mauerbau beginnen wolle. Doch wieder sprach Witte: „Es ist Herbst und meine Leute müssen ernten und Vorräte anlegen, sonst haben sie im Winter nichts zu essen. Da ist keine Zeit für einen Mauerbau.“
Der König verstand und fragte nicht weiter nach.
Und so brachten Wittes Gefolgsleute reiche Ernte ein, während Aki und Gnupi ihre Mannen weiterhin mit dem Mauerbau beschäftigten.
Die Tage wurden kürzer und die ersten Vorboten des Winters machten sich im Königreich bemerkbar, als Aki und Gnupi die Hauptstadt je zu einer Hälfte umzogen hatten und sich nun mit ihren Mauerenden an zwei Stellen gegenüberlagen. Hätte man die beiden Hälften mit ein paar Steinen verbunden, hätte Glänoy bereits jetzt eine starke und wehrhafte Mauer besessen. Doch die Aufgabe des Königs lautete, dass nur derjenige seine Nachfolge antritt, der zuerst mit seiner Mauer die Stadt umschließt, und so stritten nun Aki und Gnupi, wessen Mauer der des anderen weichen sollte. Natürlich wollte keiner der beiden nachgeben und so beschlossen sie, aneinander vorbeizubauen. Der Münzwurf sollte entscheiden, wer Innen und wer Außen weiterbauen musste.
Doch bevor dies geschehen konnte brach der Winter ins Land und es zeichnete sich ab, als solle er besonders hart und lang werden.
Da beschlossen Aki und Gnupi, den Bau den Winter über ruhen zu lassen, und erst im nächsten Frühling fortzusetzen.
Also kauften sie sich am Markt, was immer sie für den Winter brauchten und zogen sich in ihre Hallen zurück.
Ihre Gefolgsleute aber, die seit dem Frühling ununterbrochen an der Mauer gearbeitet hatten und weder Aussaat noch Ernte noch sonstige Vorkehrungen für den Winter getroffen hatten, froren und hungerten bitterlich.
Um Wärme und Essen bettelnd, klopften viele von ihnen an Wittes Tür, von dem sie wussten, dass er im Herbst reiche Ernte eingefahren hatte.
Witte hatte ein Einsehen und ließ sie ein.
Da es aber ungesetzlich war, den Unfreien eines anderen Herren Unterschlupf zu leisten, ging Witte am nächsten Tag zu Aki und Gnupi und bat sie darum, ihm ihre Leute rechtlich zu überlassen, da sie sonst den Winter nicht überleben würden.
Aki und Gnupi, denen solche Wohltätigkeit völlig fremd war, wähnten aber andere Beweggründe hinter Wittes tun, und so antworteten sie:
„Das könnte dir so passen, Schwager. Jetzt nimmst du uns die Arbeiter und im Frühjahr baust du mit ihrer Hilfe deine Mauer, während wir noch auf der Suche nach neuen Kräften sind. Niemals. Lieber lassen wir sie sterben!“
Da wurde Witte zornig und er sagte:
„Bei Odin, verbrecherisch und ehrlos ist euer Tun! Nie hegte ich den Wunsch, König zu werden, doch wäre es eine Schande für Harlofs Reich einen von Euch auf dem Hochstuhl sitzen zu sehen. Vielleicht sollte ich wirklich noch mit meiner Mauer beginnen.
Doch heute bin ich hier, um zu verhindern, dass euretwegen viele gute Menschen sterben. So mache ich euch folgendes Angebot: Ihr überlasst mir in diesem Winter jeden eurer Leute mit Leib und Werk, der in meiner Halle Zuflucht sucht, doch im Frühling sollen sie zu euch zurückkehren und erneut euer Eigen sein.“
Dem willigten die beiden nur allzu gerne ein, denn so mussten sie sich nach dem Winter keine neuen Sklaven suchen. Und sie lachten über ihren Schwager und sein mildes Herz.
Witte aber lies verkünden, dass er jedem, der zu ihm kommen wolle, in seiner Halle Kost und Lager gab. Beinahe alle von Akis und Gnupis Männern folgten diesem Angebot.
Dann sagte er zu ihnen: „Diesen Winter sollt ihr in meiner Halle ein warmes zuhause und ausreichend Nahrung finden, doch wenn der Schnee schmilzt, müsst ihr zurück zu euren Herren.“
Da ging ein großes Seufzen durch Wittes Halle.
„Sie werden uns wieder zum Mauerbau zwingen und wir können weder säen noch ernten“, rief einer.
„Warum wirst du nicht König, Witte Wittesson?“, rief ein anderer. „Denn du bist klüger und gerechter, als beide deine Schwäger zusammen!“
Dem stimmten alle anderen mit lautem Jubel zu.
Auch Wittes Frau, die neben ihm stand und ihm nun zuflüsterte: „Sieh nur diese Menge. Wenn nicht Winter wäre, könntest du mit ihnen im Handumdrehen eine eigene Mauer bauen und tatsächlich König werden. Doch leider kann man auf Schnee keine Steine setzten, denn auf Schnee hält nichts außer Schnee selbst.“
Da lachte Witte aus ganzem Herzen und umarmte und küsste seine verwunderte Frau. Dann wandte er sich wieder an die Menschen in seiner Halle und sprach: „Weise sind die Ratschläge der Frauen, auch wenn sie es selbst nicht ahnen. Mit Leib und Werk machten euch eure Herren mir für diesen Winter zu Eigen, und wenn ihr erlaubt, werde ich es nutzten, um König zu werden.“
Es gab niemanden, der es ihm verweigern wollte.
Dreißig Tage später rief Harlof seine drei Schwiegersöhne zu sich und verkündete öffentlich und voller Stolz, dass Witte Witteson sein Nachfolger sein würde.
„Verrat!“, schrien da Aki und Gnupi. „Du selbst sagtest, dass derjenige König werden soll, dem es zuerst gelingt, eine Mauer um Glänoy zu ziehen!“
Doch der König lächelte mild und nickte bestätigend: „Und genau das habe ich getan.“
„Das ist unmöglich!“, wandte Aki ein. „Niemand baut so schnell eine Mauer!“