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Es war dann auch Julia, die das Gespräch eröffnete. Und zwar nicht mit den erwarteten Formalien, sondern mit einer Frage, die mich vollkommen unvorbereitet traf.
»Wo würdest du dich denn politisch einordnen?«
Herrje! Mein politisches Weltbild war nicht anders als diffus zu nennen. Zwar hätte ich auf Anhieb zig Missstände aufzählen können, die mein Blut zum Kochen brachten, angefangen bei der ungerechten Verteilung von Gütern bis hin zur Unfreiheit des Einzelnen. Des Weiteren war mir durchaus bewusst, dass für beinahe alle der himmelschreienden Übel, die mich umtrieben, das kapitalistische System verantwortlich zeichnete, also das Hamsterrad, in dem auch ich gefangen war. Aber wie nun genau die neue Welt von morgen aussehen sollte, hätte ich nicht sagen können. Vor allen Dingen hatte ich keine Bezeichnung bei der Hand, die meinen wankelmütigen, unausgegorenen Ansichten eine allgemeingültige Form hätte geben können. Musste ich mich zu den Sozialrevolutionären oder zu den Sozialisten zählen? War ich Kommunist oder Hedonist? Oder beides, falls sich die Begriffe nicht aufhoben? Oder doch eher Anarchist, beziehungsweise Anarchosyndikalist? Ich besaß nicht den Hauch einer Ahnung. Natürlich hätte ich mir stattdessen mit einer Floskel behelfen können, einem Allgemeinplatz à la Frei sein, high sein, Terror muss dabei sein. Aber das würde der Schönheit mir gegenüber, in deren Gesicht sich bereits ein spöttischer Ausdruck breitmachte, nicht genügen. Verdammt, auf diesen Punkt hätte mich Jan ruhig vorbereiten können.
Ich blickte auf den Hund zu meinen Füßen, was meiner Konzentration allerdings auch nicht auf die Sprünge half. Stattdessen wurde ich von der Frage abgelenkt, warum ein Tier, das unübersehbar einen Penis sein Eigen nannte, mit einem weiblichen Namen bedacht worden war, noch dazu mit einem derart althergebrachten. Wer bitte schön hieß denn heutzutage noch Ulrike?! Ul-ri-ke – ich ließ mir die Silben auf der Hirnrinde zergehen. Und plötzlich hatte ich sie, die rettende Lösung, die Worte, die meiner Reputation den notwendigen Dienst erweisen würden. Also erklärte ich mit fester Stimme, wobei ich meinen Blick langsam über die Gesichter der anderen wandern ließ: »Um es mit Ulrike Meinhof zu sagen: Die Konfrontation mit der Staatsgewalt ist zu suchen und unbedingt erforderlich.«
Das Zitat stammte zwar gar nicht von der RAF-Mitbegründerin, sondern, soweit ich mich erinnern konnte, von Rudi Dutschke. Aber ich hatte auf die Schnelle kein anderes finden können. Außerdem spielte der Wahrheitsgehalt in diesem Fall keine Rolle. Wer kannte sich mit Zitaten schon aus?! Wichtig war nur, dass der Satz schön kämpferisch klang und von Ulrike Meinhof hätte sein können. Denn wenn ich auch nicht zu hundert Prozent sicher sein durfte, dass die Namensgebung des Hundes etwas mit der Roten Armee Fraktion zu tun hatte, hätte ich doch jede Wette angenommen, dass Madame Meinhof zu den Menschen gehörte, die Julia verehrte – zumindest heimlich. Die Kompromisslosigkeit, mit der die ehemalige Journalistin ihren Weg vom Wort zur Tat beschritten hatte, musste einer Frau wie Julia einfach zusagen.
Sie sah denn auch einigermaßen verblüfft aus, nachdem die letzte Silbe meines Statements verhallt war.
»Klingt nicht schlecht«, sagte sie mit einem leichten, beinahe widerwilligen Zögern. Und kam dann doch um die Andeutung eines Lächelns nicht herum.
Ich nahm das mit einer tiefen Befriedigung auf, wie ich auch nicht ohne Stolz registrierte, dass sich von Seiten meiner männlichen Gegenüber kein Widerspruch regte. Offenbar war keinem aufgefallen, dass ich mich an der eigentlichen Fragestellung vorbeigemogelt hatte. Demgemäß stand einem unangestrengten Geplauder über profanere Dinge nichts mehr im Wege.
Erst als wir zum Ende kamen, wurde es noch einmal kritisch.
»Ach, eins noch«, warf Julia ein, während mir Lasse gerade einige der häuslichen Gepflogenheiten auseinandersetzte. »Wir leben hier übrigens vegan. In dieser Hinsicht gibt’s keine Kompromisse. Da müsstest du schon mitziehen.«
Ich sah zu Jan hinüber. Hatte gar nicht gewusst, dass mein bester Freund Veganer war. Hatten wir nicht letztens noch Hawaiitoast bei mir gegessen?!
»Heißt das, wenn ich mir mal ’n Schnitzel … muss ich das, äh, also draußen …?«, stotterte ich überrascht und hätte mir am liebsten die Zunge abgebissen – auch wenn die natürlich ebenfalls unter die Rubrik fleischhaltige Produkte fiel.
Julia sah mich an, als ob auf meiner Stirn eine Hakenkreuztätowierung erschienen wäre.
»Nee, nee, vegan ist kein Problem«, beeilte ich mich daraufhin zu sagen. »Ich esse ohnehin fast nur Hülsenfrüchte.«
Jetzt war es an Jan, zu mir herüberzusehen.
Und damit war es vollbracht.
»Wir rufen dich in ein oder zwei Stunden an«, sagte Julia und entließ mich mit einem knappen Nicken.
Noch bevor ich meinerseits ein Abschiedswort hätte formulieren können, hatte sie sich bereits den anderen zugewandt. Sicher, um gleich die Diskussion über das Für und Wider meiner Person zu eröffnen.
Das Zimmer hatte ich immer noch nicht gesehen.
Zurück in meiner Wohnung, hatte ich einige Mühe, nicht alle zwei Sekunden auf mein Mobiltelefon zu starren. Erstaunlich, welch hypnotische Kraft so ein toter Gegenstand zu entwickeln in der Lage ist. Ich versuchte mich abzulenken, indem ich im Netz vegane Rezepte studierte. Nicht, dass ich mir später noch den Vorwurf machen musste, ich hätte es an der notwendigen Dosis positiven Denkens fehlen lassen. Nach einer gefühlten Ewigkeit und ungezählten Anleitungen für Soja-Quiche und Konsorten erklangen schließlich diese nagetierähnlichen Laute, die mir als Klingelton dienten. Im Display des Handys Jans Name.
»Alles klar. Kannst einziehen«, sagte er.
Ich hatte Mühe, mir eins dieser Geräusche zu verkneifen, wie sie häufig weiblichen Teenagermündern entfahren, sobald musizierende Schönlinge eine Bühne betreten. Stattdessen sagte ich: »Perfekt, dann bring ich morgen gleich die ersten Kisten rum.«
»Scheint dir ja echt im Nacken zu sitzen, der Schimmel«, sagte Jan.
»Wie kommt es eigentlich, dass Julias Hund einen weiblichen Namen trägt?«, lenkte ich ab.
»Ach, das hängt mit der dringend notwendigen Aufhebung der Geschlechterrollen zusammen.«
»Ah, klar. Natürlich.«
Da meine neue Behausung nur vier Straßenzüge von der alten entfernt lag, stellte der Transport meiner Habe keine sonderlich große Herausforderung dar. Eile war ebenfalls nicht geboten. Um einen Nachmieter zu finden, blieben mir gut zwei Wochen. Dennoch besaß ich ein gesteigertes Interesse daran, schon am ersten Tag all die Dinge mitzunehmen, die mir ein sofortiges Übernachten ermöglichten. Insbesondere die Matratze und die Europaletten, die ihr als Unterlage dienten, waren in dieser Hinsicht unverzichtbar. Zum Glück besaß Jan einen altersschwachen, aber geräumigen Fiat Ducato, mit dem sich das Überführen problemlos bewältigen ließ.
Wie klug mein Schachzug gewesen war, zeigte sich keine vierundzwanzig Stunden später.
Nachdem Jan und ich die Einzelteile meiner Schlafstatt mit Kleingelds Hilfe in den dritten Stock gewuchtet hatten, war es mir geboten erschienen, zwei Kästen Bier springen zu lassen. Infolge dieser kleinen Feier schlief ich tief und traumlos, und als ich erwachte, schien bereits die Mittagssonne in mein neues, recht geräumiges Altbauzimmer. Während ich meine Lunge mit Nikotin, Teer und Kondensat verarztete, befühlte ich mein Gesicht und befand die Stoppeln auf meinen Wangen für deutlich zu lang. Also durchwühlte ich die über den Raum verteilten Umzugskisten, bis ich mein Rasierzeug gefunden hatte, und schlappte ins Bad.
Ich setzte die Klinge gerade zum zweiten oder dritten Mal an, als Julia durch die Tür schlüpfte. Da kein Schlüssel im Schloss steckte, hatte ich mich außerstande gesehen, für die notwendige Intimsphäre zu sorgen.
Für Julia besaß dieser Umstand offenbar keinerlei Bedeutung. Sie lachte mich unverkrampft an. »Und? Was Schönes geträumt?«
Ich war einigermaßen perplex ob dieser Frage. Nicht zuletzt, weil sie so gar nicht in das Bild passen wollte, das ich mir von Julia gemacht hatte.
Meine offenkundige Verwirrung veranlasste sie, eine Erklärung nachzuschieben: »Es heißt doch, dass alles, was dir in der ersten Nacht im Traum begegnet, in Erfüllung geht.«
Das war mir neu.
»Wusste ich gar nicht«, sagte ich denn auch, während mir zeitgleich die Tatsache ins Bewusstsein stieg, dass ich außer einer undurchdringlichen Schwärze überhaupt nichts im Traum zu Gesicht bekommen hatte. Wenn das meine Zukunft darstellen sollte, dann vielen Dank.
Meine nähere Zukunft allerdings sah alles andere als düster aus. Während ich nämlich mit meiner Rasur fortfuhr, begann Julia sich aus dem olivenfarbenen Tanktop und der schwarzen Jogginghose zu schälen, die ihr als Schlafgarderobe dienten. Dass ich sie dabei im Spiegel beobachten konnte, schien sie kein bisschen zu stören.
Zwar hatte ich aufgrund meiner Position keine vollständige Sicht auf das Jahrhundertereignis. Aber dieses Paar formvollendeter mittelgroßer Brüste, das da hin und wieder hinter der verschwommenen Totenmaske aus bläulich-weißem Rasierschaum hervorblitzte, genügte vollkommen, meine Hormone den Ententanz proben zu lassen. Um den Zauber nicht zu zerstören, wagte ich es nicht, meinen Stand auch nur um einen Millimeter zu verändern. Stattdessen fuhrwerkte ich mit der Klinge sinnentleert in meinem Gesicht herum wie ein Sehbehinderter, der das Fell eines Mammuts zu gerben hat. Hatte ich zwei Tage zuvor noch geglaubt, mein Mobiltelefon würde eine hypnotische Kraft auf mich ausüben, merkte ich nun, was Hypnose wirklich bedeutete. Julias Anblick hielt mich gefangen, als ob mir gleich ein ganzer Stamm von Schlangenbeschwörern die Flötentöne blasen würde.
Der magische Moment endete abrupt, als Julia hinter mir vorbeiging, um in die Duschkabine zu steigen.
»Ich fürchte, du hast dich geschnitten«, sagte sie.
»Was?« Ich fokussierte den Blick, bis mein Gesicht wieder klar zu erkennen war, und entdeckte zwei Blutspuren, die gerade dabei waren, an der Spitze meines Kinns zu einer historischen Vereinigung anzusetzen.
Später in meinem Zimmer kam ich nicht daran vorbei, Hand an mich zu legen. Während ich die harmlose Szene aus dem Bad auf vielfältigste Weise ausufern ließ, hörte ich aus dem Off meines Gehirnkästchens ohne Unterlass eine Stimme zu mir sprechen, die mich davon unterrichtete, dass es Julia wohl eher nicht gefallen würde, als Masturbationsvorlage benutzt zu werden. Trotzdem gelang es mir, in Rekordgeschwindigkeit abzuspritzen. Nur gut, dass sich meine Tür abschließen ließ.
»Samba si! Arbeit no!«
[Roberto Blanco]
Noch am selben Abend sollte ich erfahren, warum Julia sich während des allerersten Gesprächs, das wir in diesem unserem Leben miteinander geführt hatten, so augenfällig für den Grad der meinem Leib innewohnenden Leistungsfähigkeit interessiert hatte.
Ich war gerade mit einer Packung Katenrauchschinken vom Billigdiscounter zurückgekehrt, die ich heimlich in meinem Zimmer zu verdrücken gedachte, als ich Kleingeld im Flur begegnete.
»Gut, dass ich dich sehe«, sagte er. »Wir zieh’n nachher was durch. Kurze Besprechung in der Küche gegen zehn. Du bist doch dabei, oder?«
Weil ich bei dem Begriff Durchziehen im ersten Moment an Rauschgift dachte und nicht recht verstand, warum vor dem gemeinsamen Genuss eines Pfeifchens noch eine Besprechung abgehalten werden musste, schwieg ich irritiert.
Kleingeld schien das als Missfallensbekundung zu deuten.
»Keine Sorge, ist nichts Großes. Nur ’n bisschen Sachbeschädigung«, erklärte er.
Nun verstand ich, was er meinte, und beeilte mich, meine Zustimmung zu bekunden. Denn gewiss würde auch Julia bei der Unterredung und der sich anschließenden Straftat zugegen sein.
»Wunderbar.« Kleingeld wollte schon an mir vorbei, hielt dann aber noch einmal inne: »Was hast’n da in der Tüte?«
»Backpflaumen und Sojakeimlinge«, log ich.
»Ja … dann mal guten Hunger, ne.« Er sah mich gleichermaßen bewundernd wie angeekelt an.
»Haben alle ihre Handys aus?«, fragte Julia, nachdem ich neben Jan am Küchentisch Platz genommen hatte. Julia und Kleingeld saßen uns gegenüber.
Ich zog mein Telefon aus der Hosentasche und schaltete es pflichtschuldig aus. Um von meiner Nachlässigkeit abzulenken, erkundigte ich mich nach Lasse.
»Der hat Frühschicht«, sagte Kleingeld und griff nach einer halbvollen Flasche Club-Mate.
Lasse, soviel hatte ich bereits mitbekommen, arbeitete als Krankenpfleger und musste nicht selten schon um fünf Uhr morgens aus dem Haus. Kleingeld lebte offiziell von der Fürsorge, in erster Linie aber von seinem gottgegebenen Talent, Menschen auf der Straße anzuschnorren. Julia und Jan, die beide studierten, bezogen Bafög und jobbten nebenbei.
»Also gut«, begann Julia den offiziellen Teil des Abends, »heute nehmen wir uns diese Edelboutique in der Morbus Hansen vor. Kleingeld macht die Tür, Jan und ich kümmern uns um die Schaufenster. Und du«, sie sah mich eindringlich an, »schnappst dir ’ne Sprühdose und übernimmst die Öffentlichkeitsarbeit. Jemand ’ne Frage dazu?«
Wie Kleingeld und Jan hätte auch ich jetzt gern den Kopf geschüttelt. Aber das konnte ich nicht, denn ich hatte eine Frage, und zwar eine essentielle. Also hob ich die Hand und sagte: »Ja, ich.«
Julia wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht und fixierte mich erneut mit ihren Huskyaugen.
Das Anliegen, das ich vorbringen wollte, war mir unangenehm genug. Nun hatte ich zusätzlich noch damit zu kämpfen, mich nicht in diesem Blick zu verlieren. Aber natürlich verlor ich mich. Und zwar dergestalt, dass ich, hätte man mich zwischen siebzigtausend entfesselte Fußballanhänger gesteckt und mir ein Mikrofon in die Hand gedrückt, ohne zu zögern um Julias Hand angehalten hätte. Stattdessen hörte ich mich nach einer endlos erscheinenden Pause Folgendes stammeln: »Also … ich würde gern wissen, was ich da … äh, was ich schreiben … also da hinsprühen soll … an diese Boutique.«
Julia prustete los. Und auch die anderen konnten sich ein spöttisches Kichern nicht verkneifen.
Kleingeld war der Erste, der sich wieder in der Gewalt hatte.
»Na, was schon?! Irgendwas, das den Arschlöchern zeigt, was wir von ihnen halten, natürlich.«
»Ich hatte nur überlegt, ob ich vielleicht irgendwas Spezielles …«, versuchte ich, meine Würde wenigstens im Ansatz wieder herzustellen.
Niemand reagierte darauf.
Vielmehr sagte Julia: »Schön, dann ist das auch geklärt. Also weiter: Um Viertel nach eins geht’s los. Wir brechen jeweils zu zweit auf und treffen exakt um ein Uhr dreißig am Laden aufeinander. Jan und ich dreh’n dann noch ’ne kleine Extrarunde und stoßen drei bis vier Minuten später wieder zu euch. Euer Part sollte bis dahin erledigt sein. Hab ich irgendwas vergessen?«
Ich sah auf die Tischplatte wie früher im Mathematikunterricht, wenn nach Freiwilligen zum Vorrechnen an der Tafel gesucht wurde. Jan war weniger mundfaul.
»Vielleicht sagst du noch kurz was zur Dauer der Aktion«, streberte er.
»Ah, klar, das ist wichtig.« Julia belohnte ihn mit einem anerkennenden Blick. »Egal, wie’s läuft, spätestens, wenn die Steine geflogen sind, hau’n wir ab. Natürlich wieder in verschiedene Richtungen. Und jeder checkt bitte noch mal, ob ihm nicht ’n Zivi oder sonst wer an den Hacken hängt, bevor er hier aufschlägt.« Ein letzter Blick in die Runde, dann das Schlusswort: »Okay, um eins seh’n wir uns wieder hier in der Küche. Ich leg mich bis dahin noch ’n bisschen ab.«
»Gute Idee«, ließ sich Kleingeld vernehmen, griff sich seine Mate-Flasche und folgte ihr in den Flur.
Ich erhob mich ebenfalls, allerdings nur um den Kühlschrank zu öffnen.
»Auch ’n Bier?«, fragte ich Jan über die Schulter.
»Alkohol ist vor Aktionen eigentlich nicht so gern gesehen.«
»Alter, ein Bier!« Ich griff mir zwei Flaschen und begab mich zurück an den Tisch.
Nachdem wir uns zugeprostet hatten, tauchte Ulrike plötzlich neben mir auf und legte mir seinen schweren Kopf auf die Oberschenkel.
Während ich ihm mit der Linken unkonzentriert durchs Fell fuhr, wurde mir plötzlich etwas bewusst, das mir schon wesentlich früher hätte auffallen müssen: Es hatte, was die Aufgabenverteilung betraf, keinerlei Diskussionsprozess gegeben. Zumindest keinen, in den ich mit einbezogen worden war. Die aus diesem Fakt gefolgerte Einschätzung meinen Status betreffend, also die Erkenntnis, dass ich hier offenbar weniger galt als der Rest, ließ Zorn in mir aufsteigen, der sich – gepaart mit der Erinnerung an das Schamgefühl, das das Gelächter der anderen mir beschert hatte – in einer Frage Bahn brach, die im Ton vielleicht ein wenig scharf daherkam.
»Sag mal, läuft das eigentlich immer so bei euch?«
»Was denn?« Jan sah von der halbfertigen Selbstgedrehten auf, die er zwischen den Fingern hielt. Er wirkte aufrichtig irritiert.
»Na, dass ihr festlegt, wer wann welche Aufgabe zu übernehmen hat, ohne dass das vorher auch nur im Ansatz gemeinschaftlich besprochen wird.«
»Ach, das meinst du.« Jan gab sich Feuer und sog genüsslich den Rauch ein. Dann sagte er mit einem Lächeln auf den Lippen: »Da fühlt sich wohl jemand in seinem Ego angegriffen, was?«
Ich wollte schon protestieren, aber er schnitt mir mit einer Handbewegung das Wort ab.
»Entspann dich wieder, Sportsfreund. Wir hatten das schon länger geplant. Und zwar mit Lasse. Wenn die Hotten im Krankenhaus nicht seinen Dienstplan geändert hätten, wärst du gar nicht gefragt worden. Hat dir das keiner erzählt?«
»Nein«, sagte ich, keineswegs versöhnt angesichts der Tatsache, als Reservespieler aufs Feld geschickt zu werden.
»Hey, es wäre einfach müßig gewesen, das alles noch mal lang und breit auseinanderzudividieren. Außerdem …« Jan zögerte.
»Na, was?«
»Außerdem wollte … wollten wir erst mal seh’n, wie du dich anstellst.«
Einen Moment lang glaubte ich, aus der Wirklichkeit katapultiert worden zu sein. Da saß mir also mein bester Freund gegenüber und erklärte mir in aller Seelenruhe, dass er mal sehen wolle, wie ich mich anstellte. Na gut, dann stellte ich mich eben an. Und zwar gleich.
»Sag mal, dir hat wohl der letzte Vegi-Burger das Stammhirn zerfressen!«, schrie ich. »Wie lange kennen wir uns jetzt schon?! Dreizehn Jahre? Vierzehn? Und da willst du überprüfen, ob ich mich für so ’ne Lachnummer eigne?«
Jan zuckte entschuldigend mit den Achseln.
»Komm, Mann, ich weiß, dass auf dich Verlass ist. Aber die anderen kennen dich gerade mal ’n paar Tage. Ist doch normal, dass sie dich erst mal auschecken wollen.«
Ich war noch immer derart aufgebracht, dass ich dieses durchaus nachvollziehbare Argument um ein Haar überhört hätte. Mir lag schon der Satz auf der Zunge, dass die drei angehenden Aushilfsterroristen ihren mittelmäßigen Schülerstreich doch am besten ohne mich verüben sollten. Aber dann tauchte für den Bruchteil einer Sekunde Julia mit einem schweren Pflasterstein in der Hand vor meinem inneren Auge auf, und ich besann mich wieder.
»Na gut, da mag was dran sein«, lenkte ich ein. »Aber das hättest du vielleicht besser für dich behalten.«
»Tut mir leid. Ist mir so rausgerutscht.«
»Schon gut.« Ich wechselte das Thema: »Sag mal, du bist doch nicht wirklich Veganer geworden, oder?«
»Na ja«, sagte Jan, »Ich versuch’s.« Und dann nach einer kurzen Pause: »Klappt aber meistens nur an ungeraden Tagen, die mit einem Vokal beginnen.«
»Da bin ich ja beruhigt. Ich hab auch so alle paar Stunden meine Schwächephasen.«
Wir sahen uns verschwörerisch an, dann brachen wir in befreiendes Gelächter aus. Das übliche Verhalten von Schwächlingen, die ihre mangelnde Willensstärke hinter großkotzigem Gehabe zu verbergen suchen.
Schließlich drückte Jan seine Kippe aus und stemmte sich in die Höhe.
»Ich denke, ich entspann mich auch noch ’n bisschen.«
»Jesus, man könnte meinen, wir planen ’nen Anschlag auf die Innenbehörde.«
»Ein ausgeruhter Geist ist die vornehmste Waffe des Revolutionärs«, sagte Jan lachend. Dann war er verschwunden.
Ulrike folgte ihm, als ob er einen für das menschliche Ohr nicht vernehmbaren Pfiff gehört hätte.
Ich saß also allein in der Küche, trank weitere Biere und dachte über markige Zeilen nach, die den oder die Betreiber der Boutique das Fürchten lehren und mir im Kreise meiner neuen (und alten) Freunde Anerkennung und Beifall einzubringen vermochten. Den Zweiflern würde ich schon zeigen, was sie von meinen Qualitäten in Bezug auf klandestine Unternehmungen zu halten hatten!
Leider war ich bis viertel vor eins noch nicht so weit, wie ich gehofft hatte. Um genau zu sein, verfügte ich über ganze zwei Sätze, von denen der eine zusätzlich noch einer knackigen Beschimpfung bedurfte. Auf meinem virtuellen Notizblock stand zum einen die altbekannte Parole Kapitalismus tötet!, zum anderen der selbst erdachte Polenböller Verpisst euch nach Entenhausen, ihr …! Ohne Zweifel unbefriedigend, aber was sollte ich machen?! Inspiration lässt sich nun mal nicht erzwingen. Dafür hatte sich – dem Alkoholpegel sei Dank – meine innere Einstellung drastisch verbessert. Ich war bereit loszuschlagen. Der Rest konnte getrost der Spontanität des Augenblicks überlassen werden.
Voller Tatkraft räumte ich die leeren Flaschen unter die Spüle. Dann ging ich in mein Zimmer und stopfte mir den verbliebenen Schinken in den Mund.
Keine fünfzehn Minuten später stand ich wieder in der Küche; natürlich in einer Kluft, die unserem Vorhaben angemessen war: schwarze Turnschuhe, deren Logos ich mit Klebeband abgedeckt hatte; schwarze Baggy Pants, in der ein Paar Arbeitshandschuhe steckten; schwarze Jacke ohne Markenaufdruck; schwarzes Halstuch; schwarze Wollmütze. Genau die richtige Garderobe für einen nächtlichen Spaziergang.
Da ich als Erster erschienen war, drängte sich die Idee auf, meinen Enthusiasmus mit einem weiteren Bier zu füttern. Ich rang die Versuchung nieder, indem ich die Sprühdose, die ich drei Minuten zuvor aus meinen Beständen gefischt hatte, noch einmal prüfend in der Hand wog. Sie war schon benutzt worden, schien aber noch voll genug zu sein.
Als gleich darauf die anderen auftauchten, war ich froh, dem sirenengleichen Werben des Gerstensafts die Stirn geboten zu haben. Musste ja nicht sein, dass ich mir kurz vorm Aufbruch noch eine spitze Bemerkung einfing.
Julia und Kleingeld verglichen Armbanduhren, die ich noch nie an den beiden gesehen hatte. Dann sagte Julia an Kleingeld gewandt: »Okay, haut ihr schon mal ab. Jan und ich warten noch ’ne Minute. Seht zu, dass ihr nicht zu früh da seid. Sobald wir uns begegnet sind, legt ihr los.«
Kleingeld quittierte diese Sätze mit einem knappen Nicken, dann sah er mich an.
»Fertig?«
»Fertig«, sagte ich, wobei ich mich bemühte, meinen alkoholgesättigten Atem nicht in seine Nase steigen zu lassen. Für eine Sekunde fühlte ich mich, als ob wir eine x-beliebige amerikanische Krimiserie nachspielen würden – Fertig, Sergeant? Fertig! Gleich würden wir dieser Bande abgebrühter Crackdealer gepflegt die Tür eintreten. Ich hatte Mühe, ein Kichern zu unterdrücken.
Während Kleingeld den Reißverschluss seiner Jacke hochzog und sich die Mütze aufsetzte, musterte ich meine Mitstreiter. Sie sahen aus wie ich selbst: gut verpackt in sportliche, schwarze Klamotten, die kaum etwas von ihrer Identität preisgaben. Beim jährlichen Maskenball des Polizeisportvereins hätten sie uns sicher zu unserer gelungenen Kostümwahl gratuliert.
Kleingeld nahm einen letzten Schluck Mate. Dann zogen wir ab.
Da mein Begleiter einen Umweg wählte, war es uns möglich, ein zügiges, aber nicht zu hohes Tempo einzuschlagen. Auf Passanten mussten wir wie zwei Kino- oder Kneipengänger wirken, die nach der Spätvorstellung oder dem letzten maßvoll genossenen Glas Wein festen Schrittes ihrer Wohnstatt entgegenstrebten. Aber Passanten waren keine zu sehen. Für eine Montagnacht selbst in unserem als Amüsierviertel geltenden Bezirk nichts Ungewöhnliches, zumindest in den Seitenstraßen, durch die wir uns bewegten.






