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Nachdem wir seit dem Verlassen des Hauses geschwiegen hatten, unterbrach Kleingeld meinen Gedankenstrom urplötzlich mit einer Frage, deren Sinn ich nicht gleich verstand: »Und? Hast du dir was Hübsches einfallen lassen?«
»Bitte?«
»Weißt du schon, was du gleich sprühen wirst?«
»Ja, klar«, log ich mit vorgetäuschter Selbstsicherheit. Ich verspürte keinerlei Drang, mich über die dürftige Ausbeute meines bisherigen Denkprozesses zu verbreiten. Nicht, dass hier auf der Straße noch eine Diskussion losbrach. Oder noch schlimmer: Dass Kleingeld meinte, mir vorsagen zu müssen.
Zum Glück fragte er nicht weiter nach.
In meinem biergesättigten Köpfchen herrschte auch so genug Betrieb. Verpisst euch nach Entenhausen – das klang doch zünftig! Aber was konnte ich ans Ende stellen? Ihr Bastarde? Ihr Hurensöhne? Nein, deutlich zu sexistisch und außerdem vom Thema wegführend. Vielleicht ihr Krämerseelen? Ohne Zweifel ein klangvoller Ausdruck, aber schwang da nicht ein zu großer Happen verkürzte Kapitalismuskritik mit? Verdammt, roch nicht die ganze Aktion genau danach?! Egal, hier ging es ohnehin nicht um Politik. Hier ging es um Herzensbildung. Jedenfalls für mich. Julia sollte das gefallen, was da in ein paar Minuten wie ein böser Ausschlag von der Fassade abstrahlen würde, nicht mir. Ich entschied, das Ende einfach wegzulassen. Das sparte nebenbei noch Zeit. Und Zeit war schließlich ein nicht unbedeutender Faktor im Kampf gegen die Zeitverwertungsmaschinerie.
Nicht minder wichtig war selbstverständlich das Timing. Unseres schien heute zu stimmen. Denn als Kleingeld und ich in die Morbus Hansen-Straße einbogen, sahen wir unsere Hausgenossen schon auf uns zukommen. Beide trugen Sporttaschen, Julia die ihre leger über der Schulter, Jan die seine in der Rechten. Wir passierten uns keine zehn Meter vom Laden entfernt, natürlich ohne uns eines Blickes zu würdigen.
Kleingeld schlüpfte in seine Handschuhe und zog sich das Halstuch über die Nase, ich tat es ihm gleich, und dann standen wir auch schon vor den liebevoll dekorierten Schaufenstern des Markenanbieters. Freundlicherweise war zwischen der Eingangstür und der rechten der beiden verglasten Präsentationsflächen ein Streifen sauber verputztes Mauerwerk verblieben, dessen Breite für meine Zwecke völlig ausreichte – zumindest, wenn ich die Worte untereinander schrieb.
Ich zog die Sprühdose aus meiner Hosentasche, schüttelte sie kurz und machte mich an die Arbeit. Während ich der Weltöffentlichkeit die ersten drei Buchstaben überantwortete, sah ich Kleingeld aus den Augenwinkeln am Türschloss herumwerkeln. Ich nahm an, dass er irgendwas Metallisches in den Schließkanal schob (eine umgebogene Büroklammer oder ein Stück Draht beispielsweise), das er mit einer Zange gleich dergestalt abbrechen würde, dass nichts mehr aus dem Schloss herausragte, bevor er sein perfides Werk mit einer Ladung Sekundenkleber zum Abschluss brachte. Bei diesem Gedanken richtete ich meine Konzentration wieder auf meine eigene Aufgabe. Nichts war bei dem, was ich hier tat, schließlich schlimmer als das Produzieren von Rechtschreibfehlern. Noch mal schnell den Inhalt der Dose in Bewegung gebracht, schon ging es an die zweite Silbe. Ein hübsch geschwungenes p, gefolgt von einem munteren i – dann versiegte der Farbstrahl schlagartig.
Ich setzte ab, gab ein weiteres Mal den Barmixer und versuchte es erneut. Nichts! Also noch mal geschüttelt. Diesmal so heftig, dass mir das dadurch ausgelöste Klackern wie der Widerhall sich drehender Panzerketten in den Ohren dröhnte. Das Ergebnis blieb niederschmetternd. Da musste irgendwas mit der Düse sein. Sicher verstopft. Ich zog mir den rechten Handschuh von der Flosse und begann, mein Arbeitsgerät zu untersuchen. Kleingeld, dem meine Schwierigkeiten nicht entgangen waren, warf mir einen missbilligenden Blick zu. Ich zuckte in stummer Verzweiflung die Schultern. Was sollte ich machen? Zur nächsten Tag- und Nachttankstelle laufen und eine neue Dose erwerben?!
Unterdessen hatte ich einen größeren Klumpen getrockneten Lacks geortet und kratzte mit dem Zeigefingernagel an dem Plocken herum wie ein Grabräuber an der oxidierten Schicht eines metallenen Fundstücks. Es half nichts. Auch nachdem ich die Verunreinigung entfernt hatte, wollte das Behältnis seinen Inhalt nicht mehr preisgeben.
Kleingeld hatte seine Solidarmaßnahme für die regionalen Schlüsseldienste unterdessen zum Abschluss gebracht und nun ausreichend Muße, sich mit mir zu beschäftigen.
»Lass es sein!«, raunte er mir zu und griff mir an den Oberarm, um zu verhindern, dass ich die Dose erneut als ruhestörende Rassel einsetzte.
Ich wollte energisch protestieren, schließlich ging es in diesem Moment um nichts Geringeres als um meine Befähigung für weitere nächtliche Strafexpeditionen, aber dann vernahm ich hinter mir das Geräusch sich rasch nähernder Schritte und ich wusste, dass ich verloren hatte. Ich drehte mich um und sah Julia und Jan auf uns zukommen – beide hielten ihre Sporttasche nun in der Linken, während die Rechte fest um einen Pflasterstein geschlossen war. Noch bevor sie uns erreicht hatten, holten sie aus und ließen ihre Wurfgeschosse durch die Luft segeln. Ich vernahm dieses dumpfe Knirschen, das immer dann entsteht, wenn Glas nicht vollständig zersplittert, sondern nur eingedrückt wird, gefolgt vom Poltern der auf den Gehweg zurückschnellenden Steine. Dann verstärkte Kleingeld den Druck auf meinen Bizeps und gemahnte mich im Flüsterton, der mir nach dem gerade abgeebbten Lärm reichlich albern vorkam, dass wir jetzt abzuhauen hätten.
Ich riskierte einen letzten Blick, sah Jan mit beiden Händen eine halbe Gehwegplatte aus der inzwischen abgestellten Tasche heben, und nahm die Beine in die Hand.
Gemeinsam rannten Kleingeld und ich bis zur nächsten Straßenkreuzung, dann trennten wir uns. Ich überquerte die Fahrbahn, wobei ich vom Galopp in ein ruhiges Ausschreiten wechselte, während mein Begleiter nach links abbog.
Unter normalen Umständen wäre ich nach ein oder zwei Haken auf dem kürzesten Weg in unser trautes Heim zurückgekehrt. Angesichts des gerade erlebten Waterloos erfüllte mich dieser Gedanke jedoch mit Schaudern. Und so lief ich stattdessen an die zwanzig Minuten in die immergleiche Richtung. Um ein Haar hätte ich dabei vergessen, die Sprühdose zu entsorgen. Ich versenkte das hundertfach verfluchte Stück Hexenwerk im Müllcontainer einer Dönerbude.
Als ich schließlich umkehrte, tat ich das im Bewusstsein der absoluten Niederlage. Hohn und Spott würden noch das Geringste sein, was ich mir von den anderen würde anhören müssen. Vielleicht hatte ich ja Glück und sie waren schon zu Bett gegangen.
Eine närrische Hoffnung, wie ich nach meinem Eintreten in den Flur erkennen musste. Denn meine Mitstreiter schienen offenkundig auf mich zu warten. Sie saßen bei Kerzenlicht in der Küche und reagierten auf mein Erscheinen mit einer Mischung aus Erleichterung und angestauter Aggression.
»Na, endlich«, entfuhr es Jan, »wir haben uns schon Sorgen gemacht.«
Kleingeld ergänzte diesen Befund mit den Worten: »Um genau zu sein, haben wir damit gerechnet, dass du eingefahren bist.«
Noch bevor ich ein Wort der Entschuldigung hervorbringen konnte, hatte sich Julia erhoben und vor mir aufgebaut.
»Gibt es irgendeine Erklärung dafür, dass du hier mit einer derartigen Verspätung antanzt?«, fragte sie, und dabei lag nichts in ihrem Blick, was auch nur ein Minimum an Trost versprach.
»Ich brauchte einfach ’ne Weile, um die Pleite mit dieser verkackten Dose zu verdauen«, sagte ich, was zwar der Wahrheit entsprach, aber in diesem Moment so kläglich klang wie die Ausrede eines Erstklässlers, der absichtlich auf dem Schulweg getrödelt hatte.
»Ach, weil also irgendwas nicht so läuft, wie du das gerne hättest, meinst du, du kannst mal eben komplett auf die Gruppe scheißen«, ätzte Julia.
Während mir die Empörung, die ihre Pupillen versprühten, einen Flammenteppich auf die Wangen legte, kristallisierten sich aus dem Gedankenbrei in meinem Kopf zwei Wünsche heraus – beide gleichermaßen dem Verlangen entsprungen, aus der defensiven Position, in der mich befand, zurück in die Vorwärtsbewegung zu kommen: Julia, ohne dass sie dabei ihre Vorhaltungen unterbrach, auf dem Küchentisch zu vögeln oder mir einen Schluck Bier die Kehle hinabrinnen zu lassen.
Da letzteres deutlich leichter zu haben war, schob ich mich an meiner Anklägerin vorbei und öffnete die Kühlschranktür.
»Ja, und jetzt natürlich erst mal schön einen saufen, auf den Erfolg«, höhnte Julia hinter meinem Rücken, noch bevor ich den Kronkorken von der Flasche hatte.
»Komm, entspann dich ’n bisschen«, intervenierte Jan. »Gegen ein Feierabendbier ist doch nun wirklich nichts einzuwenden.«
»Für mich ’ne Mate, bitte«, ließ sich Kleingeld vernehmen.
Ich erfüllte ihm sein Begehr.
Aber Julia war noch nicht fertig: »Von mir aus kann sich jeder ’n Trip einklinken und mit ’ner Flasche Wodka nachspülen. Aber erst, nachdem wir die Aktion besprochen haben. Und das gilt natürlich besonders dann, wenn einige Dinge grob schiefgelaufen sind.«
Das Zielfernrohr ihrer rechtschaffenen Verärgerung richtete sich erneut auf mich: »Hast du diese Sprühdose eigentlich mal auf ihre Funktionsfähigkeit geprüft, bevor du sie eingesteckt hast?«
»Ja, hab ich. Und sie hat ja auch funktioniert. Wenigstens am Anfang …«
»Aber daran, dir ’ne Ersatzdose mitzunehmen, hast du nicht zufällig gedacht, oder?!«
Ich blieb ihr die müßige Antwort schuldig und nahm stattdessen einen ausgiebigen Schluck Holsten Edel.
Das machte sie richtig wütend.
»Dir ist das alles scheißegal, ne?! Herrgott, wenn die Bullen nicht schon aus ihrem Misthaufen gekrochen wären, würde ich dich am liebsten noch mal losschicken, damit du diese Versagernummer zu Ende bringst.«
Jetzt war es an mir, einen aufgebrachten Ton anzuschlagen. Verehrung hin oder her, allein aus strategischen Gründen war ich gut beraten, mich nicht völlig zum Honk machen zu lassen. Angriffsmöglichkeiten boten sich reichlich. Ich wählte die erste, die mir durch den Kopf schoss.
»Klar, die Botschaft ist ja bei so ’nem krassen Kommandounternehmen auch immer das Allerwichtigste. Nicht, dass die werktätigen Massen am Ende den Tag noch ohne die weisen Worte der Revolution beginnen müssen. Vielleicht machst du dir besser mal klar, dass ich da sonst was an die Mauer hätte schreiben können. Der Sinn unserer Großtat hätte sich trotzdem nicht vermitteln lassen. Für die meisten Leute ist das nichts weiter als die Beschädigung fremden Eigentums. Und zwar aus reiner Zerstörungswut oder jugendlichem Leichtsinn, oder noch schlimmer: aus purem Neid. Selbst ich könnte nicht mal eben erklär’n, inwiefern zwei kaputte Scheiben und ein verklebtes Schloss in der Lage wären, dem System zu schaden.«
Verdammt, mit der letzten Bemerkung war ich deutlich zu weit gegangen. Um das zu erkennen, hätte es den vernichtenden Blick aus Julias Augen gar nicht gebraucht. Zum Glück kam ihr Kleingeld mit einer Antwort zuvor.
»Mann, auf das System ist geschissen. Erst mal müssen wir unsern Kiez sauber halten.«
Kiez? Hatte Kleingeld tatsächlich Kiez gesagt? Nach meinem Dafürhalten das Unwort des Jahrhunderts. Alle, die auch nur eine Tätowierung am Leib trugen oder sich ein Stück Metall ins Gesicht hatten schrauben lassen, wohnten plötzlich im oder noch schlimmer: auffem Kiez. Und wenn sie doch mal einen Stadtteil behausten, der sich dieser Zuschreibung erfolgreich erwehrte, dann wollten sie wenigstens in ihrer Freizeit durch oder über den Kiez ziehen und dabei Getränke konsumieren, denen die Werbeindustrie das Gütesiegel Schlüpferstürmer der Subkultur verliehen hatte – Astra beispielsweise oder Fritz-Kola oder Sterni. Und natürlich musste der Kiez stets verteidigt werden, gegen Schwaben oder Touris oder Investoren oder wen auch immer. Fehlte nur noch ein entsprechender Aufnäher, vielleicht mit dem Aufdruck Ich bin stolz, ein Kiezbewohner zu sein.
Bei einem derart schwachen Aufschlag war es ein Leichtes, den Ball knapp hinters Netz zurückzuspielen: »Ach, wir entscheiden jetzt also, wer sich hier ansiedeln darf und wer nicht?!«
»Nee, das vielleicht nicht … Aber wir sollten wenigstens dafür sorgen, dass sich die Scheiß-Yuppies hier nicht noch breiter machen, als sie’s ohnehin schon getan haben.« Kleingeld war wirklich ein Geschenk des Himmels.
»Na, klar, die Yuppies«, höhnte ich mit süßlicher Stimme. »Die sind natürlich an allem schuld.« Den Zusatz vielleicht sind sie sogar unser Unglück konnte ich mir gerade noch verkneifen. Stattdessen sagte ich: »Und wer legt das fest, wer Yuppie ist und wer nicht? Du? Oder ich? Oder das Komitee zur Reinhaltung des Stadtteils? Und wenn die so ’nen fiesen Yuppie ausgemacht haben, darf der das Viertel dann nicht mehr betreten? Oder nur noch tagsüber? Vielleicht mit Passierschein? Oder steckt man so einen nicht besser gleich ins Umerziehungslager beziehungsweise ins Latte-macchiato-Ghetto? Alter, es ist doch völlig aberwitzig zu glauben, das Glück dieses Planeten hinge vom Verschwinden einer bestimmten Bevölkerungsschicht ab, mal ganz davon abgesehen, dass die Gruppe, über die wir hier sprechen, noch nicht mal klar zu definieren ist.«
Kleingeld starrte mich über seine Mate-Flasche hinweg feindselig an, blieb aber, wie ich es erwartet hatte, vollkommen still.
Es war Jan, der die Antwort übernahm: »Es geht doch überhaupt nicht um Yuppies, oder wenn, dann nur vordergründig. Es geht darum, dass hier seit Jahren die Mieten explodier’n, dass alteingesessene Bewohner verdrängt und aus ihren sozialen Bindungen gerissen werden und dass wir dem irgendwas entgegensetzen müssen.«
Damit hatte er natürlich Recht. Trotzdem wollte oder konnte ich jetzt nicht einfach klein beigeben. Außerdem stellte sich immer noch die Frage, ob der Angriff auf ein Bekleidungsgeschäft tatsächlich ein probates Mittel war, um den Prozess, von dem Jan gesprochen hatte, aufzuhalten.
»Und du meinst, mit ein paar eingeschmissenen Schaufenstern lässt sich der Zuzug von unliebsamen Personengruppen stoppen?«
»Na, klar, das schreckt ab. Die Versicherungsprämien steigen und die Angst auch. Davon ab: Wir sind ja gar nicht gegen Veränderungen, auch nicht gegen den Zuzug von Reichen oder Yuppies oder wie auch immer du die Leute nennen willst, die sich hier ’ne Eigentumswohnung klarmachen. Nur: Die Mischung muss stimmen. Aber wieso erklär ich dir das eigentlich?! Du weißt das doch alles selbst.«
»Ja, klar«, gab ich zögerlich zu. »Und trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob unsere Methode die richtige ist. Das System als Ganzes ist der Fehler. Ist es da nicht kontraproduktiv, den Fokus auf seine einzelnen Teile zu legen?«
Die Replik kam augenblicklich. Und zwar von Julia: »Für jemanden, der vor zwei Tagen noch Ulrike Meinhof zitiert hat, hast du ’ne Menge gequirlter Scheiße im Kopf. Aber hey, sobald du herausgefunden hast, wie das System beseitigt werden kann, ohne seine Einzelteile anzugreifen, kannst du uns dazu ja mal ’n erhellendes Referat halten. Aber vielleicht übst du vorher noch ’n bisschen sprühen.«
Treffer! Versenkt! Ich sah hilfesuchend zu Jan, aber der ignorierte meinen Blick geflissentlich.
»Und damit weiterhin viel Spaß bei eurer Kaffeehaus-Revolution«, setzte Julia noch einen drauf, bevor sie sich abrupt umwandte und erhobenen Hauptes das Zimmer verließ.
Kleingeld folgte ihr, ohne Jan oder mich eines Grußworts für würdig zu befinden.
Ich trank in einem Zug mein restliches Bier aus, entnahm dem Kühlschrank zwei neue und ließ mich Jan gegenüber auf einen Stuhl fallen.
Nachdem wir beide eine Weile auf die Türöffnung gestarrt und schweigend an unseren Flaschen genuckelt hatten, durchbrach Jan die Stille schließlich mit genau der Frage, mit der zu rechnen gewesen war.
»Sag mal, was ist eigentlich los mit dir?« Sein Gesicht trug einen Ausdruck, wie er normalerweise Menschen zu eigen ist, die in Therapieeinrichtungen arbeiten.
»Keine Ahnung«, stöhnte ich leise, während ich mir eine Zigarette aus der Packung fingerte. »Ist wohl einfach nicht mein Tag heute. Dieser Anfängerfehler vorhin hat mich völlig aus der Spur gebracht.«
»Versteh ich ja. Aber das kann doch nicht der Grund dafür sein, hier mal eben den großen Rundumschlag zu führen.«
»Nein«, sagte ich, »das liegt wohl eher an was anderem.«
Jan hakte zum Glück nicht weiter nach, setzte allerdings ein wissendes Lächeln auf. Dann sagte er: »Du solltest morgen auf jeden Fall noch mal mit Julia sprechen. Und mit Kleingeld besser auch.«
Ja, das sollte ich wohl. Sonst hatte es sich bald erledigt mit aufregenden Begegnungen im Badezimmer.
»Wie frei willst Du sein?«
[Howard Carpendale]
In Anbetracht des Bußgangs, der mir bevorstand, hatte ich es unterlassen, mir einen Rausch anzutrinken. Die Vorstellung, Julia mit einem mittelschweren Kater gegenüberzutreten, war nicht gerade stimulierend gewesen. Zwei Bier mit Jan, zwei weitere in meinem Zimmer, dann hatte ich brav das Licht gelöscht. Das Ergebnis dieser klugen, dieser zumindest theoretisch klugen Maßnahme: ein halbgarer Promille-Level, der mich nicht schlafen ließ. Stunde um Stunde wälzte ich mich von einer Seite auf die andere, während meine Gedanken mal zu den Ereignissen des vergangenen Abends wanderten, mal Sätze formulierten, die Julia milde zu stimmen vermochten, mal die Antwort auf die Frage abwogen, ob ich nicht vielleicht doch noch ein Bier …
Es musste fünf oder sechs geworden sein, bevor sich die Notbeleuchtung in meinem Kopf endlich abgeschaltet hatte.
Entsprechend spät war es, als ich erwachte. Längst war die Phase des Tages angebrochen, in der man sich in einer anständigen deutschen Firma mit Mahlzeit zu begrüßen pflegt. Rasch befriedigte ich mein Verlangen nach Nikotin, dann zog ich mich an. Die Idee, mir eine weitere Kippe und damit eine Gnadenfrist zu genehmigen, verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war. Der Wunsch, die lästige Angelegenheit hinter mich zu bringen, war stärker. Und so nahm ich all meinen Mut zusammen und trat hinaus auf den Flur.
Der Rest der Wohnung empfing mich mit einer ungewohnten Stille – weder war Musik zu hören, noch Stimmengewirr, noch das enervierende Geräusch unserer für gewöhnlich in der Heavy Rotation vor sich hin rumpelnden und pfeifenden Vorkriegswaschmaschine. Offenbar war der Rest der Rasselbande ausgeflogen. Einem ersten Moment der Erleichterung folgte die Erkenntnis, dass ich die Ungewissheit und dieses flaue Gefühl, das eben jener Ungewissheit wie ein liebeskranker Sonderschüler hinterherdackelte, nun noch länger, ja, möglicherweise stundenlang mit mir herumzutragen hatte.
Als ich auf dem Weg zum Bad an Julias Zimmer vorbeikam, meinte ich hinter ihrer Tür allerdings ein Geräusch zu vernehmen. Ich presste mein Ohr ans Holz, und tatsächlich: Da war ein leises Klirren, so, als würde jemand mit Gläsern hantieren. Sie war also doch zu Hause! Das flaue Gefühl gewann an Größe. Nun gab es keinen Aufschub mehr. Oder vielleicht doch? War es nicht wesentlich cleverer, eine unverfängliche Gesprächssituation herbeizuführen? Sich beispielsweise in die Küche zu setzen und dort auf Julia zu warten? Ich könnte Brötchen holen und Kaffee kochen … Ohnehin hatte ich mich zuallererst einmal in einen halbwegs präsentablen Zustand zu versetzen, mir also wenigstens eine Berberdusche angedeihen zu lassen.
Ich hatte meinen Gehwerkzeugen gerade den Befehl erteilt, wieder Fahrt aufzunehmen, als in erschreckend geringer Entfernung plötzlich Julias Stimme erklang.
»Warte, ich hol ’ne neue«, sagte sie.
Dann wurde auch schon die Tür aufgerissen, und ich hatte alle Mühe, den entscheidenden Schritt zur Seite zu machen, um nicht umgerannt zu werden. Julia, die sich gezwungen sah, ihrerseits auszuweichen, stieß einen ärgerlichen Laut aus und blieb abrupt stehen. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine Falte, die nichts Gutes verhieß.
»Ich wollte gerade zu dir«, sagte ich schnell, bevor ihr noch der Gedanke kam, ich könne an der Pforte zu ihrem Privatgemach gelauscht haben. Verdammt, ich hatte mir noch nicht mal die Zähne geputzt!
»Ja?«
»Ich wollte … also wegen gestern …«, setzte ich an, verlor den Faden aber gleich wieder, als mir Julias Aufzug bewusst wurde.
Sie trug nichts als Slip und T-Shirt und hielt eine leere Sektflasche in der Linken. Und dann gab sie, während ich dieses Bild noch einzuordnen versuchte, plötzlich den Blick auf ihr Bett frei. Und in diesem Bett saß, den freien Oberkörper an die Wand gelehnt, ein Sektglas in der Hand … Lasse!
Aber das konnte nicht sein. Lasse stand doch auf Männer. Zumindest hatte Jan das erwähnt. Und der kannte Lasse schließlich schon länger. Oder war Lasse vielleicht bi?
»Ja?«, sagte Julia wieder.
Ich war nicht der Lage, meine Verwirrung zu verbergen: »Sollte Lasse nicht im Krankenhaus sein?«
»Ah, du wolltest mit mir über die nachlassende Arbeitsmoral im Gesundheitswesen sprechen«, gab Julia belustigt zurück. Und dann etwas weniger sarkastisch: »Lasse macht blau.«
Der Simulant prostete mir fröhlich zu: »Gastritis.«
»Ach so … ja, das ist natürlich, äh …« Ich wandte mich wieder an Julia: »Eigentlich wollte ich mich bei dir wegen gestern Abend entschuldigen. Ich habe mich da irgendwie in Rage geredet. Warum, kann ich gar nicht sagen. Was ich aber sagen kann, ist, dass so etwas nie wieder vorkommen wird. Nie wieder. Versprochen!«
»Deine Versprechungen kannst du dir erst mal sonst wohin schieben«, entgegnete Julia, sah dabei aber längst nicht so verstimmt aus, wie es ihre Worte hätten vermuten lassen. »Es geht doch hier einzig und allein um die Frage, ob du hinter dem stehst, was wir wollen. Falls ja, müssen wir über gestern Abend kein Wort mehr verlieren. Falls nein, sollten wir besser getrennte Wege geh’n. Denn eins brauchen wir ganz bestimmt nicht, und das ist Unentschlossenheit.« Damit ließ sie mich stehen, um endlich die leere Flasche gegen eine volle auszutauschen, die sie dann gleich gemeinsam mit Lasse …
»Hey, ich bin entschlossen!«, rief ich ihr hinterher, während ich wie ein Drogenopfer auf ihre sich wiegenden Hinterbacken starrte. Und dann, mehr zu mir selbst: »Ich bin fest entschlossen.«
Nachdem Julia in der Küche verschwunden war, begab ich mich ins Bad, klappte die Klobrille hoch und entleerte meine Blase im Stehen – ein Vergnügen, das ich mir schon lange nicht mehr gegönnt hatte.
Als ich danach erneut an Julias Zimmer vorbeikam, war die Tür wieder verschlossen. Von drinnen waren Musik und unangenehm vertrauliches Gekicher zu hören. Ich zog mir die Jacke an und schlüpfte in meine Adidas Allround. Ich brauchte frische Luft.
Ich besorgte mir beim Bäcker einen Kaffee, ließ mich auf einer der Bänke nieder, die den – heute wohltuend unbelebten – Kinderspielplatz säumten, und überdachte meine Lage: Jan hatte ich, was die Teilnehmerliste für den großen Hahnenkampf betraf, natürlich von Anfang an auf dem Zettel gehabt. Schließlich war er aus demselben Grund in die WG gezogen wie ich. Auch Kleingeld war zweifelsohne in Julia vernarrt. Allerdings gestand ich ihm aufgrund seines Äußeren eher geringe Chancen auf den Turniersieg zu. Er war nicht nur mit einer Figur gestraft, die sich zuallererst durch einen gewaltigen Schmerbauch auszeichnete, der von den Stelzen eines Bulimikers getragen wurde, sondern auch derart schlampig gekleidet, dass er Julias Anforderungsprofil unmöglich entsprechen konnte. Was nützt das teuerste Mob-Action-Jöppchen, wenn es wie ein blutverkrusteter Leichensack am Leib hängt?! Demgemäß war ich bisher von einem lockeren Dreikampf ausgegangen, der sich eher früher als später zum Duell verschlanken würde. Dass nun Lasse die Schar der Anwärter verstärkte, ja, offenbar schon einen Vorrundenentscheid gewonnen hatte, versetzte mich in nicht geringe Aufregung.
Aber Halt! Nur ruhig. Vielleicht pflegten Julia und Lasse ja nur eine ganz eigene Form der Freundschaft, eine, die ein gewisses Maß an körperlicher Nähe nicht ausschloss. Und wenn nicht? Wenn nicht? Nun, wenn da doch mehr stattfand, würde ich mich eben doppelt ins Zeug legen müssen.






