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Keineswegs entspannt ob dieser Aussicht, erhob ich mich und begann ziellos durch die Straßen zu streifen. Immer wieder schob sich dabei die Szene aus dem Flur hinter meine Pupillen, und ich hörte mich selbst, wie ich Julia voller Pathos meine uneingeschränkte Loyalität versicherte. Was dieses Dilemma betraf, war die Lösung zum Glück eine leichtere. Zwar würde ich mich hüten, meine innersten Überzeugungen zu verraten. Und natürlich würde ich mich auch weiterhin an sämtlichen Diskussionsprozessen innerhalb unseres Quintetts beteiligen – wenn auch vielleicht etwas zurückhaltender. Zukünftige Aktionen allerdings sollten ab sofort meine vorbehaltlose Unterstützung genießen.
Für den Fall, dass sie meinen politischen Ansichten noch einmal zuwiderliefen, hatte ich mir in der zurückliegenden Nacht bereits einen simplen Kniff zurechtgelegt: Ab sofort würde ich alles, was wir taten, unter der Rubrik Freizeit und Abenteuer verbuchen. In der genormten Gesellschaft stellte ja schon das kleinste Aufbegehren gegen die staatliche Ordnung einen Akt der – wenn auch temporären – Freiheit dar, den es unabhängig vom sonstigen Nutzen zu feiern galt. Außerdem war das Leben kurz und die Liebe gewiss wichtiger als sture Prinzipienreiterei.
Unterdessen hatten mich meine Schritte in die Nähe der Morbus Hansen geführt. Und obwohl ich nun wirklich jeden Grund gehabt hätte, mein Heil im Vergessen zu suchen, konnte ich der Verlockung nicht widerstehen, kurz am Tatort vorbeizuschlendern. Vielleicht hatte ja ein übereifriger Hausmeister meinem jämmerlichen »Graffito« schon den Garaus gemacht.
Leider war dem nicht so. Zwar waren die Scheiben bereits notdürftig mit Klebeband stabilisiert worden. Die fünf zusammenhängenden Lettern, die mein ganz persönliches Versagen dokumentierten, leuchteten allerdings nach wie vor in einem grellen Rot, das an die Wangen eines Harlekins erinnerte. Verpi verkündeten sie dem aufmerksamen Flaneur – was ja nichts anderes heißen konnte als Verpickelte Teenager mit sexuellen Problemen haben versucht, dieses Geschäft mit einer ihrer albernen Parolen zu verunstalten, mussten sich am Ende aber dem eigenen Analphabetismus geschlagen geben.
Ich wäre dem Schandmal am liebsten selber zuleibe gerückt, zur Not mit den Fingernägeln. Da mir das aus naheliegenden Gründen versagt war, meldete sich der für Frustbewältigung zuständige Teil meines Gehirns mit einem anderen Vorschlag. Er forderte jählings Bier ein. Und damit lag er – wie so häufig – goldrichtig: Ein kleiner Tröster aus der Flasche war nun wahrlich das Mindeste, was ich mir gönnen durfte.
Am Ende der Straße gab es einen Imbiss namens Astrids Aalverwandtschaften. Und den steuerte ich jetzt an. Da konnte ich die Freuden, die ein kaltes Holsten zu bereiten vermochte, gleich noch mit den Wonnen einer Portion Fischfrikadellen multiplizieren.
Ich war derart auf die schnelle Befriedigung meiner oralen Sehnsüchte fixiert, dass ich der restlichen Gästeschar erst Beachtung schenkte, nachdem ich dem sympathischen Muttchen mit der vorbildlich besudelten Kittelschürze, das ja nur Astrid selbst sein konnte, euphorisch meine Bestellung ins Ohr trompetet hatte. Viel los war ohnehin nicht: Ein Pärchen in den Fünfzigern, das sich schweigend eine Portion Labskaus teilte, und ein junger, leicht heruntergelebter Bursche, der mich anstarrte, als hätte er den Leibhaftigen persönlich vor sich, während er gleichzeitig versuchte, einen sogenannten Riesenknacker in seiner Jackentasche verschwinden zu lassen … Kleingeld! Was machte der denn hier?
Nun, das war ja allzu offensichtlich. Ich schob mich an den Stehtisch, an dem er lehnte, und schenkte ihm ein breites Lächeln.
»Na, schmeckt’s?«
»Ich war schnorren«, kam es ohne direkten Bezug zu meiner Frage aus Kleingelds Mundhöhle zurück, in der hektisch letzte Schweinefleischbrocken zermalmt wurden.
Eine Aussage, die vielleicht darauf hinweisen wollte, dass das ketzerische Tun, dessen Zeuge ich hier wurde, seinen Ursprung in der harten Fron des Geldverdienens hatte. Mir war das herzlich egal. Hauptsache, der Sünder fühlte sich ertappt, ergab sich doch dadurch die für mich strategisch günstige Gelegenheit, ihm einen Beweis meines Großmuts zu liefern.
»Keine Sorge«, sagte ich also, »du kannst dein Stück Aas ruhig wieder aus der Tasche holen. Ich bin ja auch nicht nur wegen der Beilagen hier.«
Das schien den Verängstigten ein wenig zu beruhigen. Er brachte den phosphathaltigen Prengel wieder zum Vorschein, zögerte aber noch, hineinzubeißen.
Ich nahm einen Schluck Bier und schielte zum Tresen, um zu sehen, was meine Bestellung machte. Dann sagte ich: »Ich wollte mich übrigens bei dir entschuldigen. Ich hätte mich gestern Abend auf keinen Fall dermaßen hinreißen lassen sollen. Aber in der politischen Auseinandersetzung verliere ich manchmal jedes Maß, weißt du.«
Kleingeld nahm den Themenwechsel mit sichtbarer Erleichterung auf.
»Kein Ding«, sagte er, während er sich mit Daumen und Zeigefinger der freien Hand ein Stückchen Pelle aus dem Oberkiefer zog, das er nach einem kurzen prüfenden Blick wieder zwischen den Lippen verschwinden ließ. »Und vielleicht hast du mit dem, was du gesagt hast, gar nicht mal so Unrecht.«
»Lass uns einfach nicht mehr davon sprechen, zumindest nicht beim Essen.«
Kleingeld nickte bedächtig und sah sich endlich in der Lage, seine Mahlzeit fortzusetzen.
Nachdem ich mir zwischenzeitlich meine Frikadellen an den Tisch geholt hatte, herrschte eine geradezu vertraute Stimmung.
»Julia war gestern echt sauer auf dich«, bemerkte Kleingeld.
»Ist mir nicht entgangen.«
»Sie hat schon darüber nachgedacht, dich rauszuschmeißen.«
»Und? Was hältst du davon?«
»Also was mich betrifft, kannst du bleiben.«
Als wir den Laden verließen, brachte Kleingeld eine Dose Pfefferminzpastillen zum Vorschein.
»Hier, für den Atem.«
Ich griff dankbar zu.
»Immer wieder kommt ein neuer Frühling«
[Peter Alexander & Heintje]
»… keine exklusiven Shopping-Gelegenheiten, keine trendy Brandstores, in denen sich ohnehin nur die bedienen können, die der Mahlstrom namens Kapitalismus seit jeher an die Oberfläche spült. Wir brauchen auch keine Wellnesstempel oder Wohlfühloasen und erst recht keine gediegene Erlebnisgastronomie. Unsere Erlebniswelten schaffen wir uns immer noch selbst. Und solange Standortlogik und Stadtmarketing-Strategien das Recht auf Wohnraum tagtäglich der Lächerlichkeit preisgeben, behalten wir uns das Recht vor, ebenfalls aktiv in die Umgestaltung unserer Umgebung einzugreifen – stellvertretend für die Vielen, die niemals eine Chance hatten, den Kampf um ein menschenwürdiges Dasein überhaupt zu beginnen. Grundbesitz vergesellschaften! Kommando Schwarzer Freitag«
Ich ließ das Blatt, von dem ich abgelesen hatte, auf die Tischplatte segeln und blickte erwartungsfroh in die Runde.
Die Begeisterung hielt sich in Grenzen.
»Schwarzer Freitag? Da fällt mir nichts zu ein … außer Robinson Crusoe natürlich.« Kleingeld wieherte, als ob ihn dieser Beleg seines Erstklässlerhumors tatsächlich begeistern würde.
Um unser gutes Verhältnis nicht gleich wieder zu gefährden, verzichtete ich darauf, ihm übers Maul zu fahren. Stattdessen sagte ich so ruhig wie möglich: »Damit ist natürlich der Zusammenbruch der Börse gemeint. Also eigentlich der Ende der Zwanziger. Aber so ein Ereignis ist ja wiederholbar.«
»Okay, ganz putzig. Aber: Kommando? Ist das nicht ein bisschen sehr dick aufgetragen?«, wandte Jan ein.
»Na, wenn wir Angst und Schrecken verbreiten wollen, sind Formulierungen, die an die Zeit des bewaffneten Kampfs erinnern, doch gar nicht das Schlechteste«, gab ich zurück.
»Ja, für den Staatsschutz vielleicht. Die warten doch nur auf so was. Und die Zeitungen sowieso.«
»Die Pfeifen vom Staatsschutz sollten, was unsere inhaltliche Ausrichtung angeht, nun wirklich die Letzten sein, die uns interessieren. Und wenn du dich an dem orientieren willst, was die Medien mögen, organisierst du vielleicht besser ’ne Lichterkette.«
Julia unterbrach unser Geplänkel.
»Also ich find’s gut. Was meinst du, Lasse?«
Was meinst du, Lasse?! Warum nicht gleich: Was meinst du, Lasse-Schatz?!
»Ich denke auch, dass wir’s so stehen lassen können. Das mit dem Kommando klingt allerdings wirklich zu abgehoben. Das sollten wir ändern. Vielleicht in Autonome Zusammenhänge?«
Autonome Zusammenhänge?! Jesus, wie ich diesen Ausdruck verabscheute. Natürlich bezog er sich auf Menschen, also auf einen (losen) Personenzusammenhang. Wem das allerdings nicht bekannt war (und dazu zählte sicher das Gros der Bevölkerung), konnte auf den Begriff nur mit Verwirrung reagieren. Denn Zusammenhänge hat es ja nicht wenige auf diesem Planeten. Von welchen war also hier die Rede? Etwa von dem zwischen mangelnder Hygiene und der Ausbreitung von Krankheiten? Oder dem zwischen einem katastrophalen Fernsehempfang und einer erhöhten Geburtenrate? Und was hatte schließlich der Zusatz autonom im Zusammenhang mit derlei Zusammenhängen zu bedeuten? Da hatte selbst der Kreuzworträtselfreund eine schöne Nuss zu knacken. Davon ab, klang der Begriff einfach altertümlich, genau wie Volksküche (am besten noch mit x statt sk geschrieben) oder Lauti und was da sonst noch alles an sprachlichen Blindgängern durch die Welt irrlichterte, als ob die Achtziger nie zu Ende gegangen wären. Kein Wunder, dass die hiesige Linke seit Jahren keinen Fuß mehr auf den Boden bekam. Wer schon in seiner Wortwahl eine derart strenge Traditionspflege betrieb, musste von Außenstehenden zwangsläufig als altbackener Trachtenverein wahrgenommen werden, dem beizutreten nur trüben Tassen Gewinn versprach.
Das alles hätte ich jetzt natürlich sagen können. Aber ich hielt hübsch den Mund, auch als Lasses Vorschlag unter dem zustimmenden Gemurmel der anderen angenommen wurde. Ich hatte mein Ziel längst erreicht, müßig jetzt noch über Nebensächlichkeiten zu debattieren.
Als Julia ein paar Tage zuvor laut darüber nachgedacht hatte, ob es Sinn machen würde, unsere nächsten Aktionen mit einer Art Bekennerschreiben zu unterfüttern, hatte ich mich ohne zu zögern bereiterklärt, einen entsprechenden Entwurf zu verfassen. Denn da war sie, die Gelegenheit zur allumfassenden Rehabilitation.
Eine Hoffnung, die sich bewahrheitet hatte. Ob nun Kommando Schwarzer Freitag, Autonome Fenstervorhänge oder Landschlachterei Herbert Schygalla & Söhne unter der Erklärung stand, spielte keine Rolle. Wie es auch zu verzeihen war, dass man meinen agitatorischen Fertigkeiten nicht den Tribut gezollt hatte, der ihnen doch unzweifelhaft zustand. Allein die Formulierung behalten wir uns das Recht vor, ebenfalls aktiv in die Umgestaltung unserer Umgebung einzugreifen hätte nach meinem Empfinden stehende Ovationen verdient gehabt. Eine bessere Umschreibung für die unverhohlene Androhung von Krawall ließ sich wohl schwerlich finden, oder? Na, sei’s drum. Die Erklärung selbst war akzeptiert worden. Und damit war ich wieder im Geschäft, genauer: im Rennen um die Schürfrechte auf dem steinigen Acker der Minne.
Tatsächlich gewährten mir die anderen die Teilnahme an den nächsten Aktionen mit einer Selbstverständlichkeit, als ob es mein anfängliches Versagen nie gegeben hätte. Auch in die Vorbereitungen war ich von nun an miteinbezogen. Ich gab dieses Vertrauen zurück, indem ich mich meinen Aufgaben mit der Hingabe eines Gläubigen widmete. Nach dem bewährten Muster nahmen wir uns die Filiale eines Mobilfunkanbieters vor, der wir einen hübschen Farbbeutel-Anschlag auf einen dieser Gourmettempel folgen ließen, die sich mittlerweile auch in unserer Gegend ausbreiteten wie Staphylokokken in der Latrine eines Pfadfinderlagers.
Kurz darauf erledigten wir in einer Nacht zwei Läden gleichzeitig. Kleingeld und ich brachten die Scheiben eines Maklerbüros zum Bersten, während sich Julia in Begleitung der anderen Buben noch einmal um die Klamotten-Klitsche in der Morbus Hansen kümmerte.
Auf das Mitführen von Sprühdosen wurde bei all diesen Gelegenheiten dankenswerterweise verzichtet. Dafür hatten wir ja unser Flugblatt, von dem wir stets ein paar Exemplare am Ort des Geschehens zurückließen. Jan hatte den Schrieb in der Uni-Bibliothek noch einmal abgetippt und dort auch vervielfältigt.
Wie nicht anders zu erwarten, interessierten sich die Zeitungen für den theoretischen Hintergrund unseres Wirkens jedoch herzlich wenig. Es war wie gewohnt von Chaoten und gewissenlosen Gewalttätern die Rede. Und das noch nicht mal in großer Aufmachung und nur selten bebildert. Nun, wir waren natürlich nicht die Einzigen, die es häufiger hinaus in die Nacht zog, und so hatte der Nachrichtenwert unserer und vergleichbarer Taten im Verlauf der letzten Monate naturgemäß nachgelassen. Stattdessen wurden die Schlagzeilen seit kurzem von einer anderen Form des Feierabendvergnügens beherrscht, hinter dem allerdings ebenfalls linksradikal motivierte Volksfeinde vermutet wurden: In schöner Regelmäßigkeit gingen in den frühen Morgenstunden Personenkraftwagen in Flammen auf, hauptsächlich Modelle der gehobenen Preisklasse. Und wenn es um das Wohl seines Lieblingsfetischs geht, legt der Deutsche ja bekanntlich eine Sensibilität an den Tag, der kein noch so großer medialer Aufwand gerecht werden kann.
»Warum Autos?«, fragte Jan beim morgendlichen Studium des örtlichen Boulevardblatts.
»Warum nicht?!«, lautete Lasses lapidare Antwort.
Und damit war zu diesem Thema auch schon alles gesagt.
Glaubten wir zumindest, bis wir feststellen mussten, dass das Treiben der Hassbrenner und Schizo-Zündler auch auf unser Leben erhebliche Auswirkungen hatte. Zwar war die Zivi-Dichte in unserem Viertel schon immer recht hoch gewesen. Nun aber nahm die Bullenpräsenz orwellsche Ausmaße an. Wannen und Staatsschutzschleudern, wohin das Auge blickte. Um den Feinden der Fortbewegung das Handwerk zu legen, ließen die Sicherheitsorgane immer häufiger sogar Hubschrauber in den Nachthimmel aufsteigen. Die Brandstifter störte das wenig, sie wichen einfach auf andere Bezirke aus. Wir aber sahen uns aufgrund dieser Entwicklung gezwungen, unseren stadtplanerischen Aktivitäten erst einmal eine Pause zu verordnen.
So plätscherte das WG-Leben eine Weile recht unspektakulär dahin, beschränkte sich auf gemeinsames Kochen und andere häusliche Aktivitäten, bis Julia eines Vormittags in meinem Zimmer erschien.
Ich war gerade dabei, CDs in ein Regal zu räumen, hatte ihr Eintreten nicht bemerkt und fuhr erschrocken herum, als sich mir ihre Hand auf die Schulter legte.
»Hey«, sagte sie und lächelte mich an.
Ich lächelte zurück. Und dann drückte sie mir, ohne dass sich ihr Gesichtsausdruck dabei veränderte, eine Packung Kondome in die Hand.
Eine unendliche Sekunde lang sah ich mich am Ziel all meiner Sehnsüchte. Die stummen Gebete, die ich Nacht für Nacht an den Schutzpatron der Onanisten gesandt hatte, waren endlich erhört worden. Denn was konnte diese zugegebenermaßen unkonventionelle Geste anderes bedeuten, als …
Und dann sagte Julia: »Vollmachen!« Und die Seifenblase, die sich in dem törichten Zellhaufen ausgebreitet hatte, den ich mein Gehirn nannte, zerplatzte.
»Äh, vollmachen? Aber … womit denn?«, stotterte ich, aufrichtig durcheinander, weil ich mir auf dieses Ansinnen partout keinen Reim machen konnte.
Wollte Julia Wasserbomben anfertigen und damit auf Passanten zielen? Aber um den Hahn aufzudrehen, brauchte sie ja wohl kaum meine Hilfe. Nein, sie musste etwas anderes im Schilde führen. Aber was? Vielleicht eine künstliche Befruchtung, für die sie eine Samenspende …
Julia erlöste mich aus meiner Verwirrung.
»Na, mit dem hoffentlich harnsäurereichen Inhalt deiner Blase natürlich. Weniger vornehm ausgedrückt: Du sollst die Dinger mit Pisse füllen.«
Mit den Wasserbomben hatte ich also gar nicht so falsch gelegen.
»Ah, ich verstehe. Und was machen wir, nachdem ich den hoffentlich harnsäurereichen Inhalt meiner Blase diesen Latexhüllen überantwortet habe?«
»Das erfährst du später. Wäre nur gut, wenn die Kondome nicht gleich bei der ersten Berührung platzen würden. Drittel Tennisballgröße reicht in etwa. Meinst du, du schaffst das innerhalb der nächsten zwei Stunden?«
»Ich werde mich auf nichts anderes konzentrieren, Genossin Waffentechniker.«
Und so stand ich kurze Zeit später vor der Kloschüssel – den ersten Präser etwa einen halben Zentimeter über die Spitze meines Schwanzes gezogen – und übte mich im Unterbrechen meines Harnflusses. Das gelang zuerst auch ganz gut. Als es dann aber ans Zuknoten ging – eine Tätigkeit, die mir schon als Kind das Spielen mit Ballons verleidet hatte –, ließ meine Selbstbeherrschung gewaltig nach. Schließlich sah ich mich gar genötigt, das Gefummel mit der glitschigen Hülle zu unterbrechen und mich dem (im wahrsten Sinne des Wortes) brennenden Verlangen meines Leibes vollständig zu unterwerfen. Nun konnte ich zwar das erste Kondom, das ich immer noch in der Linken hielt, in aller Ruhe mit einem hübschen Doppelknoten versehen, verfügte aber über keinerlei Möglichkeiten mehr, diesem ersten Erfolgserlebnis weitere folgen zu lassen. Ich war das Manöver deutlich zu euphorisch angegangen.
Jetzt waren Forschergeist und vor allem Bedacht gefragt. Der nächste Versuch musste gelingen. Als Erstes ging ich in die Küche und setzte eine Kanne Kaffee auf. Zusätzlich entnahm ich dem Kühlschrank einen halben Liter Pepsi.
Während ich beiden Getränken abwechselnd zu Leibe rückte, dachte ich angestrengt nach. Ich brauchte unbedingt ein paar Hilfsmittel, in jedem Fall einen Trichter. Kurz kam mir der Filter der Kaffeemaschine in den Sinn, aber selbst der größte revolutionäre Eifer sollte Grenzen kennen. Nein, es musste noch etwas anderes geben. Sorgfältig sah ich mich um, scannte die Schränke und Regale, die Ablage und den Boden … und dann hatte ich es: Natürlich! Unser Leergut!
Schnell hatte ich zwei leere Plastikflaschen aus der Sammlung gefischt. Der einen säbelte ich unter Zuhilfenahme eines Brotmessers den Boden ab, die andere beließ ich, wie sie war. Ja, so würde es gehen. Zufrieden setzte ich mich an den Tisch und steckte mir eine Zigarette an. Nun hieß es weiter trinken und abwarten.
Als ich mich nach etwa einer Stunde in der Lage sah, den zweiten Versuch in Angriff zu nehmen, gestaltete sich der Vorgang so glatt, als ob ich ein Leben lang darauf hintrainiert hätte. Ich agierte wie eine Laborfachkraft, die sich auf dem Gebiet der Natursektfabrikation bereits ein beachtliches Renommee erworben hat, füllte in aller Ruhe zuerst die unbeschädigte Flasche, um hernach die gewünschte Menge durch den improvisierten Filter laufen zu lassen, über dessen Ende ich vorher eins der Präservative gestreift hatte.
Nachdem die Packung, die mir Julia in die Hand gedrückt hatte, dergestalt verarbeitet war, verfügte ich über vier vorschriftsmäßig verschlossene Ballons, die in etwa der gewünschten Größe entsprachen (nur das Exemplar aus der ersten Versuchsreihe war ein wenig praller geraten). Zusätzlicher Pluspunkt: Ich hatte noch nicht mal wirklich herumgesaut. Nichtsdestotrotz spülte ich die Urin-Castoren noch einmal mit Wasser ab, bevor ich sie vorsichtig in eine Plastiktüte gleiten ließ.
Etwas unangenehm war es mir schon, als ich mit der unappetitliche Fracht kurz darauf in Julias Zimmer trat.
Julia dagegen schien völlig frei von derartigem Erziehungsballast.
»Und?«, fragte sie erwartungsvoll.
»Erledigt.«
»Wunderbar, dann können wir ja loslegen. Zieh dich möglichst schick an. Wir geh’n shoppen.«
Schick anziehen? Heute war offenbar der Tag der persönlichen Herausforderungen. Ich kämpfte mich durch meine Garderobe, die zu einem nicht geringen Teil noch immer in Umzugskisten lagerte. Nach diversen Anproben entschied ich mich schließlich für ein schlichtes schwarzes Poloshirt und die einzige Blue Jeans, die ich besaß. Danach brachte ich meine Frisur in Form und ließ ausgiebig Deo an meine Achseln. Was Jacke und Schuhwerk betraf, hatte ich leider nicht allzu viel Auswahl. Also zog ich das an, was ich bei dem vorherrschenden Wetter täglich zu tragen pflegte: Meine guten Allround und das Carhartt Brooks Jacket (Nylon lined). Immerhin war beides frei von größeren Verunreinigungen. Ein abschließender Blick in den Spiegel ließ mich folgendes Fazit ziehen: Richtig schick sah ich nicht aus. Passabel traf es wohl eher (um mal die Ausdrucksweise meine Mutter zu bemühen). Aber wenn Julia mich nicht gerade zu den teuersten Adressen der Stadt schleppen wollte, sollte es reichen.
Ihr Anblick ließ allerdings darauf schließen, dass es genau dort hingehen sollte: kniehohe Stiefel, Strumpfhose, halblanger Rock, Steppjacke mit Kunstpelzbesatz, überdimensionierte Handtasche – alles in diesem Stil, der trotz des Verzichts auf allzu offensichtlichen Luxus nicht verhehlen will, dass er für ein Leben ohne finanzielle Sorgen steht. Wenn ich Julia nicht gekannt hätte, hätte ich sie ohne zu Zögern für die Hauseigentümerin gehalten, die mal eben von der Elbchaussee herübergekommen war, um eine Inspektion ihres Besitzstands vorzunehmen. Der Sonnenbrille, die Julias penibel zum Pferdeschwanz gebundenes Haar zierte, hätte es gar nicht mehr bedurft.
»Wow!«, entfuhr es mir in einem Ausbruch unkontrollierter Begeisterung.
Julia verdrehte die Augen.
»Spar dir deine sexistische Einzellerscheiße. Und bevor du fragst: Nein, die Klamotten sind nicht bezahlt. Die gab’s umsonst von der Frauenbefreiungsfront, um Typen wie dich zu paralysieren, ohne dafür Munition zu vergeuden.«
Ich hielt es für geboten, das Thema zu wechseln.
»Hast du die Kondome?«
Julia ließ mich einen Blick in ihre Tasche werfen.
Ich erkannte die Tüte, die ich mir gegriffen hatte, entdeckte daneben aber noch mindestens zwei weitere Plastebeutel. Hatten die anderen etwa auch …?
»Haben die anderen etwa auch …?«
»Aber sicher.«
Nachdem wir eine Weile durchs Viertel geschlendert waren, hakte sich Julia bei mir ein. Dann ging es in den ersten Laden, eine Klitsche namens Rarer Stoff, die sich auf sündhaft teure Designermode spezialisiert hatte. Für mich hätte der Film in diesem Moment ruhig an Geschwindigkeit verlieren können. Denn war das nicht eine dieser Szenen, die sich das von Geldsorgen und Figurproblemen gebeutelte Publikum stets so sehnlich herbeiwünscht: Ein junges, sorgloses Paar, das da voller Lebensfreude ein exklusives Geschäft betrat, um die werktätigen Massen am ererbten Vermögen teilhaben zu lassen, ohne auf den Cent zu achten? Sicher, neben der blonden Schönheitskönigin fiel der männliche Teil des Duos deutlich ab, aber die MasterCard Platinum, die er gleich zücken würde, wog seine optischen Unzulänglichkeiten mehr als auf …
Julia ließ mich los und begann mit einer bemerkenswerten Mischung aus Neugier und Überdruss an den wenigen im Raum verteilten Kostbarkeiten vorbeizuschlendern, während ich Ulrike halten durfte, der heute ausnahmsweise an der Leine geführt wurde.
Da wir aktuell die einzige Kundschaft darstellen, war es nur natürlich, dass sich die Inhaberin, eine zierliche Mittfünfzigerin im nadelgestreiften Hosenanzug, verpflichtet fühlte, ein wenig Smalltalk zu betreiben.
Sie ging in die Hocke und begann, Ulrikes Quadratschädel zu tätscheln.
»Wie heißt er denn?«
»Ulrich«, log ich, während ich aus dem Augenwinkel registrierte, dass Julia mit einem Fetzen über dem Arm in der Umkleidekabine verschwand.
»Schönes Tier. Rottweiler-Labrador, oder? Ich hatte auch mal auch so einen. Ist in Spanien leider von der Guardia Civil erschossen worden, als er einen Mountainbiker vom Rad geholt hat.«
Sie sah mit einem wehmütigen Lächeln zu mir auf, gönnte mir einen Blick in ihr sonnengebräuntes, von Lachfalten durchzogenes Gesicht, das den Eindruck vermittelte, sie hätte ihr halbes Leben auf Segelbooten verbracht.
Verdammt, die Dame schien ausgesprochen nett zu sein. Zum Glück unterbrach Julia unseren Plausch.
»Liebling, kannst du mir mal helfen, bitte?«
Mit einer Geste des Bedauerns ließ ich meine Gesprächspartnerin zurück, befahl Ulrike sich abzulegen und schlüpfte hinter den Vorhang.






