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Das Modell von De Swaan (2001) zeigt zudem, dass Sprachprestige keine natürlich gewachsene Rangordnung von Sprachen ist, die auf objektiven Kriterien o.ä. basiert. Vielmehr ist Sprachprestige gesellschaftlichen Umbrüchen, sozialen Ordnungen sowie historischen Entwicklungen geschuldet und über längere Zeitperioden entstanden. Es ist eng verknüpft mit ökonomischen Vorteilen für die Sprecher und mit ihrer Positionierung im sozialen Raum, weshalb es nicht losgelöst von diesen Faktoren betrachtet werden kann (vgl. ebd.: 6). Sprachprestige durchzieht darüber hinaus die Bildungspolitik und äußert sich über die zentripetale Lernrichtung in gesetzlichen Bestimmungen europäischer Sprachenpolitik, in institutionell etablierten und geförderten Fremdsprachen sowie in den Einstellungen der Bevölkerung bestimmten Sprachen gegenüber.
Die Eurobarometer-Umfrage zu den in der EU gesprochenen Sprachen stellte beispielsweise fest, dass die offiziellen europäischen Bemühungen um eine m+2-Sprachenpolitik1 sich in erster Linie in einem Ausbau der Englischkenntnisse, also der hyperzentralen Sprache, niederschlagen (vgl. Europäische Kommission 2012). Diese Dominanz des Englischen reflektierend betitelt De Swaan das Kapitel zu europäischen Sprachverhältnissen in seiner Arbeit auch passenderweise mit „The European Union – The more languages, the more English“ (vgl. De Swaan 2001). Nach wie vor stellt Englisch gefolgt von Französisch und Deutsch die am häufigsten gelernte europäische Fremdsprache dar (vgl. Europäische Kommission 2012: 7). Zwei Drittel der europäischen Bürgerinnen und Bürger sind davon überzeugt, dass Englisch nach ihrer Landessprache die wichtigste Sprache sei (vgl. ebd.: 8). Minderheitensprachen – ob autochthone oder allochthone – werden in der Umfrage nicht thematisiert, was erneut ihre Stellung in der Peripherie der öffentlichen Wahrnehmung unterstreicht.
Eine repräsentative Umfrage zu Sprachprestige im deutschen Kontext, die auch Minderheitensprachen berücksichtigt, legten Gärtig und Kollegen vor (2010). Sie konnten die Ergebnisse der Eurobarometer-Studie bestätigen: Die deutsche Bevölkerung befürwortete stark das europäische Mehrsprachigkeitsziel (vgl. ebd.: 250) und bekräftigte, dass Englisch, Französisch und Spanisch in der Schule als Fremdsprachen gelehrt werden sollten. 7,5 % wünschten sich zudem, dass zukünftig Chinesisch an deutschen Schulen unterrichtet wird (vgl. ebd.: 250). Chinas Entwicklung zur global agierenden und aufstrebenden Nation steigerte also in den letzten Jahren stark den Kommunikationswert des Chinesischen und spiegelt sich bereits in einer wahrnehmbaren Erhöhung seines Prestiges wider. Gleichzeitig empfanden die Deutschen fremdsprachige Akzente oben genannter Sprachen sowie Sprachen beliebter angrenzender Urlaubsländer auf subjektiver Ebene als besonders schön (Französisch, Italienisch, Englisch, Spanisch). Gefragt nach den unangenehmsten Akzenten, wurde hingegen eine russisch-, türkisch- oder polnischgefärbte Aussprache genannt (vgl. ebd.: 244-247). Jeweils ein Drittel der Befragten gab an, Schwierigkeiten bei der Verständigung mit Migranten zu haben oder es nicht gutzuheißen, wenn diese in manchen Bereichen ausschließlich ihre Muttersprache verwendeten (vgl. ebd.: 236ff.). Auf der anderen Seite begrüßten über 80 % der Bevölkerung den Erhalt von autochthonen Minderheitensprachen in Deutschland.
Die Studie von Gärtig und Kollegen (2010) verdeutlicht zusätzlich zu einer ubiquitären Rangordnung unterschiedlicher Sprachen zwei weitere Punkte: Zum einen führt die große Befürwortung autochthoner Minderheitensprachen offenbar nicht dazu, dass auch deren Unterrichtung in der Schule gefordert wird. An dieser Stelle spielt sicherlich der Kommunikationswert dieser Sprachen abseits von ideellen Vorstellungen eine, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle. Zum anderen ist ein hohes Prestige einer Sprache wie Russisch im globalen Sprachsystem noch kein Garant für ihre Akzeptanz. Dass Sprachprestige sogar top-down installiert werden kann und gesellschaftliche Machtverhältnisse noch lange nach einer Änderung dieser unmittelbar reflektiert, wird in der Studie gerade am Russischen deutlich. So sprachen sich noch zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung gut 40 % der Bevölkerung in den Bundesländern der ehemaligen DDR für Russisch als Fremdsprache in der Schule aus (vgl. ebd.: 251).
Eine von der deutschen Bevölkerung ausdrücklich verlangte Förderung erfahren die Sprachen von autochthonen, auf europäischem Territorium alteingesessenen Minderheiten offiziell in der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (ECRM, vgl. Europarat 1992). Ihr Ziel ist der Erhalt und der Schutz dieser Sprachen, was insbesondere das Recht auf ihre institutionelle Verankerung im Bildungswesen umfasst. Aber auch ihre Verwendung in den Bereichen Medien, Justiz, Kultur und Verwaltung soll gesetzlich gestärkt und garantiert werden. Von diesem Schutz profitiert in Deutschland beispielsweise die dänischsprachige Minderheit in Schleswig-Holstein. Hier bestehen neben einem sehr gut ausgebauten Netz an bilingualen Programmen in Bildungseinrichtungen aller Stufen und Zweige rein dänischsprachige Schulen, zahlreiche sprachlich-kulturelle Angebote und Lerngelegenheiten für alle Altersgruppen (vgl. Andresen 1997: 96; Boysen 2011: 13). Diese geradezu mustergültige Unterstützung des Dänischen trägt entscheidend zu seiner Stärkung, Anerkennung und zu seinem Erhalt bei, sodass heutige Schätzungen von bis zu 50.000 aktiven Dänischsprechern in Schleswig-Holstein ausgehen (vgl. ebd.).2
Für die anderen autochthonen Minderheitensprachen auf deutschem Territorium, also Sorbisch, Nord- und Saterfriesisch, Niederdeutsch sowie Romanes, stellt sich die Lage trotz eines ebenfalls durch die ECRM garantierten Schutzes gänzlich anders dar. Im Gegensatz zu ihnen verfügt das Dänische nicht nur über einen schriftsprachlichen Standard, sondern auch über den Status als Nationalsprache des benachbarten Königreichs Dänemark, was es zu einer zentralen Sprache macht, ihm einen größeren Wert auf dem „sprachlichen Markt“ zuschreibt und sein Prestige erhöht (vgl. Maas 2008: 67). Hierdurch wird die Tradierung der Sprache an nachfolgende Generationen vereinfacht, ihre Verwendung als Medium der Bildung und Unterrichtskommunikation gerechtfertigt und der Spracherhalt erleichtert. Obwohl beispielsweise Sorbisch genauso über einen schriftsprachlichen Ausbau und bilinguale Bildungsangebote verfügt, bedarf es eines starken sprachpolitischen Engagements der Sprecher, um den Verlust dieser peripheren Sprache auf lange Sicht aufzuhalten (vgl. Bundesministerium des Innern 2015: 48) – für sie gibt es keinen „Markt“. An dieser Stelle wird bereits deutlich, welche Position Sprachprestige für den Erhalt oder Verlust von Sprachen in Minderheitenkonstellationen einnimmt, selbst wenn diese offiziell anerkannt und per Gesetz geschützt und gefördert werden. Dies gilt umso mehr für allochthone Sprachen von zugewanderten Minderheiten, die von dieser Förderung explizit ausgeschlossen sind.
Die an etablierten großen Nationalsprachen ausgerichtete europäische Sprachpolitik spiegelt sich ebenso in dem Fremdsprachenangebot an deutschen Schulen wider. Nicht nur die flächendeckende Einführung des Englischen3 ab Klasse 1, auch die Teilnehmerzahlen an in der Schule angebotenen modernen Fremdsprachen belegen diese implizite Rangordnung unterschiedlicher Sprachen (s. Tabelle 1). So lernte beispielsweise in dem Schuljahr 2015 / 2016 die größte Mehrheit der Schülerinnen und Schüler in Deutschland Englisch als Fremdsprache (87 %), mit weitem Abstand gefolgt von Französisch (18 %) und Spanisch (5 %). Der Anteil an erteiltem Unterricht in Russisch oder Türkisch, den größten allochthonen Sprachen in Deutschland, lag hingegen bei 1,3 % bzw. 0,6 %.
Fremdsprache TN gesamt TN Grundschule TN Gymnasium Englisch 7.221.431 1.725.656 2.264.245 86,6% 23,9% 31,4% Französisch 1.495.193 96.695 908.808 17,9% 6,5% 60,8% Spanisch 416.997 2.720 295.342 5,0% 0,7% 70,8% Russisch 111.185 2.267 51.208 1,3% 2,0% 46,1% Türkisch 50.862 28.823 2.827 0,6% 56,7% 5,6%Tab. 1:
Teilnehmer am Fremdsprachenunterricht im Schuljahr 2015 / 2016 im Vergleich (vgl. Statistisches Bundesamt 2017a)
Unter dem Aspekt der Schulformen betrachtet, lässt sich ebenfalls ein Ungleichgewicht zwischen den Sprachen erkennen. Während der Anstieg an Teilnehmern für die meisten angebotenen Fremdsprachen durch das Hinzukommen der zweiten und dritten Fremdsprache ab der Sekundarstufe I zu erklären ist, finden 56,7 % des Türkischunterrichts an Grundschulen4 statt – vermutlich im Rahmen des sog. herkunftssprachlichen Unterrichts. Sein Status als Ergänzungsunterricht ist grundsätzlich problematisch, da er im deutschen Bildungssystem nach wie vor nur eine marginale Rolle spielt (vgl. Gogolin & Oeter 2011: 40; Küppers & Schroeder 2017). Schwierigkeiten bei der Zertifizierung von erbrachten Leistungen, fehlende Lehrkräfte, ungeklärte Verantwortlichkeiten und Finanzierungsprobleme sowie die Voraussetzung einer bestimmten (sprachlichen, geographischen, ethnischen) Herkunft (vgl. Lengyel & Neumann 2016: 12) verhinderten bisher seine Integration in den regulären Unterricht (vgl. Schroeder 2003: 25ff.; für eine ausführliche Diskussion s. auch Abschnitt 4.4.4).
Debatten über die Funktion, den Nutzen und die Zielsetzungen herkunftssprachlichen Unterrichts werden bisweilen ebenfalls von Sprachprestigemechanismen bestimmt und münden in einem „Kosten-Nutzen-Kalkül“ (Niedrig 2011: 102). Diskutiert wird hier vor allem, ob der Erhalt und die Förderung von allochthonen Minderheitensprachen in der Verantwortung des Staates und somit der Schule lägen. Schließlich stehe diese Forderung im Widerspruch zu der symbolisch-unitarisierenden Funktion einer Nationalsprache als der einzig legitimen Sprache (vgl. Krüger-Potratz 2011: 54). Dies hat zur Folge, dass die meisten Kinder allochthoner Minderheiten in Deutschland im Rahmen von Submersionsmodellen beschult werden, eventuell mit zusätzlichen Förderangeboten in der Mehrheitssprache Deutsch (vgl. Reich & Roth 2002: 20).
Werden herkunftssprachliche Kurse dennoch eingerichtet, so lassen sich je nach Kontext folgende Beweggründe hierfür finden (vgl. Broeder & Extra 1999): Auf der einen Seite steht die Rückkehroption in das Herkunftsland, auf die die Schülerinnen und Schüler durch herkunftssprachlichen Unterricht vorbereitet werden sollen. Die sprachliche Eingliederung in die Mehrheitsgesellschaft ist hier nicht im Fokus. Diese Perspektive wurde in Deutschland vor allem in den 1970er Jahren eingenommen und wird heutzutage zumindest nicht mehr explizit angeführt (vgl. Schroeder & Küppers 2016: 201). Bei einer Bleibeperspektive wird oftmals in einem kompensatorischen Sinne für die Einrichtung herkunftssprachlichen Unterrichts argumentiert. Durch Transfer von in der Minderheitensprache Gelerntem könne die Mehrheitssprache gefestigt werden. Unterricht in der Minderheitensprache wird in diesem Argumentationsansatz durch eine Überbrückungsfunktion bzw. durch einen Ausgleich sprachlicher Defizite bis zu einer Eingliederung in die Regelklasse gerechtfertigt (vgl. Niedrig 2011: 102f.). Diese Modelle stehen nur einigen wenigen wertschätzenden Ansätzen gegenüber, die Pluralität und sprachliche Diversität unterstützen möchten. Sprachprestige durchdringt also über gesellschaftliche Machtordnungen auch die Bildungsinstitutionen, was Auseinandersetzungen über negative Auswirkungen von Spracherhalt auf Bildungserfolg befeuert und die Aufgabe peripherer Sprachen mit einem geringen Kommunikationswert zusätzlich forciert.
2.2 Mehrsprachigkeit und Bildungserfolg
Das Thema Mehrsprachigkeit dominiert bildungspolitische Diskussionen insbesondere unter dem Aspekt der Bildungsrelevanz. Die Debatte findet in Deutschland vor allem auf folgender Ebene statt: Medial präsent und wissenschaftlich aufgegriffen wird die Sichtweise, die Kenntnis der Migrantensprache behindere den Erwerb der Mehrheitssprache Deutsch und schade demnach dem Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler mit sog. Migrationshintergrund.1 Diese schneiden sowohl in Bezug auf Bildungsbeteiligung und -erfolg als auch bei Leistungsmessungen wesentlich schlechter ab als Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund. Bereits an dem ersten Übergang im deutschen Bildungssystem, dem Übergang von Elementar- in die Primarstufe, werden Kinder mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich häufig von der Einschulung zurückgestellt (vgl. Gomolla 2009: 29). Stanat (2006: 190) zeigt, dass Schülerinnen und Schüler ohne deutsche Staatsangehörigkeit nach wie vor deutlich geringere Bildungserfolge erreichen als Gleichaltrige mit einem deutschen Pass. Werden diese Angaben um Anteile von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund erweitert, kann ebenfalls festgestellt werden, dass Kinder und Jugendliche aus zugewanderten Familien in höheren Bildungsgängen wie dem Gymnasium in Deutschland unterrepräsentiert und in unteren wie der Förderschule überrepräsentiert sind. Dies entspreche laut Stanat „den Verhältnissen, die in Deutschland etwa 1970 anzutreffen waren“ (ebd.). Forschungsergebnisse von Kristen (2000: 15) belegen, dass der Faktor „Ethnie“ selbst nach Kontrolle der Schülerleistungen in Deutsch und Mathematik in entscheidendem Maße über einen Hauptschulbesuch entscheidet, was insbesondere auf türkisch- und italienischstämmige Schülerinnen und Schüler zutrifft. Darüber hinaus verlassen Kinder mit Migrationshintergrund das deutsche Schulsystem überproportional häufig ohne jeglichen Abschluss (vgl. Diefenbach 2007: 222).
Diese Disparitäten finden sich genauso in nationalen wie internationalen Schulleistungsvergleichsstudien. In der IGLU-Studie2 wurde beispielsweise für das Jahr 2011 ermittelt, dass in Deutschland Viertklässler mit Migrationshintergrund im Vergleich zu ihren Klassenkameraden im Leseverständnis einen Rückstand von etwa einem Lernjahr aufwiesen (vgl. Schwippert et al. 2012: 199). Der Anteil an Schülerinnen und Schülern aus zugewanderten Familien, die in dieser Studie nicht über die Lesekompetenzstufe I hinauskamen, war dreimal so hoch wie der von Schülerinnen und Schülern ohne Migrationshintergrund (3,7 % vs. 1,3 %; vgl. ebd.: 200). Für die höchste Kompetenzstufe V stellten sich die Ergebnisse genau spiegelverkehrt dar (4,0 % vs. 12,3 %; vgl. ebd.: 201). Ähnliche Befunde werden seit Jahren in der PISA-Studie3 für Fünfzehnjährige in Deutschland berichtet: Hier schneiden Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in allen untersuchten Bereichen, also Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenz, deutlich schlechter ab als Schülerinnen und Schüler ohne Migrationshintergrund (vgl. Stanat et al. 2010: 201).
Als Ursachen für dieses ungleiche Abschneiden werden je nach beteiligter Disziplin unterschiedliche Mechanismen ausgemacht wie beispielsweise bestimmte Organisationsstrukturen der Institution Schule, die auf eine sprachlich homogene Schülerschaft ausgerichtet ist, was direkte oder indirekte institutionelle Diskriminierung nach sich ziehen kann (vgl. Gomolla & Radtke 2002: 334). Diese tritt zutage, wenn Lehrkräfte die zunehmende sprachliche Heterogenität im Klassenzimmer als Störung wahrnehmen und eine stärkere Homogenisierung der Lerngruppen bevorzugen. Adäquate sprachliche Leistungen der Lernenden werden dabei nicht als das Vermittlungsziel schulischer Bildung und somit in der Verantwortung der Institution selbst betrachtet, sondern als Zugangsvoraussetzung zu dieser (vgl. Gomolla 2009: 32). Gleichzeitig werden eventuelle sprachliche Defizite als Indikatoren für fehlendes fachliches Wissen genommen oder auf individuelle Unzulänglichkeiten zurückgeführt und den Schülerinnen und Schülern angelastet. Als Folge können bestimmte Bildungsgänge und -abschlüsse Lernenden, die über die verlangten sprachlichen Ressourcen (noch) nicht verfügen, aus institutioneller Sicht legitim verwehrt werden. Dies wird insbesondere an den Übergängen im Schulsystem sichtbar, wo unterschiedliche Akteure des Bildungssystems in ihrer Funktion als „Gatekeeper“ agieren (vgl. Diefenbach 2007: 233).
Dieser „monolinguale Habitus der multilingualen Schule“ (Gogolin 1994) äußert sich überdies in einer prinzipiell negativen Grundhaltung gegenüber lebensweltlicher Mehrsprachigkeit. Wie in Abschnitt 2.1 bereits diskutiert, erhalten in Deutschland nur einige Sprachen neben dem Deutschen eine Legitimierung, sei es durch eine rechtliche Absicherung durch die ECRM wie die autochthonen Minderheitensprachen oder durch die Aufnahme in den Fremdsprachenkanon, was gleichsam ihre Aufwertung als Bildungsgut und ihre Zertifizierung bedeutet (vgl. Gogolin 2001: 2). Die Sprachen von Migranten erfahren hingegen weder Rechtsschutz noch gehören sie zu den regulär in der Schule angebotenen und für alle zugänglichen Fremdsprachen. Der Unterricht in diesen Sprachen ist als Randangebot ausschließlich für die jeweilige Minderheit geplant, wodurch ihnen der Status als gesellschaftliches und schulisch zertifiziertes, förderungswürdiges Kulturgut versagt bleibt.
Trotz dieser Sichtweise auf die lebensweltliche Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler öffnet sich die Schule im Laufe der letzten Jahre mehr und mehr auch für andere Sprachen als Deutsch. Beispielsweise findet migrationsbedingte Mehrsprachigkeit in den von der Kultusministerkonferenz verabschiedeten Bildungsstandards für die erste Fremdsprache für den mittleren und den Hauptschulabschluss Erwähnung: „Ebenso wird der Fremdsprachenunterricht die mitgebrachte Mehrsprachigkeit von Schülerinnen und Schüler [sic!] berücksichtigen, die bereits intuitive Strategien für das Sprachenlernen (Sprachlernkompetenz) entwickelt haben, diese miteinbeziehen und ausbauen“ (Kultusministerkonferenz 2005a: 6). In den Bildungsstandards für das Fach Deutsch in der Grundschule wird der Einbezug von Herkunftssprachen zudem im Rahmen des Kompetenzbereichs „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ explizit thematisiert (vgl. Kultusministerkonferenz 2005b: 13).
Dass Mehrsprachigkeit trotzdem mehr ein „Häppchen“ denn ein „Hauptgericht“ bleibt (Marx 2014), lässt sich beispielhaft anhand der Einbindung anderer Sprachen in Lehrwerke für den Deutschunterricht illustrieren: Diese erschöpft sich meist in Übersetzungen einzelner Lexeme und Redewendungen und berücksichtigt hauptsächlich Sprachen des schulischen Fremdsprachenkanons (vgl. ebd.: 16). Die Chance auf strukturierten Sprachvergleich und fundierte Sprachreflexion mit Bezug auch auf migrationsbedingte Mehrsprachigkeit bis zur Weiterarbeit mit Gelerntem wird indes vergeben.
Die Tendenz, Mehrsprachigkeit in der Theorie zu loben, in der Praxisrealität jedoch zu vernachlässigen oder gar zu pathologisieren, führt nachweislich zu negativen Konsequenzen für die Entwicklung der Mehrheitssprache, der Herkunftssprache und des metalinguistischen Bewusstseins, für das Selbstvertrauen mehrsprachiger Kinder und Jugendlicher in ihrem erweiterten linguistischen Kapital und – noch bedeutender – für die gesellschaftliche Akzeptanz von anderen Sprachen und somit von Personen mit erweiterten sprachlichen Kompetenzen. (Marx 2014: 20)
Die Geringschätzung von Sprachkenntnissen abseits des schulisch legitimierten Wissens kann darüber hinaus ihren Niederschlag in weiteren, sozio-emotionalen Prozessen auf Seiten des Sprechers finden, die wiederum einen Einfluss auf seine Leistung ausüben. So wird als eine weitere Ursache für Leistungsdisparitäten zwischen Ein- und Mehrsprachigen in den letzten Jahren auch die Bedrohung durch Stereotypisierung untersucht (vgl. Ward Schofield & Alexander 2012). Hierunter wird die unbewusst auftretende Angst gefasst, einem bestimmten negativen Stereotyp über die eigene soziale Gruppe zu entsprechen (vgl. ebd.: 66). Voraussetzung für das Greifen dieser Angst ist dabei nicht die eigene Zustimmung zu dem bestehenden Stereotyp, sondern erstens das bloße Wissen um seine Existenz und zweitens die Identifikation mit der betreffenden Gruppe. Fühlt sich eine Person durch ein leistungsbezogenes Vorurteil bedroht, so hemmt diese Angst sie besonders in Situationen, in denen ebensolche Leistung erwartet wird. Die Bedrohung durch ein Stereotyp kann dabei bereits auf subtile Weise durch die Aufforderung auf einem Arbeitsblatt, seine Gruppenzugehörigkeit anzugeben, hervorgerufen werden (vgl. Steele & Aronson 1995: 808).4
Die meisten Studien befassen sich mit der Bedrohung durch Stereotype bei Frauen (vgl. Nguyen & Ryan 2008), die Ergebnisse lassen sich jedoch ohne weiteres auf andere Minoritätengruppen übertragen. Schmader und Johns (2003: 449) konnten z.B. nachweisen, dass Probandinnen, bei denen ein gender- und ein ethniebezogenes Stereotyp aktiviert wurden, wesentlich schlechter bei einem Aufmerksamkeitstest abschnitten als die nicht betroffene Kontrollgruppe. Die mentale Beschäftigung mit dem Stereotyp nahm ihre kognitiven Ressourcen derart in Anspruch, dass ihr Arbeitsgedächtnis überlastet war. In der Studie von Gonzales und Kollegen (2002: 666) zeigten sich ebenfalls Effekte einer Bedrohung durch Stereotype bei Frauen, die sich der Gruppe der Latinas zugehörig fühlten. Durch die Aktivierung des ethnischen Stereotyps wurden bei ihren Probandinnen auch geschlechtsbezogene Vorurteile ausgelöst. Übertragen auf mehrsprachige Schülerinnen und Schüler lässt sich mit Blick auf diese Befunde das Stereotyp des sprachlich Schwachen bzw. die Angst, diesem zu entsprechen, annehmen. Diese Angst kann dann insbesondere bei Leistungsüberprüfungen wie den oben beschriebenen Schulleistungsstudien ein kompetenzadäquates Abschneiden verhindern.
Für Leistungsdisparitäten zwischen Ein- und Mehrsprachigen werden in der Soziologie vor allem sozio-ökonomische Erklärungsansätze wie geringere in die Bildung zu investierende Ressourcen gesucht. In einer groß angelegten Panelstudie (CILS – Children of Immigrants Longitudinal Study) in den USA begleiteten beispielsweise Portes und Rumbaut (1990; 2001) über zehn Jahre lang mehr als 5.000 Jugendliche der zweiten Migrantengeneration bis ins Erwachsenenalter und untersuchten die Auswirkungen unterschiedlicher Ausgangsbedingungen u.a. auf Bildungserfolg, Berufsstand, Arbeitslosigkeit, Familiengründung und Inhaftierung. Es zeigte sich, dass der elterliche sozio-ökonomische Status mit dem Bildungserfolg ihrer Kinder, ihrer finanziellen Lage und ihren Verdienstmöglichkeiten als Erwachsene zusammenhängt (vgl. Portes et al. 2005: 1025f.). Je höher das bereits von den Eltern in die Familie eingebrachte Kapital war, d.h., je länger beide Elternteile im Bildungssystem verblieben und je höher ihr erreichter Berufsstand war, desto größer war der anschließende Erfolg der Kinder. „Results from our study are almost frightening in revealing the power of structural factors – family human capital, family composition, and modes of incorporation – in shaping the lives of these young men and women“ (ebd.: 1032).
Auch in Deutschland haben Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund im Vergleich zur sozial dominanten Gruppe eine andere strukturelle Ausgangslage: Ihre Familien besitzen weniger ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital (vgl. Diefenbach 2007: 227). So verfügen Migrantengruppen in Deutschland grundsätzlich über niedrigeres Einkommen als die Mehrheitsbevölkerung und weisen zudem typischerweise einen geringeren Bildungsstand als diese auf (vgl. ebd.: 229). Beides kann nur teilweise auf die in Deutschland nicht anerkannten Abschlüsse und Zertifikate zurückgeführt werden. Sie verkehren in weniger sozial relevanten Netzwerken, die Zugänge zu weiteren Bildungsressourcen eröffnen könnten (vgl. Stanat & Edele 2011: 186). Der Faktor „Migrationshintergrund“ ist in Deutschland also stark mit dem sozialen Status konfundiert.