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Lisa F. Olsen

Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Inhaltswarnung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Epilog
Danksagung
Impressum
VOLLSTÄNDIGE AUSGABE
ORIGINALAUSGABE
© 2021 BY ELYSION BOOKS GMBH, LEIPZIG
ALL RIGHTS RESERVED
UMSCHLAGGESTALTUNG: Ulrike Kleinert
www.dreamaddiction.de
LAYOUT &WERKSATZ: Hanspeter Ludwig
www.imaginary-world.de
ISBN (gedrucktes Buch) 978-3-96000-165-2
ISBN (ebook) 978-3-96000-166-9
Für Jonah.
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Inhaltswarnung
Liebe Leser*innen,
in diesem Buch sind potenziell triggernde Inhalte zu finden.
Folgende Themen werden u.a. angesprochen:
Depressionen
Schilderung von Erbrechen
Essstörung
Tod
Suizidale Gedanken
Kapitel 1
Arian
Das Gewicht der Gitarre ruht schwer auf meinem Brustkorb. Die Melodie, die meine Finger wie im Schlaf auf den warmen Saiten spielt, füllt meinen Körper, bis es nur noch dieses Lied gibt. Bis ich eins werde mit den Klängen jahrelanger Musikgeschichte. Bis ich nicht mehr daran denken muss, was ich vor nicht allzu langer Zeit verloren habe. Der Sound meiner Akustikgitarre ist mir so vertraut, wie seine Stimme, die jetzt nur noch eine blasse Erinnerung ist.
Ich fange an zu singen. Leise. Aber laut genug, dass ich nicht mehr daran denken muss, dass ich vor einem halben Jahr meinen Vater verloren habe. Dass ich seither ein Leben lebe, das sich anfühlt als würde es nicht mir gehören. Bei jeder weiteren Zeile wünsche ich mir, ich könnte wieder zurück. Zurück zu dem Tag, als mir meine Stiefmutter noch in die Augen gucken konnte. Zurück zu dem Moment, als wir eine Familie waren.
Ich kämpfe mich durch das Lied, weil mir das Atmen plötzlich schwerfällt und meine Fingerspitzen zu schmerzen beginnen.
»Hast du auch noch andere Stücke in peto, Cobain?« Ihre Stimme erschreckt mich so sehr, dass ich vergesse umzugreifen und ein ätzender Ton in der kleinen Kammer, die seit einigen Monaten mein Zimmer ist, zu hören ist. Wobei Zimmer in dem Fall eine absolute Übertreibung ist. Ich bezeichne es eher als Loch mit einem kleinen Fenster. Manchmal frage ich mich, ob der Brief der Zauberschule, der mich aus meinem elendigen Leben befreit, noch kommt. Vielleicht klopft auch irgendwann ein Filmteam an unsere Haustür, um eine moderne Aschenputtel-Verfilmung abzudrehen. Aber es sammeln sich weder irgendwelche Eulen vor unserem Haus, noch singt jemand im Hintergrund Only time, wenn ich durch die Schulflure streife. Ich hatte einfach Pech und das ist kein modernes Märchen, sondern mein verdammtes Leben.
»Was willst du?«, entgegne ich, halte den Blick aber weiterhin auf die Decke über mir gerichtet.
»Dich aus deinem Niemandsland holen.« Dann greift Alexis einfach nach meiner Gitarre, legt sich ungefragt neben mich und beginnt irgendeinen fetzigen Song zu spielen. Lexi ist eine meiner Stiefschwestern. Die Nettere der beiden.
»Was machst du hier?«, hake ich nach. Sie legt die Gitarre weg und dreht sich zu mir.
»Du hast eben so verloren gewirkt, als du gegangen bist … ich fands nicht in Ordnung, was Hanna gesagt hat.« Dabei funkelt sie mich entschuldigend aus ihren schlammbraunen Augen an. Eigentlich war es nicht anders als sonst. Ihre Zwillingsschwester und ich haben immer schon Differenzen. Als Hanna heute aber gesagt hat, dass sie sich wünscht, ich würde einfach wieder nach Hamburg verschwinden, bin ich aufgesprungen und gegangen, anstatt etwas zu erwidern.
»Du hättest nicht vorbeikommen müssen«, entgegne ich und rutsche ein Stück von ihr weg.
»Doch. Ich habe ihr auch gesagt, dass sie sich entschuldigen soll. Aber … Warum ist das so zwischen euch?«
Wenn ich ihr das beantworten könnte, würde ich es wahrscheinlich auch schaffen eines der sieben ungelösten Millennium-Probleme der Mathematik zu lösen.
»Keine Ahnung«, erwidere ich.
»Ich lasse ihr das auf jeden Fall nicht mehr durchgehen. Ich will nicht, dass du dich hier unerwünscht fühlst«, entgegnet Alexis entschlossen und fährt sich durch ihre braunen, kurzgeschnittenen Haare.
»Ich schaffe das schon allein.« Ich will mich auf gar keinen Fall zwischen die beiden stellen. Wir schweigen einen Moment, bis ihr Räuspern die Stille durchbricht.
»Ich werde auch nochmal mit Mama sprechen«, flüstert sie und ihre Worte treffen mich. Ich weiß, dass sie ihre Mutter liebt. Aber sie wird trotzdem nie verstehen, warum Iris mich keines Blickes mehr würdigt. Warum wir uns im selben Raum aufhalten und trotzdem beide irgendwie nicht da sind. Dennoch würde ich meine Stiefmutter manchmal gerne schütteln und ihr sagen, dass sie doch die einzige Familie ist, die mir bleibt.
»Musst du nicht«, antworte ich und seufze frustriert. Dann schweigen wir wieder. Lexi und ich sind sehr gut darin, die Leere mit unseren Gedanken oder unserer Musik zu füllen. Ich greife wieder nach meiner Gitarre, spiele mehrere Lieder, bis Lexi sich irgendwann gähnend verabschiedet.
Der nächste Morgen startet wie jeder andere, eine feuchte Zunge leckt über meine Finger und binnen Sekunden bin ich wach. Ich kraule dem kleinen Beagle den Kopf und lege ihm dann sein Geschirr an. Nachdem ich mich fertig gemacht und meine Jacke übergeworfen habe, verlassen wir das Haus. Kurt schnüffelt wie wild herum, während ich versuche, nicht wieder einzuschlafen. Der kühle Oktobermorgen ist farblos und leise, lediglich der Wind, der durch die Blätter weht, ist zu hören. So früh ist selten jemand unterwegs. Schon gar nicht in unserer Nachbarschaft. Als Papa gestorben ist, mussten wir in einen günstigeren Stadtteil ziehen und sehr wenige der Nachbarn verlassen vor zehn Uhr ihre Wohnung. Mein Blick wandert über die betonfarbenen Mehrfamilienhäuser, die genauso trist und trostlos wirken wie mein Leben. Nur schmerzlich erinnere ich mich an die schönen Fachwerkhäuser und den für den Norden typischen Backsteinexpressionismus. Davon ist in Bromburg wenig zu sehen. Eigentlich wirkt es sogar fast wie ein Mahnmal, das mich daran erinnert, dass ich einmal alles hatte und davon nicht mehr als ein grauer, eintöniger Rest zurückgeblieben ist.
Auf dem Rückweg lässt sich langsam die Sonne blicken. Der kleine Hund streckt immer wieder sein Köpfchen gen Licht. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er der Einzige ist, der diese Familie noch zusammenhält.
Im Hausflur begegne ich Hanna, die sich offenbar gerade zurück in unsere Wohnung schleicht und hofft, nicht von Iris erwischt zu werden.
»Morgen«, murmele ich und leine Kurt ab, der sie freudig begrüßt. Während sie dem Hund den Kopf tätschelt, erhalte ich nur ein knappes Nicken.
Das Frühstück ist wie immer ein Kampf, auch wenn sich Alexis bemüht mich ins Gespräch einzubeziehen, aber von Iris kommt keine Reaktion. Danach gehen Lexi und ich schweigend nebeneinander zur Straßenbahn, die uns zur Schule bringt.
Nach zwanzig Minuten erreichen wir endlich die Haltestelle des Ludwig-Bechtstein-Sportgymnasiums. Lustlos greife ich die Träger meines Rucksacks enger und bewege mich gemeinsam mit Marla in Richtung des neuen aluminiumverkleideten Traktes des Schulgebäudes. Lexi hat sich den Rauchern angeschlossen, die neben der Haltestelle stehen. Warum ich ein Sportgymnasium besuche, obwohl ich in keiner Aktivität, die mit körperlicher Bewegung zutun hat wirklich gut bin? Keine Ahnung. Scheinbar hat der Verlust meiner Mutter, der meines Vaters und der meines vorherigen Lebens dem Schicksal nicht ausgereicht. An der letzten Schule war ich einer der beliebtesten Schüler und ich habe es genossen. Seit ich zu Beginn der 11. Klasse hierher gewechselt bin, nennen mich die meisten nur den Neuen. Den anderen bin ich ziemlich egal. Aber sie mir auch. Deswegen gebe ich mir auch keine Mühe, überhaupt jemanden kennenzulernen. Ich will nächstes Frühjahr Abi machen und dann weg von hier.
»Hast du mit Lexi endlich mal über Hanna gesprochen?«
»Nein. Aber sie kam gestern in mein Zimmer und hat sich für das Verhalten von ihrer Schwester entschuldigt«, erwidere ich und mustere meine beste Freundin.
Wenn man Marla das erste Mal sieht, fällt einem wahrscheinlich kaum etwas auf, außer, dass sie mit den hellblauen Augen, den schwarzen Haaren und der hellen Haut an Schneewittchen erinnert. Ihre Augen stehen etwas zu weit auseinander und ihr Gesicht ist mit Sommersprossen gesprenkelt. Aber spätestens, wenn sie anfängt zu sprechen, wird deutlich, dass sie ziemlich besonders ist. Ihre Stimme klingt unmelodisch und zwischen den Wörtern lässt sie oft zu lange Pausen.
Vor zwei Jahren hatte sie eine schwere Mittelohrentzündung, bei der es Komplikationen gab, woraufhin sie ihr Gehör verloren hat. Seitdem haben sich ihre Freundinnen von ihr abgewandt und sie ist ähnlich wie ich, wie ein einsamer Wolf durch die Schule gestreift. Bis sie neben mir im Sportunterricht auf der Auswechselbank gesessen hat und wir uns auf Anhieb verstanden haben. Seither sorgt sie dafür, dass mein Leben sich nicht mehr ganz so scheiße anfühlt, wofür ich ihr unendlich dankbar bin.
»Finde ich gut«, erwidert sie, viel zu spät und ich sehe, dass ihr Blick irgendjemanden hinter mir fixiert. Ich will mich gerade umdrehen und nachsehen, da legt sie mir schon die Hand auf den Arm.
»Er guckt gerade her«, flüstert sie und ich kann mir ein Grinsen kaum verkneifen.
»Jonas?«, forme ich mit den Lippen, was sie mit einem Nicken bestätigt. »Sprich ihn endlich mal an«, fordere ich flüsternd, woraufhin sie nur mit dem Kopf schüttelt und ihre schwarzen Locken durch die Luft fliegen. Marla ist, seit ich sie kenne in Jonas verliebt. Allerdings weiß der Fußballspieler nichts von seinem Glück und wenn es nach Marla geht, dann wird das auch so bleiben. Auf dem Weg zum Mathekurs versuche ich sie weiter zu überzeugen, während sie mir Gründe liefert, warum sie ihn nicht ansprechen kann.
»Er kann sich garantiert nicht mehr an unseren Kuss erinnert. Und ich werde ihm sicher nicht erzählen, wie viel es mir bedeutet hat, nur damit er mir am Ende das Herz bricht.« Ihre zarten Finger tanzen durch die Luft, während ihr trauriger Gesichtsausdruck die Gebärden unterstreicht.
»Trotzdem musst du dich irgendwann entscheiden, ob du ihn nochmal küssen oder ihn weiter anschmachten willst.«
Daraufhin formt sie ihre rosigen Lippen zu einem Schmollmund und erwidert nichts mehr.
Kapitel 2
Elias
Das Gewicht in meiner Fußinnenseite wiegt schwer, denn die ganzen Erwartungen der anderen scheinen sich auf meinen nächsten Schuss auswirken. Trotzdem schiebe ich den Ball mit überraschender Leichtigkeit an dem letzten Verteidiger vorbei. Das Adrenalin fließt heiß durch meinen Körper, während der Herbstwind kühl über meine Haut streicht. Das Stadion des ersten FC Bromburg ist für ein Amateurspiel ziemlich gut besucht und ich habe eben schon auf den Rängen viele bekannte Gesichter gesehen. Doch all das tritt in den Hintergrund, als nur noch der Torwart in dem hellen Schein der Flutlichter vor mir steht. Jeder meiner Gedanken verstummt. Die Stimmen und Rufe der anderen vermischen sich mit dem Rauschen des Windes. Ich blicke kurz hoch und kann den kämpferischen Ausdruck in seinem Gesicht erkennen. Es sind nur noch er und ich, die entscheiden, wie das Spiel ausgeht. Der Ball scheint an meinem Fuß zu kleben. Ich laufe weiter auf ihn zu darauf hoffend, dass er endlich rauskommt. Wenigstens ein kleines Stück. Nur einen Wimpernschlag später kommt er meiner stummen Bitte nach. Der Ausdruck in seinen Augen ist entschlossen. Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen.
Blitzschnell schieße ich und versenke den Ball rechts unten im Netz. Ich zähle stumm bis drei und plötzlich bricht der ganze Lärm über mir zusammen. Mein Körper befindet sich in einem Zustand zwischen High sein und absoluter Glückseligkeit, als Jonas mir auf den Rücken springt und seine Faust in die Höhe reckt. Ich blicke in die jubelnden Gesichter meiner Mannschaftskollegen, die alle in ihren blau-weißen Trikots auf mich zugelaufen kommen.
Doch bevor wir uns wirklich in Sicherheit wiegen können, müssen wir noch die letzten Minuten runterspielen und keinen Treffer kassieren.
Als der Schiri wieder anpfeift, erhöht die gegnerische Mannschaft den Druck Richtung unseres Tors enorm. Aber es ist das erste Mal im Spiel, dass unsere Abwehr gut steht. Mathis Sommer, unser Torwart bekommt letztlich die Zähne auseinander und stellt die vier Jungs vor sich, sodass wir hoffentlich keinen Gegentreffer mehr erhalten.
Als endlich der Abschlusspfiff ertönt, rasten auch unsere Zuschauer aus, als hätte wir irgendwas Wichtiges gewonnen. Dabei war das hier lediglich die Qualifikationsphase für den U20 Regiocup, die wir erfolgreich, wenn auch knapp, hinter uns gebracht haben.
Beim Verlassen des Platzes klebt mein Trikot schweißnass an meiner Brust und meine Waden brennen, aber ich hatte schon viel zu lange nicht mehr dieses Gefühl von Leichtigkeit in meinem Körper. Das Gefühl, alles erreichen zu können.
Um die Glückseligkeit, die meinen Körper wie eine warme Decke umhüllt, zu halten, verbiete ich es mir, zur Tribüne zu blicken, weil die Enttäuschung darüber, dass meine Eltern mal wieder nicht da sind, mich nur runterziehen würde. Und das kann ich definitiv nicht gebrauchen, weil ich gleich mit den anderen feiern gehen will.
Außerdem weiß ich, wie gerne sie mir zuschauen, es aber momentan einfach nicht geht. Und ihnen das Übel zu nehmen, macht mich zu einem richtig großen Arschloch.
Also schlucke ich das seltsam drückende Gefühl hinunter und gehe mit dem Rest unter die Dusche.
»Hey Mathis, guck auf deinen eigenen Schwanz!«, ruft Tom, woraufhin unser rothaariger Torwart ihm nur den Mittelfinger zeigt. Seit dieser sich letztes Jahr geoutet hat, muss er immer wieder dumme Sprüche einstecken. Allerdings habe ich schon mit dem ein oder anderen Idioten unserer Mannschaft ein ernstes Wörtchen geredet, weshalb es nur bei kleinen Neckereien bleibt. Ich schnappe mein Duschgel und gehe auf nassen Sohlen zurück in die Kabine. Ich habe gerade meine Boxershorts angezogen, als Jonas, nur mit Handtuch um die Hüften auf die Bank steigt. Was zur Hölle hat er vor?
»Ich habe sturmfrei! Die Party findet also bei mir statt.«
Wir jubeln alle so laut, als hätten wir die Meisterschaft schon gewonnen. Jonas grinst breit, springt von der Bank und beginnt sich anzuziehen. Normalerweise treffen wir uns nach den Spielen in einer kleinen Kneipe, in der Nähe der Sportanlagen.
Doch bevor wir uns weiter darüber unterhalten können, welche Getränke noch besorgt werden müssen, betritt unser Trainer die Kabine und einige Sekunden später ist es mucksmäuschenstill.
»Gratulation zum Sieg, Jungs. Es war ziemlich knapp, aber das wisst ihr ja. Die Abwehr war heute miserabel! Sommer, es ist deine Aufgabe als Torwart, hinten für Ordnung zu sorgen. Daran arbeiten wir nächste Woche. Ansonsten war die Leistung in Ordnung. Aber da geht definitiv noch mehr. Trotzdem fällt die Konditionseinheit morgen früh aus. Das heißt aber nicht, dass ihr euch heute Abend betrinken dürft! Morgen Nachmittag will ich euch fit auf dem Platz sehen, damit wir an den Defiziten arbeiten können. Und jetzt zieht euch an, dass ich den Platz gleich abschließen kann und den Tatort nicht verpasse.«
Seine zusammengezogenen Augenbrauen untermalen seinen harten Ton, wobei er zum Ende hin seichter wird. Anfangs hat sein strenges Auftreten den ein oder anderen vor Angst in die Knie gezwungen. Coach Reinharts trainiert viele von uns seit der achten Klasse. Er ist allerdings immer fair und hat sich schon oft für sozial schwächere Jungs eingesetzt.
Nachdem er die Kabine verlässt, geht die Planung weiter und jeder verspricht etwas von zuhause mitzubringen.
Auf dem Weg zum Auto checke ich doch mein Handy, obwohl ich mir geschworen hatte, die gute Stimmung beizubehalten.
Dad [14:03]:
Wir drücken dir die Daumen, Champ.
Dad [17:10]:
Schreib mal, wie es ausgegangen ist: )
Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter und antworte ihm, bevor ich nach Hause fahre. Wie erwartet, ist niemand da. Ich schmeiße die Fußballsachen in den Korb vor der Waschmaschine und ziehe mich um. Im Badezimmer werfe ich einen Blick in den Spiegel. Blaue, leere Augen schauen zurück. Ich bin absolut nicht in der Stimmung auf eine Party zu gehen. Andererseits will ich aber auch nicht hier warten, bis sie wieder zurück sind. Mit den Fingern fahre ich mir durch meine schwarzen Haare, die an den Seiten etwas kürzer sind. Mit ein bisschen Wachs bekomme ich sie einigermaßen geordnet.
Bevor ich das Haus verlasse, lege ich meinen Eltern noch einen Zettel hin, damit sie sich keine Sorgen machen, falls sie heute überhaupt noch nach Hause kommen.
✴
»Kannst du mir mal mit der Zapfanlage helfen?«, fragt Jonas, kurz nachdem ich sein Haus betreten habe. Einige aus der Mannschaft lümmeln schon in dem großen Wohnzimmer. Im Schrank unter der Küchentheke steht das Aluminiumfass und wartet nur darauf, von uns angeschlossen zu werden. Nach einigen Anläufen klappt es endlich und perfekt gekühltes, goldenes Pils läuft aus dem Hahn direkt in meinen Becher.
»Auf uns«, ruft Jonas, stößt mit seinem Becher gegen meinen und besudelt den Boden mit dem Bier. Ich erwidere sein Lächeln, auch wenn es noch etwas gezwungen wirkt. Die großzügige Schnapssammlung, zu der ich zwei Flaschen Rum beigesteuert habe, wird es bestimmt schaffen, dass ich auch in Partystimmung komme.
Mit unseren Getränken gesellen wir uns zu den anderen und ich versuche, mich so gut es geht mit belanglosen Gesprächen abzulenken.
Als wüsste er, dass etwas nicht stimmt, legt mein bester Freund den Kopf schräg und mustert mich. Doch bevor er den Mund öffnen und irgendwas fragen kann, strömen weitere Leute aus unserer Stufe in den großen Raum mit den hohen Decken und den dunkelblauen Sofas.
»Hey. Gratulation zu deinem Tor.« Die Berührung am Arm und die Stimme gehören zu Kim, die sich wenige Sekunden später in mein Blickfeld drängt.
»Danke«, erwidere ich und schenke ihr ein echtes Lächeln. Wir sind im letzten Jahr ein paar Mal miteinander ausgegangen. Sie ist klug, wunderschön und wir haben uns schon immer gut verstanden, aber für mich hat es sich nicht richtig angefühlt. Vor allem weil Jonas schon immer für Kim geschwärmt hat.
»Wie geht’s deiner Schwester?«, fragt sie und wenig später ist die Leichtigkeit zwischen uns verschwunden. Sie macht sich nur Sorgen, aber ich will heute Abend nicht daran denken. Mich wenigstens ein paar Stunden so fühlen wie die anderen um mich herum. Leicht und sorgenfrei.
»Ich will nicht darüber reden«.
Ihr Gesichtsausdruck spiegelt Enttäuschung wider. Am liebsten würde ich mich entschuldigen. Ich habe damals Schluss gemacht, obwohl ich wusste, dass sie noch Gefühle für mich hat. Sie war immer meine beste Freundin, aber seither ist es mit ihr seltsam angespannt. So, als würde irgendetwas zwischen uns stehen. Als ich meinen Blick hebe, begegne ich dem von Jonas, der beinahe genauso traurig wirkt wie ihrer. Früher waren Kim, Jonas und ich unzertrennlich. Wir sind in derselben Straße aufgewachsen und haben jeden Tag miteinander gespielt. Umso mehr schmerzt es, dass wir nichts mehr zu dritt unternehmen, obwohl wir wie Geschwister aufgewachsen sind.
Ganz plötzlich sind die unausgesprochenen Gefühle zwischen uns dreien viel zu viel. Mir schnürt es den Hals zu. Also trete ich einen Schritt zurück, um Abstand zwischen uns zu schaffen und endlich wieder Luft zu bekommen. Ich hebe meinen Becher kurz, um ihr zu signalisieren, dass ich mir Nachschub besorge. Kim nickt nur und wendet sich ab. Ihre Augen glitzern immer noch verdächtig. Auf dem Weg in die Küche lege ich den Kopf in den Nacken, um den Rest auszutrinken. Dabei stoße ich mit jemanden zusammen und das klebrige Bier läuft mir übers Gesicht. Super.
»O sorry, Mann«, höre ich eine Stimme, reagiere aber nicht darauf, weil ich immer noch in Gedanken bin und mein gesamtes Gesicht klebt.
Ich stelle den Becher auf die Küchenzeile und drehe mich um, kann aber niemanden erkennen, zu dem die unbekannte Stimme passt. Der süßlich, herbe Biergeruch steigt mir in die Nase und ich bahne mir einen Weg durch die Menge zu den Toiletten. Dabei klopft mir immer wieder irgendwer auf die Schultern und beglückwünscht mich. Die meisten Mädels strahlen mich an, als würde ich jeden Moment die Welt retten und die Jungs so, als wäre ich irgendein Fußballstar. Obwohl ich es natürlich niemals zugeben würde, sind das Streicheleinheiten für mein Ego. Selbstverständlich muss ich mich nicht anstellen, weil Maik von ganz vorne mich einfach vorlässt.
Nachdem ich die gröbste Sauerei von meinem Gesicht und meinem Hemd entfernt habe, widme ich mich wieder der Getränkeauswahl in der Küche. Als ich gerade nach dem goldbraunen Rum greifen möchte, legt sich eine Hand auf meine Schultern.
»Danke für deine Vorlage, Captain. Es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre der Ball drin gewesen.«
»Kein Ding«, erwidere ich. Tom grinst mich an und greift dann nach dem Wodka.
»Auch?«, fragt er dann, weil ich immer noch die Flaschen vor mir betrachtet, anstatt mir etwas einzuschenken. Ich schüttele mit dem Kopf, weil er nicht unbedingt sehen muss, was ich mir zusammen mischen will. Schließlich hat der Trainer deutlich gemacht, dass wir es nicht übertreiben sollen. Als Kapitän muss ich zumindest den Schein eines guten Vorbilds waren.
»Man sieht sich«, sagt Tom und hebt seinen Becher kurz an. Dabei landet mein Blick auf seinen tätowierten Unterarmen. Tom ist genau wie ich achtzehn, trotzdem sind schon so viele Motive auf seiner Haut, als würde er seit Jahren regelmäßig zum Tätowierer gehen. Als er mir den Rücken zudreht, fange ich an mir einen Long-Island-Ice-Tea zu mischen.
Ein Getränk mit ordentlich Umdrehungen, was dafür sorgt, dass das überlegene und selbstbewusste Gefühl bleibt und nicht wieder Platz machen muss für die Dunkelheit. Die wird dafür morgen mit hundertprozentiger Sicherheit kommen. Aber Morgen klingt noch Ewigkeiten entfernt und heute will ich einfach mal glücklich sein.
Ich schmeiße ein paar Eiswürfel in meinen Becher, schütte ein bisschen Cola hinein und fülle den Rest mit Rum, Whisky, Wodka, Tequila und einem Schuss Limettensaft. Allein der Geruch schüttelt mich. Aber ist es nicht immer so? Das meiste ist beim ersten Mal komisch. Der erste Kaffee, die erste Zigarette, der erste Sex. Bei jedem weiteren Mal wird es besser. Nicht, dass ich wirklich mit praktischen, sexuellen Erfahrungen glänzen kann, aber mein theoretisches Wissen ist dank der unzähligen Gespräche in der Kabine weitreichend. Ich genehmige mir einen großen Schluck von meinem Cocktail und geselle mich danach zum Rest der Meute ins Wohnzimmer. Höre mir unser Spiel aus verschiedenen Perspektiven einhundertmal an, lächele an Stellen, an denen ich es sollte, und lasse mich von allen feiern und beglückwünschen. Mit dem nächsten Schluck vernichte ich mein Getränk und besorge mir postwendend ein neues.
»Hey Captain, wir spielen ne Runde Flaschendrehen. Bist du dabei?«, ruft Tom vom anderen Ende des Raums. Da ich absolut keine Lust habe heute irgendwen zu knutschen, geschweige denn jemanden falsche Hoffnungen zu machen, schüttele ich den Kopf.