- -
- 100%
- +
»Wurden unterbrochen. Ich will jetzt nicht darüber reden«, entgegne ich, weil ich weiß, dass sie keine Ruhe geben wird. Und genauso unzufrieden blickt sie gerade drein. Sie schiebt sogar ihre Unterlippe nach vorne und guckt mich fast schon flehend an. Ich bleibe aber hart und schüttele den Kopf, während ich meine Hände vor der Brust verschränke.
Am Nachmittag begegne ich Marla auf dem Gang, bevor ich zur Schulbandprobe muss. Wobei Band in dem Fall eher eine Mischung aus einer Gruppe Stadtmusikanten und einem Orchester beschreibt. Also keine coole Band. Vielmehr ist es ein Zusammentreffen von Bläsern und einem Klavier. Bläserklasse wäre wahrscheinlich die treffendste Bezeichnung. Natürlich bin ich der Mensch an den Tasten. Ich hätte lieber Gitarre gespielt, aber das hat Herrn Schneider nicht zugesagt.
Da ich das Musizieren eigentlich liebe, tue ich mir das ganze zweimal die Woche an, in der Hoffnung, dass heute endlich die Probe ist, die meine Leidenschaft für die Musik wieder entfacht.
Sie hat schon ihre Hände gehoben, aber ich unterbreche sie. Wenn ich jetzt nicht zur Toilette gehe, werde ich zu spät zur Probe kommen und wem das passiert, der darf beim nächsten Mal Over the Rainbow als Solo performen. Etwas worauf ich definitiv verzichten kann.
»Warte hier. Ich bin gleich wieder zurück.« Dann schließe ich mich dem Kerl mit dem blau-weiß gestreiften Shirt, der gerade zur Toilette geht, an. Wobei ich am Spiegel kurz stehen bleibe, um nicht den Eindruck zu erwecken, ihm wirklich zu folgen.
Nachdem ich mir die Hände nach meinem Austritt gewaschen habe, kehre ich wieder zu Marla zurück. Ihre Wangen sind mittlerweile rosig und sie beißt sich nervös auf die Lippen. Sie sieht aus, als würde sie gleich platzen, wenn sie mir nicht endlich sagen kann, was sie unbedingt loswerden muss.
»Schieß los«, fordere ich sie auf, woraufhin sie mir nur einen Atemzug Zeit lässt, bevor sie loslegt. Ihre Hände tanzen wie wild durch die Luft und ihre dunklen Augen sprühen nur so vor Energie, während sich immer wieder der ein oder andere Schüler an uns vorbeiquetscht.
»Ich habe mir was überlegt. Aber hör erst bis zum Ende zu und fang nicht schon direkt an zu meckern.«
Ich schaffe es, gerade so zu nicken, da fährt sie unbeirrt fort.
»Es geht um Jonas. Mir ist eben in Musik eingefallen, wie du mir vielleicht helfen könntest. Außerdem hätte meine Idee den Vorteil, dass du nicht nur Jonas kennenlernst, sondern auch noch Anschluss findest.«
Mit dem Unterschied, dass ich gar nicht mehr Leute kennenlernen will, sondern einfach nur hier weg möchte. Aber ich halte mich daran und lasse sie nach einem längeren, nervösen Atemzug weitererzählen.
»Nächste Woche findet die Fußballauswahl für das Charity-Turnier im Januar statt. Du könntest dich doch dafür bewerben? Und bevor du dich beschwerst, es richtet sich auch an die Schüler, die nicht beim Bromburger FC spielen. Das Beste daran ist, dass Jonas das Training leitet. So könntet ihr euch kennenlernen und du mich ihm vorstellen. Außerdem lernst du so mehr Leute kennen und bist an der frischen Luft. Ich finde, es gibt nur positive Aspekte an meiner Idee. Was sagst du?«
Ihre Augen sind so groß und blicken mich gleichzeitig so hilflos und bittend an, dass ich fast nicht ablehnen kann, obwohl es die absolut bescheuertste Idee überhaupt ist.
»Wie stellst du dir das denn vor, Marla? Ich arbeite drei Tage die Woche. Die Schulband passt geradeso noch in meinen Plan. Ich habe keine Lust mir meine ganze Freizeit zu verplanen. Außerdem kann ich noch nicht mal wirklich gut Fußball spielen.«
Während ich versuche, ihr so nett wie möglich und so standhaft wie nötig eine Absage zu erteilen, fixiere ich einen Punkt hinter ihrem Kopf, um mich nicht von ihren Welpenaugen aus dem Konzept bringen zu lassen. Es reicht schon, wenn Kurt alles bekommt, was er will und das nur, weil mein Herz bei dem treuherzigen Ausdruck in seinen Augen regelrecht zu brechen droht.
Dann mache ich den Fehler und gucke doch zu ihr. Dabei trifft mich ihre traurige Miene hart.
»Kannst du es dir wenigstens einmal angucken? Das reicht vielleicht schon, um Kontakt zu Jonas aufzubauen.«
Warum muss es unbedingt sein bester Freund sein? Ich nicke nur, weil ich schon viel zu spät dran.
Die Probe mit der Bläserklasse ist schon wieder ernüchternd und ich habe mir zweimal überlegt, einfach aufzustehen und zu gehen. Es sind nicht mal die gelangweilten Schüler, die mich stören. Sondern die überengagierten Mädchen, die denken, dass beim nächsten Auftritt jemand im Publikum sitzt, ihr Talent erkennt und sie dann reich und berühmt machen. Ich habe noch nie etwas von Talentscouts im Schulensemble gehört, habe aber auch keine Lust, mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Also klimpere ich zum zehnten Mal die gleiche Melodie und versuche, nicht zu sehr mit den Augen zu rollen, weil mir die Saxophone schon genug Kopfschmerzen bereiten.
Als es endlich fünf Uhr ist, bin ich der Erste, der den Raum verlässt und das, obwohl ich noch zwanzig Minuten auf die nächste Bahn warten muss.
✴
Eine Woche später trage ich nicht nur meinen Rucksack, sondern auch einen Sportbeutel über meiner Schulter. Und obwohl lediglich ein paar Schuhe, ein altes Shirt und eine kurze Hose in der Nike-Tasche sind, wiegt sie ungefähr genauso viel wie das schwarze Klavier aus dem Musiksaal.
Marla hat mir heute die Schuhe ihres großen Bruders mitgebracht und mir mit leuchtenden Augen und einer dicken Umarmung dafür gedankt, dass ich ihr diesen Gefallen tue. Eigentlich müsste sie wissen, dass ich ihr kaum einen Wunsch abschlagen kann. Schließlich ist sie meine beste und einzige Freundin. Und der Mensch in meinem Leben, auf den ich am meisten zählen kann. Also beiße ich die Zähne zusammen und ignoriere das drückende Gefühl in meinem Bauch, je weiter der Tag voranschreitet. Während Mitschüler ein Referat über Wasserstoff als Treibstoffalternative halten, wandern meine Gedanken immer wieder zu der bevorstehenden Trainingseinheit und zu ihm. Kann er sich erinnern? Oder ist er so hinüber gewesen, dass er mich nicht wiedererkennen würde. Ich kann noch nicht mal genau sagen, ob ich ihm davon erzählen würde, dass ich bei ihm übernachtet habe, denn mittlerweile ist mir meine Entscheidung von damals peinlich. Wer legt sich schon bei irgendwem ins Bett und schläft dort, obwohl man sich gar nicht kennt? Auch wenn er mich gefragt hat und völlig verloren geklungen hat. Niemand wäre doch zurückgefahren und seiner Bitte nachgekommen.
Die Unruhe breitet sich weiter in meinem Körper aus und ich werde von Minute zu Minute nervöser. Es klingelt zum Stundenende und ich packe meine Sachen langsamer ein als der Rest. Auch wenn die wenigen Minuten nicht dazu führen, dass ich das Training verpassen werde.
Ich schlurfe durch die beinahe ausgestorbenen Gänge Richtung Ausgang. Gerade als ich die letzte Stufe der dunklen Steintreppe hinter mich gebracht habe, höre ich es. Meine verschwitzten Hände umgreifen die Sporttasche fester und obwohl ich mein Versprechen halten will, sind es meine Füße, die instinktiv meiner Herzensmelodie folgen. Es sind diese unspektakulär wirkenden Trommelschläge hinter denen nicht nur großartiges Potenzial, sondern vor allem unvergleichliche Musikgeschichte stecken. Sie tragen mich nach rechts Richtung Musiksäle, anstatt gerade aus nach draußen. Mein Kopf fügt dem konstant guten Beat die E-Gitarren und Bass-Parts hinzu. Meine Lippen formen die Zeilen, denen Kurt Cobain so viel Leben eingehaucht hat. Ich verharre einen Moment vor der Tür, weil ich eigentlich nicht vorhatte, Marla zu enttäuschen. Weil ich wirklich hingehen wollte. Aber wenn ich ehrlich zu mir bin, fühle ich mich nicht gut bei dem Gedanken ihm zu begegnen. Auch wenn ich den Ring meines Vaters vermisse, wüsste ich nicht, was ich Elias antworten sollte, wenn er fragt, warum ich bei ihm übernachtet habe. Außerdem brauche ich keinen Ring, um mich an den Verlust meines Vaters zu erinnern, da reicht mir der Anblick meines Spiegelbilds, dem ich mich jeden Morgen stellen muss.
Ich atme einmal tief durch. Die Tasche in meiner Hand fühlt sich nicht mehr tonnenschwer an.
Vielleicht ist es einer dieser Momente, an die man sich auch noch Jahre später erinnert. Einer dieser, So-hat-alles-angefangen-Augenblicke, die sich für immer in meinem Gedächtnis verankern.
Hinter den Drums sitzt ein schmaler Junge, der eine dunkelrote Kappe verkehrt herumträgt und seine Sticks im Rhythmus von Come as you are über das Percussion tanzen lässt. Dabei formen seine Lippen passend zu meinen den Text. Er ist völlig in seinem Element. Instinktiv greife ich nach einer der Gitarren und spiele das weltbekannte Riff genau an der richtigen Stelle. Und auch wenn die Gitarre nicht gestimmt ist und die Saiten zu weich sind, fühlt es sich absolut richtig an. Ich gucke in seine Richtung und unsere Blicke treffen sich. Dabei weicht er kein einziges Mal vom Takt ab, während ich mich beinahe anstrengen muss zu spielen.
Wir gleiten durch das Lied, als würden wir fliegen. Als würden wir uns schon Ewigkeiten kennen, so synchron ist unsere Musik. Man spürt unsere Leidenschaft in jeder einzelnen Note. Obwohl ich am liebsten ewig spielen würde, lasse ich das erste Riff, welches ich je gespielt habe, ein letztes Mal erklingen, bis in dem holzvertäfelten Raum von einem auf den anderen Moment absolute Stille herrscht.
Vorsichtig stelle ich die Gitarre zurück und gehe ein paar Schritte auf den Drummer zu.
»Du … Verdammt, das war unglaublich«, beginne ich ein Gespräch, weil der Junge mit den Sticks in der Hand plötzlich zurückhaltend wirkt, obwohl er viele gute Schlagzeuger in den Schatten gestellt hat.
»Wie heißt du?« Auf meine Frage hin legt sich ein leichter Rosaton auf seine Wangen.
»Benjamin. Benji«, entgegnet er und reibt sich die Hände an der zerrissenen, schwarzen Jeans ab.
»Ich bin Arian. Wie lange spielst du schon? Du bist richtig gut.« Mittlerweile ist sein gesamtes Gesicht rot angelaufen und er zieht sich die Kappe ab, um mit der Hand durch seine dunkelblonden Strähnen zu fahren.
»Ehm, danke. Mein Dad hat früher in ‘ner Band Schlagzeug gespielt. Deswegen bin ich mit den Sticks aufgewachsen.« Dann zuckt er mit den Achseln und setzt sich die Kappe wieder auf.
»Hast du mal Lust, ein bisschen zu jammen? Meine Stiefschwester spielt auch Gitarre.« Als ich Lexi von meinen Jungs, den Auftritten und unserer Musik erzählt habe, haben ihre Augen geleuchtet und ich weiß, dass ich sie nicht lange überreden müsste.
Letztlich erklärt sich Benji dazu bereit und wir tauschen Nummern aus. Es ist das erste Mal seit meinem Wechsel an diese Schule, dass ich mit einem fetten Grinsen nach Hause gehe.
Kapitel 4
Elias
Manchmal frage ich mich, wann endlich der Tag kommt, an dem die Leere in meinem Kopf und die Schwere in meinem Herz der Vergangenheit angehören. Aber anstelle von Besserung habe ich das Gefühl, beinahe erdrückt zu werden von der Dunkelheit.
Ich muss mich dazu zwingen, mich auf den Ball an meinem Fuß und auf die nächste Übung zu konzentrieren. Das ist aber leichter gesagt als getan, wenn jeder Gedanke ins Leere läuft.
»Mann, Elias. Was ist heute los?«, beschwert sich Jonas, nachdem ich zum zweiten Mal in Folge den Ball viel zu weit gespielt habe.
Ich wüsste auch gerne, was mit mir los ist. Aber ich murmele nur ein »Sorry« und versuche es nochmal. Zum Glück ist unser Trainer heute wieder mal mit der Abwehr beschäftigt und ihm entgehen die meisten meiner Patzer. Darauf, mir seine Unzufriedenheit in Form von lautem Gebrüll anzuhören, kann ich verzichten.
Nachdem wir unser Abschlussspiel gemacht haben, laufen wir alle gemeinsam aus. Obwohl ich es nicht erwarten konnte, das Training hinter mich zu bringen, will ich jetzt am liebsten gar nicht weg. Zuhause ist die Stimmung noch schlimmer als in meinem Kopf und ich habe das Gefühl, dass mir das gerade nicht guttut.
Aber ich will die Zeit mit meiner Schwester und meiner Familie gemeinsam verbringen, weil ich nicht weiß, wie lange wir noch zu viert sind.
Also beiße ich meine Zähne Tag für Tag zusammen und pinsele mir ein Lächeln ins Gesicht, was sich so unnatürlich anfühlt, wie mit Fußballschuhen schlafen zu gehen. Neben den ganzen Dingen, die mich beschäftigen sollten, befasst sich mein Gehirn aber oftmals damit, herauszufinden wer der Typ war, der bei mir übernachtet hat. Allerdings sind meine Gedanken in dem Bereich momentan genauso zielführend wie mein linker Fuß. Nämlich gar nicht. Komischerweise sind das aber die einzigen Augenblicke am Tag, wo ich zumindest das Gefühl habe, dass sich irgendwo hinter all den Wolken doch noch die Sonne versteckt. Die Momente, in denen ich den Ring in meiner Hosentasche berühre, der mich daran glauben lässt, dass ich irgendwann wieder auftauche und der alte Elias bin.
Der Elias, der Fußball aus Leidenschaft spielt und nicht, weil seine Mutter den Job verloren hat und er damit ein bisschen Geld zur Haushaltskasse zusteuert.
»Was ist in letzter Zeit los mit dir?«, fragt Jonas, nachdem wir uns ein paar Meter zurückfallen gelassen haben.
Mein Blick gleitet durch den Sportpark des 1. FC Bromberg, indem wir trainieren dürfen, weil wir der U19 des Zweitligisten angehören. Unsere Schule zählt zu den wenigen in Deutschland, die als Fußballschule ausgezeichnet sind und wir somit schon während der Jugend die Möglichkeit haben, in den Profisport reinzuschnuppern. Ich zucke mit den Schultern. Jonas ist zwar mein bester Freund, aber das heißt noch lange nicht, dass er meine Stimmung und meine Gedanken aushalten muss.
Aber ich vergesse immer wieder, wie gut er mich kennt. Wie er genau weiß, dass er nur lang genug warten muss, bis ich die Stille nicht mehr aushalte. Bis unser stetiges und angestrengtes Atmen mit den Geräuschen unserer Schuhe auf dem künstlich angelegten Rasen, mich fast erdrücken. Bis ich seine Anwesenheit kaum noch ertragen kann, obwohl ich weiß, dass es mir schlechter gehen würde, wenn ich allein wäre. Das kleine Stadion ist der Ort, den die Dunkelheit immer gemieden hat, aber selbst hier sind mittlerweile überall Schatten und die kommen nicht von den Flutlichtern, die den Kunstrasenplatz säumen. Ich schließe die Augen, höre auf meine schnellen Atemzüge und gebe mir einen Ruck.
»Es ist im Moment nicht so einfach«, beginne ich und verstumme wieder. Eigentlich ist auch das eine Lüge, weil ich mehr als zwei Wochen nicht mehr als Moment ansehe. Und plötzlich bekomme ich richtig Schiss, dass ich vielleicht gar nicht mehr der alte Elias werde. Dass die Dunkelheit jetzt jeden Tag Einzug hält und mir schleichend alles nimmt, an dem ich jemals Freude hatte.
»Wegen Mila?«, fragt er dann und ich höre genau wie viel Schwermut in den beiden Wörtern mitschwingen.
»Ja und nein.« Ich weiß nicht, wie ich das, was ich fühle, in Worte fassen soll. Wie ich es formulieren kann, dass es sich nicht so schlimm anhört.
»Hast du ein Rätselbuch verschluckt oder spielen wir heute Elias Holmes und Jonas Watson?«, sagt er dann, nachdem ich minutenlang geschwiegen habe.
»Es geht mir schon länger nicht so gut. Milas Insuffizienz hat es vielleicht noch etwas verschlimmert.« Meinen Blick halte ich während des Redens gesenkt, obwohl er sich immer wieder in meine Richtung dreht.
»Ehrlich gesagt, verstehe ich es nicht genau. Kannst du vielleicht konkreter werden?« Ich beginne meine Atemzüge zu zählen und nicht die zu schnellen Herzschläge.
»Manchmal wache ich morgens auf und frage mich, ob es auffallen würde, wenn ich einfach liegen bleibe und nie wieder aufstehe. In letzter Zeit fühlen sich meine Tage eher so an, als würde ich schwimmen und gleichzeitig ertrinken. Es ist schwer zu beschreiben, weil sich alles so surreal anfühlt. Weil mein Leben dann wirkt wie das aus einer Parallelwelt. Aus einer ziemlich beschissenen, düsteren Welt. Manchmal verliere ich Stunden am Tag und weiß nicht, was ich in der Zeit gemacht habe.« Ich atme zitternd aus und versuche zu ignorieren, wie schwach ich mich plötzlich fühle. Wie eng mein Hals wird und wie schnell mein Herz in der Brust schlägt. Das Herz, welches ich am liebsten rausschneiden und meiner Schwester geben würde, weil ich weiß, dass sie besser darauf achten würde. Weil sie dann die Möglichkeit hätte, all das zu machen, wovor ich mich zurückziehe.
Unsere Schritte werden langsamer, auch wenn unsere Atemzüge immer noch zu schnell sind. Jonas hat noch nichts gesagt, was mich verunsichert. Zitternd nestele ich an dem feuchten Stoff meines Trikots.
»Wie oft ist manchmal?«, fragt er dann und schaut in meine Richtung.
»Jeden Tag.« Meine nächsten Atemzüge gehen zitternd und ich habe Angst. Dabei kann ich nicht mal so richtig sagen, wovor eigentlich.
»Verdammt, Elias. Ich habe dir doch schon mal gesagt, dass du immer und jederzeit mit mir reden kannst.«
Weißt du eigentlich, wie verdammt schwer das ist, würde ich ihm am liebsten entgegnen.
»Ich weiß«, erwidere ich nur murmelnd. Bevor wir durch die gläserne Tür in den Umkleidebereich gehen können, hält er mich an der Schulter fest und dreht mich zu sich. »Ich kann dir zuhören, immer. Aber vielleicht solltest du mal überlegen, dir richtige Hilfe zu suchen.«
Und plötzlich ist sie wieder da und schnürt mir den Brustkorb, samt Hals zu. Die Machtlosigkeit und das Gefühl der Ausweglosigkeit legen sich wie eine Last auf meine Schultern und meinem Oberkörper.
»Elias, es ist nicht schlimm, sich Hilfe zu suchen. Nur, weil du kein gebrochenes Bein hast und man dir die Krankheit nicht ansieht, heißt das noch lange nicht, dass du gesund bist. Und ich weiß, dir ist klar, dass du nicht gesund bist.«
Ich presse meine Lippen aufeinander. »Ich kann nicht. Meine Eltern machen sich schon genug Sorgen wegen Mila. Was für ein Bruder bin ich, mich jetzt in den Mittelpunkt zu stellen?«
»Du hast eine Schwester, die jeden verdammten Tag darum kämpft zu leben. Meinst du wirklich, du tust deiner Familie damit einen Gefallen, wenn du einfach aufgibst?«
Seine Aussage schmerzt wie eine Ohrfeige, auch wenn ich weiß, wie viel Wahrheit in ihr steckt.
»Denk wenigstens darüber nach. Und versprich mir bitte, mit mir zu reden, wenn es dir schlechter geht.«
Zur Antwort nicke ich nur, was ihm ein schiefes Lächeln entlockt.
»Du weißt, dass du der schlechteste Lügner überhaupt bist. Also werde ich das schnell aufdecken, falls es dir noch schlechter geht und du kein Wort sagst.«
Ich rolle mit den Augen und schenke ihm ein schmales Lächeln. Dann legt er den Arm um meine verschwitzten Schultern und wir gehen in die Kabine. Die anderen sind alle schon unter der Dusche. Ich ziehe mir das enge Unterziehshirt aus und werfe es in meine Sporttasche.
»Sag mal, wie sieht es eigentlich in Sachen Cinderello aus?«, fragt Jonas dann feixend. Ich antworte nicht, sondern bemühe mich ihn einfach zu ignorieren.
»Jetzt sag schon. Trägst du immer noch den Ring mit dir rum und wartest auf die Gelegenheit ihm, ihn anzustecken?«, hakt er dann weiter nach, immer noch breit grinsend. Doch bevor ich ihm den Mittelfinger zeigen kann, hat sich Tom schon in unser Gespräch eingemischt.
»Von welchem Ring reden wir? Und warum ihm, stehst du jetzt auch auf Kerle?« Er betrachtet mich missbilligend. Danke, Jonas.
»Geht dich einen Scheißdreck an«, entgegne ich und habe genau eine Sekunde später ein schlechtes Gewissen, weil Tom schließlich nichts für meine Stimmung kann. Trotzdem hat er es irgendwie verdient. Der Mittelfeldspieler ist immer vorlaut, hat grundsätzlich etwas beizutragen, auch wenn er nicht gefragt wird, und verhält sich oft homophob. Ich habe noch nicht ganz rausbekommen, ob er einfach gerne Schwächere und Minderheiten mobbt, selbst schwul ist oder er die Muster von zuhause übernommen hat. Nichtsdestotrotz sollte er lernen, dass es nicht akzeptabel ist. Genauso wie der abwertende Blick, den er mir gerade zuwirft.
»Gibt’s ein Problem, Tom?«, frage ich bemüht gelassen und fixiere seine Augen, in denen ein herablassender Ausdruck glitzert.
»Selbstverständlich nicht, Captain«, säuselt er, mit einem gekünstelten Lächeln auf den dünnen, rissigen Lippen.
Ich würde ihm gerade am liebsten eine reinschlagen, da setzt er noch etwas nach.
»Sommer ist noch unter der Dusche, kannst ja seinen Schwanz schon mal blasen.« Doch bevor ich die zwei Schritte auf ihn zugehen und ihm eine verpassen kann, kommt Jonas von rechts und schlägt ihm mit der Faust mitten ins Gesicht. Ich taumele selbst ein Stück zurück, weil ich damit nicht gerechnet habe.
Nur einen Augenblick später habe ich mich wieder gefasst und ziehe Jonas zurück. Auch wenn ich mir nicht so viel Mühe gebe, wie ich es eigentlich als Kapitän der Mannschaft sollte. Auch Leon, Sven, Fabian und Mathis rennen zu uns und helfen mir dabei, die beiden auseinanderzuziehen.
»Was ist passiert?«, fragt Leon, erhält aber keine Antwort, weil jeder damit beschäftigt ist einen der beiden im Zaum zu halten.
»Du dummes Arschloch«, schreit Tom. Seine Augen sind zu Schlitzen geformt während die Tattoos auf seinen Armen vor lauter Anstrengung beinahe lebendig wirken. Blut läuft ihm aus der Nase, doch es scheint ihn wenig zu kümmern, weil seine Aufmerksamkeit ganz bei meinem besten Freund liegt, der sich laut schnaubend immer wieder versucht aus unseren Griffen zu drehen.
»Homophober Wixer. Du kannst was erleben.« Doch nur wenige Augenblicke später durchschneidet die strenge Stimme unseres Trainers die Stille.
»Was zur Hölle ist hier los?« Keiner von uns antwortet. Man würde ein Handtuch fallen hören, so still ist es in der Umkleidekabine. Es sind lediglich die angestrengten Atemzüge von Tom und Jonas zu hören.
»Zell?«, richtet der Trainer sein Wort an mich. Ich lasse von Jonas ab und drehe mich in seine Richtung. Die kleinen wässrigen Augen funkeln mich wütend an. Seine Gesichtszüge zeichnen sich hart und erbarmungslos ab.
»Ich habe mich mit Jonas unterhalten, woraufhin sich Wolfsson eingemischt hat. Er hat unserem Gespräch wohl entnommen, dass ich auf Kerle stehe, was ich so nie gesagt hab. Er hat sich zum wiederholten Male schwulenfeindlich geäußert.«
»Stimmt das?«, donnert Trainer Reinharts Stimme durch den kleinen Raum. »Ja«, kommt es von Jonas, während Tom seinen Kopf gesenkt hält.
»Was hast du zu Zell gesagt, Wolfsson?« Dieser hebt den Blick und in seinem Gesicht ist alles an Überlegenheit und Wut verschwunden, was sich eben noch überdeutlich abgezeichnet hat.
»Nichts«, presst er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Schmitt?« Jonas guckt kurz in meine Richtung, dann wieder zurück zu unserem Trainer.
»Er hat darüber geredet, dass Mathis unter der Dusche steht und Elias ihm einen blasen soll.«
Einige Jungs um uns herum, die vorher nichts von dem Streit mitbekommen haben, ziehen scharf die Luft ein. Coach Reinharts Kopf ist mittlerweile dunkelrot und er schreitet langsam auf Tom zu.
»Guck mich an, wenn ich mit dir reden will«, verlangt er von dem Mittelfeldspieler, der daraufhin seinen Kopf hebt.
»Habe ich dir jemals das Gefühl gegeben, du könntest deine Teamkameraden fertig machen, ohne, dass es Konsequenzen nach sich zieht?«
»Nein, Trainer«, entgegnet Tom zurückhaltend.
»Ich brauche wohl nicht zu fragen, warum du es dann machst. Es interessiert mich nämlich nicht. Homophobie, Ausländerfeindlichkeit und alle anderen Ausgrenzungen haben auf meinem Platz nichts zu suchen. Zusätzlich steht der Punkt auch auf dem Vertrag des Vereins, den du unterschrieben hast. Wir sind eine Einheit. Ein Team. Und da du ganz klar die Regeln verletzt hast, werde ich dich von heute an suspendieren. Pack deine Sachen.« Ein Raunen geht durch die Kabine und alle blicken sich erschrocken an. Die meisten stehen immer noch, nur mit Handtuch bedeckt da und haben sich kaum von der Stelle bewegt.
»Aber Trainer, es ist unser letztes Schuljahr. In ein paar Monaten schreiben wir Abi. Ich wollte danach …«
Doch bevor Tom seinen Träumen Worte verleihen kann, unterbricht ihn Reinharts wieder. »Das hättest du dir vorher überlegen können. Santiago, du bekommst Wolfssons Stammplatz.«
Jeder schaut plötzlich in die Richtung von Enzo, der vor einem Monat an unsere Schule gewechselt ist. Er ist vor etwas mehr als einem Jahr mit seiner Familie nach Deutschland gekommen.