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»Gibt es in diesem Raum noch jemanden, der ein Problem mit Minderheiten hat?«, fragt Reinharts und blickt jeden der Jungs ziemlich streng an, die alle vehement mit dem Kopf schütteln.
»Gut. Zieh euch jetzt verdammt nochmal an. Ich habe Hunger und will nach Hause.« Dann verlässt er den Raum und wir folgen seiner Anweisung. Wobei niemand ein Wort spricht.
✴
Ich schultere meine Tasche und verlasse gemeinsam mit Jonas und Fabian die Kabine. »Könnt ihr glauben, dass er Enzo eingesetzt hat?«, fragt Jonas, als wir den gepflasterten Weg Richtung Parkplatz gehen.
»Enzo ist flink und ziemlich gut mit dem Ball am Fuß«, entgegnet Fabian und ich nicke, während ich nach den Autoschlüsseln in meiner Tasche krame. Es riecht nach Regen und ich hoffe, dass es nicht jeden Moment losgeht, sonst hätte sich die Dusche nicht gelohnt.
»Klar ist er gut, das sag ich ja gar nicht. Aber er ist gerade in die elf gekommen«, erwidert Jonas und fährt sich durch die noch feuchten Haarspitzen. Die Laternen am Gehweg setzen seinen rot leuchtenden Wangenknochen, wo Tom ihn getroffen hat perfekt in Szene. Das wird garantiert morgen ziemlich blau leuchten, doch das macht Jonas nichts aus, weil er so wieder eine Geschichte zu erzählen hat.
»Was soll der Coach denn machen, wenn die Hälfte der Mannschaft nach diesem Jahr aufhört?«, werfe ich ein und lasse den Schlüsselbund durch meine Finger gleiten.
»Stimmt. Da hast du auch wieder recht«, erwidert Jonas.
»Natürlich hat er recht, er ist schließlich nicht ohne Grund der Captain«, erwidert Fabian und zieht sich seine dunkle Mütze tiefer in die Stirn.
»Schleimer«, ruft Jonas und schubst Fabian so plötzlich, dass dieser fast gegen den Golf gestoßen wäre, neben dem ein schwarzhaariges Mädchen steht.
»Hast du für heute nicht genug?«, frage ich Jonas genervt und blicke zu der Unbekannten, die scheinbar auf einen der Spieler wartet.
Sie erinnert mich an die Freundin von ihm. Zumindest hat er eine dunkelhaarige, kleine Person an der Hand gehalten, als ich ihn auf der Party gesehen habe. Der Größenunterschied der beiden ist enorm gewesen. Bevor ich es mir anders überlege, gehe ich auf das Mädchen zu.
»Hey, wartest du auf jemand Bestimmten?« Ihre hellen Augen und die helle Haut lassen sie in dem Schatten der Straßenlaterne fast schon unwirklich erscheinen. Irritiert mustere ich sie, weil ihr Blick die ganze Zeit auf meinen Lippen liegt.
»Hat sich erledigt«, antwortet sie. Und auch wenn der Ausdruck in ihren Augen Zurückhaltung offenbart, wirkt ihre Stimme irgendwie unfreundlich.
»Vielleicht solltest du im Auto warten. Ich habe gerade den Sportpark abgeschlossen, das heißt, nach uns kommt keiner mehr und ich bin mir nicht sicher, wer hier spätabends rumgeistert.«
Sie nickt und setzt sich wenig später in ihren dunklen Golf, der mir irgendwie bekannt vorkommt. Nachdenklich gehe ich zu unserem Auto, das ich im Winter fürs Training nutzen kann. Fabian und Jonas scheinen schon abgehauen zu sein. Auf der Rückfahrt fällt mir auf, dass ich sie jetzt gar nicht nach dem Blonden gefragt habe, der mich an dem Abend nach Hause gebracht und dann bei mir übernachtet hat. Es wäre aber auch komisch gewesen sie zu fragen, wenn sie ihn gar nicht kennt. Es gibt schließlich genug Mädchen mit schwarzen Haaren.
✴
Ich öffne vorsichtig die Zimmertür von Mila, weil ich Angst habe, dass sie schon schläft. Aber sie empfängt mich mit einem breiten Strahlen, das ihre dünne Haut im Gesicht spannt und beinahe durchsichtig erscheinen lässt. Wie nicht anders zu erwarten, hält sie ein Buch in den Händen.
»Was gibt‘s, Eli?«, fragt sie, dabei geht ihre Atmung stoßweise und sie wirkt angestrengt. Selbst im Licht der warmen Nachttischlampe scheint ihre Haut bläulich.
»Können wir reden?« Obwohl unser Altersunterschied groß ist, hat uns das nie gestört. Von klein auf ist Mila einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben.
Sie klopft neben sich auf die rosa Decke, die unsere Oma für sie gehäkelt hat. Ich schiebe den Infusionsautomaten ein Stück zur Seite und setze mich neben sie. Ihre Augen mustern mich wachsam, auch wenn ihre Lider zittern, weil sie wahrscheinlich zu wenig geschlafen hat.
»Was ich dir jetzt erzähle, ist in keinem Fall deine Schuld, okay?«
Sie nickt zur Antwort und ich fahre fort. Ich erzähle ihr alles, was ich die letzten Wochen gefühlt habe und was Jonas heute gesagt hat.
Nachdem ich fertig bin, haftet mein Blick noch immer an der selbstgezeichneten Ballerina, die direkt gegenüber von Milas Bett hängt. Sie wollte immer tanzen, aber das hat nur zwei Jahre geklappt, weil ihr Herz zu schwach war. Noch heute spricht sie davon, endlich wieder anzufangen, wenn sie ihr neues Herz bekommt.
»Elias, was haben Mama und Papa davon, wenn wir beide sterben?« Ihre Stimme ist leise und die langen Atempausen lassen ihre Aussage noch dringlicher wirken. Meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen und ich weiß, dass sie recht hat.
»Du brauchst Hilfe. Nur, weil du nicht so doof aussiehst wie ich und deine Symptome deutlich besser verstecken kannst, bist du genauso krank.« Sie lehnt sich noch ein Stück zurück in ihren Kissenberg, während ich versuche meine zitternde Atmung zu beruhigen, die mich sonst verraten würde. Die sonst offenbare würde, dass mir die Tränen die Wange runterlaufen.
Sie legt ihre kalte Hand auf meine und drückt einmal zu.
»Elias, du musst kämpfen.« Und dann kann ich die Tränen nicht mehr aufhalten. Sie streichelt die ganze Zeit über meine Hand, während ich versuche wieder Luft zu bekommen. Augenblicke vergehen, in denen die Tränen endlich versiegen. Ich will ihr sagen, wie sehr ich sie liebe, entscheide mich aber dann, es auf meine Weise zu machen.
»Wer tritt mir denn in den Arsch, wenn du nicht mehr da bist?«, frage ich mit zitternder Stimme. Ein Lächeln schwebt über ihre blass-blauen Lippen.
»Deine Freundin. Falls du mal eine mitbringst.« Ich bemühe mich, keine Reaktion zu zeigen und nicht an den blonden Typen zu denken, dessen Ring immer noch in meiner Hosentasche ist. Ich kann den Blick von ihrem nicht abwenden, weil sie dann genau wüsste, dass etwas im Busch ist. Trotzdem beweist sie wieder ihre ausgesprochen gute Menschenkenntnis und legt ihren Kopf schräg.
»Es gibt eine, oder?« Ihre Augen leuchten förmlich, aber ich merke auch im Augenwinkel wie stark sich ihre Schultern mittlerweile unter ihrer Atmung heben und senken.
»Schlaf jetzt«, sage ich und will gerade aufstehen, als ihre kalte Hand über meinen Arm wandert. Ich erschaudere kurz, obwohl ich eigentlich daran gewöhnt sein sollte, weil ihre Hände nie wirklich warm waren.
»Was ist, wenn Lutzi heute Nacht aufgibt? Dann werde ich nie erfahren, wer es ist.«
Lutz ist das Herz, welches unter der roten, fleischigen Narbe schlägt, die ihre Brust in zwei Hälften zu spalten scheint. Seit Lutz sie nicht mehr richtig versorgen kann, hat sie ihn Lutzi getauft, weil sie der Meinung ist, dass Frauen das stärkere Geschlecht sind und Lutzi sie im Gegensatz zu Lutz nicht sterben lässt. In so Momenten merkt man, dass sie nie richtig Kind sein durfte, sondern schon viel zu schnell, viel zu viel Verantwortung übernehmen musste.
»Du ziehst diese Karte?«, frage ich und versuche das unangenehm drückende Gefühl, in meiner Magengegend, zu ignorieren. Es ist einfach, mit Mila über ihr vielleicht bevorstehendes Ende zu reden, weil sie diese unglaubliche Leichtigkeit versprüht, die mich über all die piepsenden Geräte an ihrem Bett hinwegsehen lässt. Die es mir ermöglicht, mir zumindest für einen kurzen Moment vorzustellen, dass es nur einfache Scherze sind und kein Szenario, das plötzlich eintreten kann. Wird.
Ihre Augen blitzen herausfordernd und ich sehe, wie sie sich bemüht ihre angestrengte Atmung vor mir zu verbergen. Aber was sie nicht verstecken kann, sind die flatternden Nasenflügel und die tiefe Einkerbung zwischen ihren Schlüsselbeinen. Ich hatte zwölf Jahre Zeit zu erkennen, wann es ihr schlecht geht und wann nicht. Mittlerweile kann ich sie genauso gut lesen, wie sie mich.
»Okay«, gebe ich mich seufzend geschlagen und beginne ihr alles zu erzählen.
»Ich habe keine Ahnung, wer er ist, aber es ist dieses Gefühl, mich in seiner Nähe gut zu fühlen. Obwohl wir nur ein paar Stunden miteinander geteilt haben, an die ich mich noch nicht mal erinnern kann. Irgendwie fühlt sich der Ring mittlerweile wie ein Glücksbringer an.« Ich fahre mir mit den Händen durch die Haare und lache verzweifelt auf, weil es sich noch absurder anhört alles auszusprechen.
»Es ist doch egal, ob du am Ende auf ihn stehst oder nicht. Wenn du ihn in deinem Leben haben willst, solltest du anfangen, nach ihm zu suchen.« Auch ihr liebevolles Lächeln kann nicht von den müden Augen ablenken, die mir entgegenblicken.
»Wann bist du eigentlich so schlau geworden?«, frage ich und beuge mich zu ihr, um ihr einen Kuss auf die blasse Stirn zu geben.
»Finde ihn«, entgegnet sie nur und schließt dann ihre Augen. Ich nehme das Buch aus ihren Händen und lege es auf ihren Nachtschrank, neben das volle Tablettendöschen, das bei einer Zwölfjährigen eigentlich nichts zu suchen hätte. Dann decke ich sie zu und verlasse ihr Zimmer, mit dem Entschluss endlich etwas zu ändern.
Kapitel 5
Arian
Heute ist einer dieser absolut ätzenden Tage. Ich nehme den Blaumann aus dem Schrank und ziehe ihn über meine Kleidung.
Nicht nur, dass Marla immer noch stinksauer ist, weil ich das Training geschwänzt habe, zusätzlich bin ich Nayomi heute über den Weg gelaufen. Sie hat mich nach einem Date gefragt und ich habe freundlich abgelehnt. Erstens hat sie mich wieder Adrian genannt und zweitens habe ich mit der Schule, dem Job und dem Jammen mit Lexi und Benji genug zutun. Natürlich konnte sie nicht nachvollziehen, wie ich ihr einen Korb geben konnte, und hat mich vor aller Augen runtergemacht. Sowas macht mir normalerweise nichts aus, aber mit Marlas demonstrativer Ignoranz war das heute einfach zu viel.
Zu allem Überfluss ist mein Chef heute krank und ich muss seine Arbeit übernehmen. Eigentlich mache ich nur Erledigungen für die Stationen oder wechsele Glühbirnen in den Krankenzimmern aus. Also all die Arbeit die man als Hausmeister-Gehilfe im Krankenhaus so erledigt. Auch wenn es keine besonders spannenden Aufgaben sind, mag ich die routinierten Arbeiten und das Geld stimmt.
Ich greife nach der blauen Kappe, ziehe sie auf und gucke, dass meine Haarsträhnen auch mit drinnen sind, weil ich keine Lust habe, mir am Ende die Farbe raus zu waschen.
Dann stelle ich die Farbeimer auf den Aluwagen und mache mich auf den Weg zur Kinderkardiologie.
Heute ist irgendeine Zeitung da für einen Spendenaufruf und die Ärzte und Schwestern haben sich überlegt, mit allen Kindern die fit genug sind, die Wände im Wartezimmer zu bemalen. Da mein Chef ausfällt, muss ich sie unterstützen.
Nicht, dass ich irgendwas gegen Kinder hätte. Aber ich bemühe mich seit über einem Jahr, Aufgaben aus der Kinderklinik zu entgehen, weil ich mir das Leid nur schwer angucken kann. Aber heute muss ich nicht nur irgendeine Glühbirne wechseln, sondern gemeinsam mit ihnen streichen. Die Aufzugtüren öffnen sich und ich fahre mit dem Wagen um die nächste Ecke. In dem Gang tummeln sich ein Filmteam und einige Schwestern in bunten Kasacks. Aber die vielen Kinder im Rollstuhl, mit Infusionsständern oder die ohne Haare, sind es, die meine Brust eng werden lassen.
»Arian, da bist du ja«, ruft Maggie und alle drehen sich plötzlich in meine Richtung. Ich hebe kurz den Arm und fahre dann mit den Farben in den Wartebereich. Irgendwer hat einen Overheadprojektor organisiert, der die Umrisse einiger Wikinger, die auf einem Schiff stehen, an die Wand projiziert.
Ich parke den Wagen und öffne die Farbtöpfe. Das Krankenhaus musste nochmal Pinsel nachbestellen, damit so viele Kinder wie möglich mitmalen können.
Dann ist es an mir, diese an die kleinen Patienten zu verteilen. Susie, die letztes Jahr ihre Ausbildung als Kinderkrankenschwester beendet hat, hat eine Musikbox mitgebracht, aus der ein passendes Hörspiel tönt. Und plötzlich wird in dem Raum alles leiser. Die Patienten, die noch keinen Pinsel haben, haben sich auf den Boden gesetzt und lauschen der Geschichte um ein mutiges kleines Kind, inmitten von starken Wikingern. Die anderen malen hochkonzentriert auf der Wand. Irgendwann ruft mich ein kleiner Junge, der nicht mehr an eine der oberen Stellen kommt, dass ich ihm helfen soll.
Kurzerhand hebe ich seinen viel zu leichten Körper aus dem Rollstuhl und helfe ihm dabei den Helm des Wikingers weiter zu malen. Als ich ihn wieder absetze, strahlt er mich mit so viel Dankbarkeit an, dass ich ein ganz warmes Gefühl in meiner Brust verspüre.
Immer wieder hellt ein Blitz den Raum auf, weil einer der Fotografen ein Bild von den Kindern macht.
Die Malerei an der Wand nimmt mittlerweile Form und Gestalt an und es sieht richtig gut aus.
Während ich den kleinen Patienten beim Malen zuschaue, wandern meine Gedanken zu dem heutigen Morgen, als der Tag noch gut zu werden schien. Es war das erste Mal seit Papas Autounfall, dass Iris mit mir gesprochen hat. Ich habe mich zuvor mit Hanna gestritten, die Kurts Leine immer irgendwo auszieht, weshalb ich wieder mal um sechs Uhr die ganze Wohnung danach durchsuchen musste. Wie jedes Mal hat meine Stiefmutter mitbekommen, wie Hanna mich von oben herab behandelt und dann einfach den Raum verlassen hat, ohne dass wir etwas geklärt haben. Aber ich bin es gewohnt, dass Iris darüber kein Wort verliert, schon gar nicht mir gegenüber. Gerade deshalb hat es mich völlig überrascht, dass sie mir eine Tasse Kaffee hingestellt hat.
»Ich finde es schön, dass du und Alexis wieder Musik macht«, hat sie gesagt und ist dann aus der Küche verschwunden. Selbst wenn ich jetzt daran zurückdenke, schleicht sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen, denn ich wünsche mir nichts mehr, als dieses Wochenende rückgängig zu machen.
Susie, die am Ärmel meines Blaumanns zupft erinnert mich daran, dass die Kinder mittlerweile ein unglaublich schönes und farbenfrohes Gemälde an die Wand gebracht haben und ich das Material einräumen sollte. Sie hilft mir dabei, die Pinsel und Farben zusammenzusuchen und auf den Wagen zu packen, dann wird sie von einer Kollegin in den Aufwachraum gerufen, um einen kleinen Patienten abzuholen.
Wir verabschieden uns, dann mache ich die Deckel auf die Farbtöpfe und schiebe den Wagen in Richtung Aufzüge.
Als ich den Knopf drücke, fängt mein Telefon an zu klingeln. Es ist eine Schwester aus dem OP, die mich bittet, nach der Schleuse zu gucken, die nicht mehr funktioniert. Ich schiebe den Wagen in den Raum für Hausmeisterbedarf und steckt noch ein paar Sicherungen und Werkzeug ein. Dann nehme ich die Treppe ins Erdgeschoss.
Ich bin so in Gedanken, dass ich die eingesunkene Gestalt mit den dunklen Haaren im Wartebereich beinahe übersehe. Aber als wäre mein Körper auf seine Anwesenheit konditioniert, hebe ich genau in dem Moment den Kopf, als er sich durch sein Gesicht fährt. Elias ist noch blasser als an dem Abend, als ich ihn nach Hause gebracht habe.
Seine Augen sind gerötet und seine Finger zittern, was selbst auf die Entfernung von fünf Metern zu erkennen ist. Ich könnte einfach weitergehen, meine Aufgabe erledigen und ihn ignorieren. Aber er wirkt so allein und verzweifelt auf dem kunstlederbezogenen Sitz, dass meine Füße sich wie automatisch in seine Richtung bewegen.
»Kann ich dir helfen?« Die Frage verlässt meine Lippen, noch bevor ich darüber nachdenken kann. Er blickt zu mir auf und lässt seine Hände sinken. Seine Augen, die noch vor zwei Wochen so leer gewesen sind, ufern jetzt über vor lauter Gefühlen. Ich schlucke hart, um den Kloß in meinem Hals zu entfernen. Vergebens.
Sein zusammengesunkener Körper, mit den dunkelblauen, schmerzgefüllten Iriden, lässt mir meine Augen feucht werden, ohne das ich weiß, was ihm überhaupt passiert ist. Warum er an einem Freitagabend im Krankenhaus sitzt. Ganz allein.
Also tue ich das einzig Richtige und lasse mich neben ihm nieder.
»Arbeitest du hier?«, fragt er nach einer Weile des Schweigens. Seine Stimme ist dünn und brüchig und sorgt dafür, dass die drückende Stimmung bleibt.
»Ja. Ich arbeite drei Abende in der Woche hier.«
»Krass. Gehst du noch zur Schule?«, will er dann wissen und mustert mich von der Seite. Ich warte darauf, dass er mich erkennt, aber sein Blick bleibt nicht lange an meinem Gesicht hängen, sondern heftet sich auf die Uhr, die hinter mir an der Wand hängt. Ich komme gar nicht dazu, auf seine Frage zu antworten, weil ich in dem tiefen Blau erkenne, dass er mit seinen Gedanken ganz woanders ist. Wir schweigen lange, sodass ich mich frage, ob ich einfach gehen soll.
»Meine Schwester wird gerade operiert. Also sie wurde operiert, sie ist im Aufwachraum und meine Eltern bei einem Gespräch mit den Ärzten.«
Plötzlich spüre ich den Schmerz, der in seinen Sätzen mitschwingt, und sehe die Trauer in den glasigen Augen. Instinktiv lege ich meine Hand auf seine.
»Was ist denn passiert?« Dann schaut er mich direkt an, so intensiv, dass ich das Gefühl habe, dass kein Gedanke vor ihm sicher ist.
»Meine Schwester ist mit einem kaputten Herz auf die Welt gekommen. Letze Nacht hatte ein anderes Kind einen Autounfall und Mila hat sein Herz bekommen.« Ich reiße die Augen auf und frage mich, warum er hier sitzt, als wäre jemand gestorben, wenn seine Schwester gerade wieder die Chance zu leben bekommt.
»Das heißt, deine Schwester wird leben. Das sind doch gute Nachrichten!«
Ein ganz leichtes Lächeln stiehlt sich auf seine Lippen.
»Ja. Aber die OP ist extrem anstrengend für ihren schwachen Körper. Ich darf sie einfach nicht verlieren.«
»Sie ist im Aufwachraum. Sie hat die OP also schon überstanden. Elias, deine Schwester wird leben, verdammt nochmal.« Ich würde ihn am liebsten schütteln, weil ich nicht verstehe, warum er so niedergeschlagen ist. Er schaut mich verwirrt an. Mir fällt auf, dass ich seinen Namen benutzt habe, dabei haben wir uns nie vorgestellt. Er weiß nicht mal, dass ich auf seine Schule gehe.
»Kennen wir uns?« Seine Augen mustern mich nochmal.
Ich hole tief Luft und schließe kurz die Augen. Das ist der Moment, wo ich ihm sagen muss, wer ich bin. Wo ich ihm erzählen muss, dass ich einfach bei ihm im Bett geschlafen habe. Ich will gerade ansetzten, da unterbricht mich eine Frau, die am anderen Ende der Halle steht.
»Elias! Mila hat es geschafft! Sie fahren sie gerade auf die Station. Wir können jetzt zu ihr.« Dann kommt die zierliche Frau, mit den dunklen Haaren auf uns zu gelaufen. Elias steht auf und nimmt seine Mutter in die Arme. Die Ähnlichkeit der beiden ist nicht zu übersehen. Sie ist ziemlich hübsch. Nicht das Elias hübsch ist, aber er sieht eben auch nicht schlecht aus.
Sein Vater tritt irgendwann auch dazu und legt die Arme um die beiden.
Ich rutsche unruhig auf meinem Stuhl rum, weil die Situation zu intim ist. Ich will wegrennen und gleichzeitig verharren, weil ich mir so vorstellen kann, dass Iris mich vielleicht auch nochmal umarmen wird. Dass wir wieder eine Familie sein können.
Als mein Blick auf die Uhr fällt, rappele ich mich auf, weil ich noch nach der Schleuse gucken will, bevor ich nach Hause fahre. Ich gehe gerade an Familie Zell vorbei, als Elias sich nochmal zu mir umdreht. Seine Wangen sind gerötet und tränennass, aber das hoffnungsvolle Leuchten in seinen Augen lässt mich unweigerlich lächeln. Er erwidert es.
»Wie heißt du eigentlich?«
»Arian«, antworte ich und lasse die Hände in die Taschen meines Blaumanns gleiten.
»Danke für alles, Arian«, sagt er und wendet sich dann wieder seinen Eltern zu. Schon lange hat niemand mehr meinen Namen mit so viel Zuneigung ausgesprochen.
Ohne daran irgendwas ändern zu können kribbelt mein ganzer Körper und mein Lächeln wird so breit, dass es beinahe in meinen Wangen schmerzt.
Irgendwie mag ich es in seiner Nähe zu sein.
Auf dem Weg zu den OPs stelle ich mir vor, wie es wäre mit Elias befreundet zu sein. Der Gedanke gefällt mir. Auch wenn ich ihn vorher nach meinem Ring fragen und ihm alles erzählen müsste. Unweigerlich streiche ich mit dem Daumen über die leere Stelle an meinem Ringfinger und denke dabei an meinen Dad.
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