Tara

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„Schon gut. Die Wohnung in Bukarest ist nur eine Unterkunft, um mir Hotels zu ersparen. Ich mag es lieber privater. Aber so selten wie ich da bin, muss ich es nicht besser einrichten. Es reicht für die Zwecke. Und nun werde ich sie ja wahrscheinlich sowieso nicht mehr brauchen, nachdem dort ein ganzer Vampirzirkel auf mich wartet, der mich lynchen will“, er zwinkerte mir zu und ich schaute ihn betroffen an. Er winkte nur ab.
„Hier ist mein zu Hause. Dies ist mein Zufluchtsort, wenn ich meine Ruhe will. Ich habe noch ein Appartement direkt im Zentrum von Helsinki, wenn ich mal 'Essen gehen' möchte“, er grinste. „Aber dieses ist auch eher zweckmäßiger eingerichtet. Dort verbringe ich nicht so viel Zeit wie hier.“
Ich ließ mich in einen der Korbsessel fallen. „Also hier könnte ich es auch aushalten.“
„Du kannst solange bleiben, wie du magst.“
„Vorsicht, sonst ziehe ich hier noch ein“, scherzte ich.
„Bitte, die Wohnung ist groß genug“, zwinkerte er wieder.
Mit Ville zusammen zu sein war so unbeschwert und leicht. Ich mochte seine Art. Seine Augen leuchteten wieder so blau wie das Meer hinter ihm.
Vielleicht hatte Ville recht und wir sollten uns heute einen Erholungstag gönnen. Eine etwas lockere Sightseeingtour mit Ville genießen, herumalbern und entspannen schien mir eine gute Idee zu sein, nach dem ganzen Stress. Mit der Suche würden wir dann morgen beginnen.
Helsinki rocks
Nachdem wir noch ein weiteres Glas Blut auf seinem Balkon genossen hatten, erfrischten wir uns, schlüpften in bequeme Kleidung und machten uns anschließend auf Helsinki zu erkunden.
Anstatt wieder ein Taxi zu rufen, dirigierte mich Ville ein paar Schritte weiter zu gehen, wo sein Auto stand, mit welchem er ins Zentrum fahren wollte.
Vor einem Mercedes 300 Adenauer Leichenwagenumbau aus den 60ern blieb er stehen. Ville fummelte seinen Schlüssel aus seiner Hosentasche, öffnete die Tür und hielt sie mir dann grinsend auf.
„Ist nicht dein Ernst?! Wirklich so ein Klischee fährst du? Ein Untoter in einem Leichenwagen..., echt jetzt?“, ich schüttelte lachend den Kopf.
„Hey, das Baby ist total heiß. Außerdem…, es ist das Auto, indem ich tot ins Leichenschauhaus gefahren wurde…, vor meiner Verwandlung“, andächtig strich Ville über den Lack.
„Du lagst tot da drin?“
„Ja. Und als ich wieder erwachte, nahm ich dieses Auto und fuhr wieder nach Hause. Erst ein paar Stunden später begriff ich, dass dies nicht die beste Idee gewesen war“, lachte er.
Mir wurde einmal wieder bewusst, dass ich noch kaum etwas über Ville wusste. Ich war so mit mir beschäftigt gewesen, dass ich ihn bisher nur selten etwas über sich gefragt hatte. Ich entschloss den heutigen Tag zu nutzen, um dies zu ändern. Er hatte sein ganzes Leben von einem Moment zum nächsten wegen mir über den Haufen geworfen. Da sollte ich wenigstens wissen, wer dieser Mann war, der so ein Opfer brachte.
Ich nahm in dem Auto Platz. Das Leder fühlte sich kühl an. Das Armaturenbrett war mit Mahagoniholz verziert. Ein Vanilleduftbäumchen baumelte über den Lüftungs-schlitzen.
Ville machte den CD-Player des Autoradios an. Aus den Boxen erklang HIM mit „Pretending“. Ich verdrehte die Augen und lachte wieder.
„Was? Magst du HIM nicht?“
„Hallo? Wie kann man HIM nicht mögen?! Seit 'Join me in death' bin ich fest in ihrem Bann! Aber es ist schon ein bisschen… schräg.“
Ville sah mich mit großen Augen unverständlich an.
„Na ich sitze hier mit einem Ville in Helsinki im Auto und es ertönt finnische Rockmusik von Ville Valo?!“, wieder schüttelte ich lachend den Kopf.
„Also ich finde da gar nichts komisch“, meinte Ville und ließ das Auto an. Ich sah jedoch, wie seine Mundwinkel zuckten. Konnte es sein, dass sich Ville einfach nur einen Spaß mit mir machte?
Langsam wendete ich kritisch dreinblickend mein Augenmerk von ihm ab. In dem Moment hörte ich ihn leise kichern. Mistkerl!
Wir fuhren an der Uspenskin katedraali vorbei über die Brücke der Kanavakatu bishin zum Senatsplatz, in dessen Nähe Ville sein Auto abstellte.
Unsere Tour startete mit dem weißen „Dom zu Helsinki“, bei dem es sich um eine evangelische Kirche aus dem 19. Jahrhundert handelte.
Fast schon andächtig bestiegen wir die Treppen, die zum Eingang hinaufführten. Die Größe des Gebäudes wirkte sehr erhaben und beeindruckend. Der Sockel, auf dem sie stand, betonte dies noch.
Die Kirche war innen ebenfalls fast ausschließlich in Weiß gehalten und mit goldenen Akzenten elegant gestaltet.
Ville erklärte mir einiges geschichtliches zu der Kathedrale. Diese Art von Fremdenführung erinnerte mich an Tristan, wie er mir bei unserem Sizilienurlaub als Zeitzeuge alles erzählte. Jene Zeit schien mir so ewig her, als wäre sie nur ein Traum gewesen. Lediglich der Ring an meinem Finger erinnerte mich, dass diese Erinnerungen einmal real gewesen waren.
Noch bevor ich in Melancholie versinken konnte, führte mich Ville aus dem Dom wieder heraus und wir gingen weiter Richtung Zentrum.
Wir blieben vor einem Felsgebilde stehen. Ein flacher Betonbalken wies den Eingang. Darüber bäumte sich im Hintergrund eine Kuppel. Es sah aus, als wäre ein Ufo gelandet.
„Das ist der Temppeliaukio..., die Felsenkirche. Sie ist direkt in den Felsen geschlagen wurden“, erklärte Ville wissend.
Ich war sehr gespannt, was mich innen erwarten würde. Wie eine Kirche wirkte dieses Bauwerk jedenfalls nicht.
Meine Vorurteile wurden sofort abgestraft. Im inneren der Kirche empfing mich ein wundervoller, außergewöhnlicher Anblick. So hatte ich eine Kirche noch nie gestaltet gesehen.
Die Wände bestanden tatsächlich aus unbehauenem Felsgestein. Gemütliche Holzbänke waren im Halbkreis zu einem Altar ausgerichtet, welcher mehr Ähnlichkeit mit einer Theaterbühne aufwies.
Das raumschiffartige Kuppeldach stand auf vielen Holzpfeilern, zwischen denen Fenster eingebaut waren, sodass trotz der Steinmauern ein sehr offenes und luftiges Raumgefühl entstand. Es war wirklich wunderschön.
Ich ließ mich auf eine der Bänke nieder, um die Kirche in Ruhe zu bewundern.
„Schön, dass wir, entgegen den literarischen Vermutungen, Gotteshäuser betreten können“, flüsterte Ville grinsend.
„Wie wurdest du eigentlich verwandelt?“, fiel mir mein guter Vorsatz für den heutigen Tag ein.
Villes Lächeln verebbte ein wenig. Unbeholfen zuckte er mit den Schultern.
„Es war sozusagen das Aufnahmeritual, um in der Band mitzuspielen, auf die ich damals so stand.“
Ich sah ihn mit großen Augen an. „Bitte, was?“
Ville grinste. „Komm mit, ich zeige dir was.“
Wir verließen die Kirche und gingen zurück zu seinem Auto. Ville fuhr uns zum Südhafen von Helsinki.
Hinter einem alten Fabrikgebäude parkte er sein Auto. Er stieg aus, ging um den Kofferraum herum und holte einen Gitarrenkoffer heraus.
„Ich hoffe du stehst auf illegale Sachen“, grinste er geheimnisvoll.
Fragend schaute ich ihn an. „Wir müssen durch ein paar Türen, die nicht für Besucher geöffnet sind“, erklärte er zwinkernd.
Um uns vor neugierigen Menschenblicken zu schützen, legten wir ein vampirgemäßes Tempo vor, um in das alte Fabrikgelände einzubrechen.
Wir kletterten über einen Maschendrahtzaun, sprangen auf ein Vordach und von dort aus auf das nächstgelegene Flachdach.
Von diesem aus stiegen wir durch ein kaputtes Fenster ein und schlenderten anschließend gemütlich durch die Gänge der alten Fabrik.
In der dritten Etage öffnete Ville eine Tür und wir standen in einem großen, leeren Zimmer.
Ville stellte seine Gitarre ab und durchschritt den Raum. Dann breitete er die Arme aus. „Hier geschah es. Hier wurde ich verwandelt.“
„Was, hier?“, ich schaute mich erneut um. Natürlich war davon nichts mehr sichtbar. Dennoch war es für mich in diesem Raum nicht vorstellbar, dass Ville hier seinen Tod fand.
Ville setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. „Es war 1975. Ich war damals 22 Jahre alt. Zu dieser Zeit stand ich total auf Heavy Metal…, Black Sabbath und so. Es gab damals eine finnische Band, die ähnliche Musik machte und die ich vergötterte. Sie hatten eine Bassistin, eine absolute Ausnahme in der Szene zu dieser Zeit. Sie war mega heiß“, Ville grinste über beide Ohren.
„Ich erfuhr, dass sie einen Gitarristen suchten. Natürlich ging ich zum Casting und wurde auch tatsächlich genommen. Nach der ersten Probe meinten sie, dass ich ein Teil von ihnen werden müsste, um wirklich zu der Band zu gehören. Ich verstand erst nicht so recht, was sie meinten. Sie gaben mir Alkohol, redeten etwas von Vampirismus und ewige Bandzugehörigkeit. Ich wurde nicht schlau daraus. Es war damals eine verrückte Zeit, ich war jung und hinterfragte nicht, was ich da hörte.
Ich wollte einfach der Band angehören, kostete es was es wolle. Als mich dann die Bassistin küsste, war es ganz um mich geschehen. Die anderen Bandmitglieder verließen den Raum und ließen uns allein.
Ich dachte, ich hätte den Jackpot geknackt. Gitarrist in der geilsten Band Finnlands, die heißeste Bassistin dazu..., Bingo! Doch während sie mit mir schlief biss sie mich. Danach kann ich mich kaum an etwas erinnern.
Als ich zu mir kam, lag ich auf einer Bahre in einem Kühlfach. Als der Bestatter es öffnete, um mich herauszuholen, überwältigte ich ihn und trank mein erstes Blut. Danach zog ich seine Kleidung an und stürzte verwirrt aus dem Krematorium. Ich stieg in den Leichenwagen und fuhr nach Hause. Ich bemerkte meinen veränderten Zustand nach und nach, verstand jedoch immer noch nicht, was geschehen war. Am nächsten Tag ging ich zur Bandprobe, um sie zu fragen, was sie mit mir gemacht hatten. Die Band grinste mich verschwörerisch an und gratulierten mir dazu, fortan ein ewiges Mitglied zu sein.
Mir war komisch zumute. Ich dachte, sie hätten mir Drogen gegeben. Es dauerte zwei bis drei Tage bis ich verstand, was mit mir geschehen war. Die Bassistin hatte mir ihr Blut zu trinken gegeben. Danach hatten sie mich zum Fenster hinausgeworfen, damit ich starb und mich verwandeln würde. Leider hatte der Wachdienst meinen unfreiwilligen Fenstersturz mitbekommen und den Notarzt gerufen, welcher mich natürlich für tot erklärte. Die Band konnte nichts unternehmen und musste warten, bis ich selbst wieder vor der Tür stand.
Zunächst war ich über diese Unverfrorenheit geschockt. Doch dann war mir auch dies ziemlich egal. Ich kam gut klar mit meinem neuen Zustand, genoss die Gigs und hatte eine sehr intensive Beziehung mit der Bassistin.
Sie zeigte mir alles, was ich als Vampir wissen musste und sie war nicht eifersüchtig.
Die Tourneen waren einfach der Wahnsinn! Wir hatten geniale Konzerte und die Fans drängelten sich darum uns als Nahrung zu dienen.
Doch Anfang der 80er Jahre zerbrach die Band. Der Schlagzeuger verließ uns als erstes, um sich in Frankreich ein neues Dasein aufzubauen.
Der Leadsänger verlor die Freude an Konzerten und ging als nächster.
Die zweite Gitarre folgte ihm, sodass nur noch die Bassistin und ich übrigblieben.
Allein langweilten wir uns schnell gegenseitig. Wir trennten uns und damit sich auch unsere Wege.
Ich begann mich allein durchzuschlagen und zu reisen. Tja... und da sitze ich heute nun hier mit dir.“
Fasziniert betrachtete ich Ville. Obwohl er sich nicht selbst für ein untotes Leben entschieden hatte, kam er mir absolut rein mit seinem Schicksal vor.
Am beeindruckendsten fand ich, dass er noch so jung war. Er war erst vor ungefähr 30 Jahre verwandelt wurden und hatte dennoch die Gelassenheit von Tristan, einem mehrere Jahrhunderte alten Vampir.
„Bereust du es? Würdest du wieder zurücktauschen?“, wollte ich dennoch wissen.
Ville schüttelte ohne zu zögern den Kopf. „Es war die genialste Zeit meines Lebens. Ich würde mich immer wieder für das Banddasein entscheiden mit all den damit verbundenen Konsequenzen.“
„Vermisst du sie?“
Ville atmete tief ein. „Nicht mehr. Am Anfang war es schwer. Aber ich habe mich inzwischen damit abgefunden.“
„Weißt du, wo sie ist?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe sie komplett aus den Augen verloren. Aber dies macht es auch einfacher für mich. Hätten wir noch Kontakt würde es mir wahrscheinlich schwerer fallen, ohne sie existieren zu müssen.“
„Du hast sie geliebt“, stellte ich fest.
Ville zuckte mit den Schultern. „Irgendwie - auf eine verrückte und ungesunde Art und Weise – schon.“
Er nahm seine Gitarre aus dem Koffer und stellte die Saiten nach.
Dann begann er die ersten Takte zu spielen. Ich erkannte es als „Gone with the sin“ von HIM.
Als er die erste Strophe sang, versank ich in seiner Stimme.
Zweifel
Ville entpuppte sich als ausgezeichneter Entertainer. Er sang, parodierte und stellte Filmszenen nach, die ich erraten musste. Wir lachten viel und ich merkte gar nicht, wie die Zeit vergangen war.
Als die ersten Sonnenstrahlen durch die Fenster schienen, verließen wir erst das Gebäude.
„Komm, ich weiß, wo wir frühstücken können. Hast du Lust auf ein süßes oder ein herzhaftes Frühstück?“, zwinkerte mir Ville zu.
Ich verstand nicht, was er meinte, entschied mich jedoch für ein herzhaftes Frühstück. Ich war gespannt, wie dieses aussehen sollte, schließlich konnten wir nichts außer Blut zu uns nehmen und dies gab es nur in einer Geschmacksrichtung.
Ville führte mich zum Strand. Um diese frühen Morgenstunden war er kaum besucht. Nun ein paar Jogger kreuzten unseren Weg.
Und genau auf diese stürzte sich Ville. Noch ehe ich reagieren konnte, hielt er mir den Hals des einen hin, während er den anderen Jogger bereits biss.
Es war nicht das erste Mal, dass ich mich von einem Menschen direkt an der Quelle ernährte. Aber ich hatte es noch nie zuvor in Anwesenheit eines anderen Vampirs getan.
Außer bei Tristan hatte ich auch noch nie einen anderen Vampir beim Trinken gesehen. Dies nun bei Ville zu erleben, wirkte irgendwie surreal auf mich.
Doch ich hatte Hunger. Daher schob ich den kurzen Schock schnell zur Seite und biss in den Hals des jungen Mannes.
Als sich der Salzgeschmack der verschwitzten Haut unter die des Blutes mischte, verstand ich, was Ville mit einem „herzhaften Frühstück“ gemeint hatte.
Wie hätte da ein süßes Frühstück ausgesehen? Vielleicht würde ich dies am nächsten Tag herausfinden können.
Nachdem wir uns satt getrunken hatten, führte Ville noch eine beeindruckende Hypnose mit den beiden Männern durch, sodass diese sich nicht mehr an diesen Vorfall erinnern würden.
„Wie funktioniert das eigentlich?“, wollte ich wissen. Ich war nun schon einige Jahre eine Vampirin, aber diese Hypnose, wie ich sie eben bei Ville erlebt und auch bei Tristan bereits gesehen hatte, vermochte ich nicht anzuwenden.
„Mmmmhhh…, das ist schwer zu erklären“, grübelte Ville während er mit mir weiterging.
„Du musst dir in deinen Gedanken vorstellen, was du dem Menschen befehlen möchtest und dann musst du versuchen diese Gedanken an ihn zu übertragen. Du musst dir vorstellen, wie diese aus deinem Bewusstsein in seines übergehen. Ich weiß selbst nicht genau, wie es funktioniert.“
„Wie hast du es gelernt?“
„Ich hatte es bei meinen Vampirfreunden oft gesehen und nach meiner Verwandlung immer wieder probiert, bis es mir gelungen war. Was ich ab da anders gemacht habe als vorher, kann ich dir nicht sagen. Ich denke, es ist reine Übungssache.“
Ich nahm mir fest vor, dies ab sofort regelmäßig zu üben. Es wäre eine Erleichterung, wenn ich nicht mit jedem intimer werden müsste, nur um an sein Blut zu kommen.
Inzwischen waren wir auf einem Klippenvorsprung angelangt, von welchem aus wir eine hervorragende Aussicht auf das Meer hatten. Wir setzten uns auf den Boden und ließen die Beine über den Abgrund baumeln.
„Es ist schön hier“, meinte ich.
Ville nickte nur und legte seinen Arm um mich.
Ich kuschelte mich an seine Schulter und gemeinsam lauschten wir den Wellen, die unter uns an die Klippen gespült wurden.
Nachdem wir eine Weile wortlos so dagesessen hatten, entließ mich Ville aus der Umarmung.
„Ich muss leider langsam los. Ich habe noch eine Probe mit einer meiner Bands und muss davor noch ein paar Dinge erledigen. Magst du mitkommen?“
Ich schüttelte den Kopf. Zu schön war der Moment gerade hier am Meer zu sitzen und auf die Wellen zu schauen.
„Geh du ruhig, ich bleibe noch eine Weile.“
Ich spürte, dass Ville mich ungern allein zurückließ.
„Bist du dir sicher? Ich kann die Probe auch absagen, weißt du. So wichtig ist sie eigentlich auch nicht“, meinte Ville und machte Anstalten, sich wieder zu setzen.
„Nein, nein. Du kannst wirklich gehen. Wirklich, es ist absolut in Ordnung“, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.
Ville sah mich prüfend an. Dann nickte er zögerlich.
„Wir treffen uns dann bei mir zu Hause, ja?“
Ich nickte. Ville gab mir seinen zweiten Wohnungs-schlüssel und ging.
Nun war ich allein. Ich holte meinen MP3-Player aus der Tasche und steckte mir die Kopfhörer in die Ohren.
Es erklang Blutengel, eine meiner Lieblingsbands, mit dem Titel „Seelenschmerz“. Ich ließ wieder meinen Blick über das Meer schweifen.
Schwere Wolken zogen am Horizont entlang. Unter ihnen leuchtete eine weiße Fähre, die Richtung Helsinki unterwegs war. Kreischende Möwen begrüßte von Weitem die Ankömmlinge.
Ich zog meine Knie an meine Brust, umklammerte sie mit meinen Armen und legte mein Kinn auf meine Knie.
Seitdem mich Ville in Bukarest gerettet hatte, war ich keinen Moment mehr allein gewesen. Nun hatten meine Gedanken das erste Mal Gelegenheit zu arbeiten und die Ereignisse der letzten Wochen liefen vor meinem geistigen Auge noch einmal ab.
Was ich erlebt hatte, ließ sich mit einem Kulturschock gleichsetzen.
Aus meiner wohl behüteten Welt in Potsdam, in der ich der einzige Vampir war, stürzte ich regelrecht in ein mordendes Vampirnest.
Ich hatte Dinge in Bukarest gesehen, die ich nie für möglich gehalten hatte. Vor meinen Augen wurden Köpfe abgerissen! Ich wusste nicht, ob ich diesen Anblick jemals verarbeiten würde. Allein der Gedanke daran, ließ in mir erneut den Würgereiz aufkommen.
Ich wäre fast selbst kopflos geworden, hätte mich Ville nicht gerettet. Er stand mir bei, obwohl er mich überhaupt nicht kannte. Er war für mich da, als ich Hilfe brauchte. Er war da…, nicht Tristan.
Tristan, der Mann der mir vor dem Altar die Treue schwor, der Mann, der mich über Jahrhunderte hinweg liebte und immer wieder nach mir suchte, dieser Mann verließ mich einfach, als ich ihn am meisten gebraucht hatte.
Er beschützte mich nicht vor der rumänischen Vampirmafia. Er zeigte mir nicht, wie man als Vampir leben und kämpfen musste.
Nein, er hatte mich einfach mir selbst überlassen mit all den Fragen und Ängsten.
Eine Träne rann aus meinem Auge. Ich hasste diesen Konflikt zwischen Wut und Trauer, den ich immer spürte, wenn ich an Tristan dachte.
Ich hatte schon lange keine Visionen mehr von ihm gehabt. Langsam fragte ich mich, ob ich mir dies alles nur eingebildet hatte. Vielleicht bedeuteten diese Visionen nichts, sondern waren nur das Ergebnis meiner schmerzhaften Sehnsucht nach ihm.
Vielleicht war diese ganze Reise ein einziger Fehler. Bisher hatte ich noch keinerlei Fortschritte gemacht. Ich wusste weder, wo sich Tristan aufhielt, wo er zuletzt gesehen wurden war… und ja, ich wusste noch nicht einmal, ob er überhaupt noch lebte.
Ich schluckte. Diesen Gedanken hatte ich immer sofort aus meinem Kopf verdrängt. Doch in den letzten Tagen versuchte er immer stärker ans Licht zu gelangen.
Was wäre, wenn Tristan nicht mehr lebte? Er hatte schon einmal die Idee geäußert, dass er sich umbringen würde, wenn ich sterbe. Was war, wenn er nicht an eine Verwandlung bei mir geglaubt hat? Was war, wenn er beschlossen hatte, nicht wieder darauf zu warten, ob ich wiedergeboren würde? Was wäre, wenn er sein Dasein beendet hatte?
Die ersten Zeilen von „Die with you“ erklangen. Mein derzeitiges Lieblingslied. Bei diesem Song und diesen Gedanken ließen sich meine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Ein Weinkrampf schüttelte meinen Körper. Blutige Tränen stürzten die Klippen hinab in das Meer.
Sollte ich dazu verdammt sein, eine Ewigkeit verbringen zu müssen, in der ich auf immer diesen Schmerz zu ertragen hätte? Nein, wenn Tristan nicht mehr lebte, würde ich auch nicht mehr leben wollen.
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