- -
- 100%
- +
Dachte Klee an etwas Spezielles, als er die Sportseite der «National-Zeitung» wählte? Oder war es ihm ganz gleichgültig? Und dass es die Seite 13 war? Höchstwahrscheinlich ließ Klee sich nicht von esoterischen Vorstellungen über die 13 einfangen. Mied Klee die Seite 5? Die 5 verbindet in der Tat die teilbare 2 mit der unteilbaren 3. Auch in der freimaurerischen Kabbala bezeichnet die 5 die weibliche Welt: 2 ist die Frau und 3, die vollkommene Zahl, der Mann. 5, die Kombination der ersten geraden und der ersten vollständigen ungeraden Zahl, wäre demnach das weibliche Element des Paares, das befruchtete Weibliche, die Zahl der Venus als Göttin der befruchtenden Vereinigung, der zeugenden Liebe, Archetyp der Erzeugung. Was für ein dreister Gedanke, einen Tag wie den 19. April 1938 zu erzeugen. Eine doppelte 5 hingegen ist der Abakus der Natur, stellt die Finger der zwei Hände dar. Im lateinischen Zeichensystem bildet X das Andreaskreuz, die beiden Hälse der Sanduhr, die beiden Speichen des Rads der Zeit. Zwei Fünfen (V: Hände, Trichter, Tabernakel) verbinden sich an den Spitzen (X) und bilden einen Kelch, wie in der Lyrik der englischen Manieristen, der großen Wort-Spieler, eines Dylan Thomas; sie bilden den Gral. Die Punkte, die ihn definieren, zeichnen das Idealschema von Pflanzungen. Das Archetypische der 10 zeigt sich vom Zehnt bis zur Dezimierung. Also sprach Zolla. Dachte Klee an die Dezimierung der Juden, im Angesicht ihrer radikalen Auslöschung? Und die 13? Berücksichtigte Klee, dass für einen Dichter des Barocks wie Tasso die tragende Achse eines Poems von zwanzig Gesängen nicht die 10, sondern die 13 ist? Es ist unmöglich zu sagen, ob Klee in jenem Augenblick an Archetypen dachte. Man kann nur willkürliche Vermutungen anstellen, die einer wie der dort sitzende Schlummerer ohne Weiteres als müßig betrachtet: lateinisch nugae: bevor man sich dem Schlaf ergibt, der wie Blei auf der Stirn lastet und einem die Augenlider zudrückt. Befasste Paul Klee sich mit Sport? War Paul Klee Leser der nationalen & ausländischen Sportnachrichten? Man müsste wenigstens jemanden fragen, der ihn gekannt hat, zum Beispiel seinen Sohn. Oder sich verhalten wie der Historiker, wenn er über etwas nichts weiß: er muss sagen, dass er es nicht weiß.
Doch die Frage ist ganz unwichtig. Von großem Interesse ist hingegen zu versuchen, eine Bedeutung anzubieten (anbieten?) für die Zeichen (aus welcher Tiefe sie kommen), für die Hieroglyphen, die Klee auf das bedruckte Papier der «National-Zeitung» gemalt hat.
Unterdessen hob einer der um den Wirtshaustisch Versammelten vorab die Hand und bat um das Wort.
– Herr Klee! Kann man von Hieroglyphen sprechen, ohne in Häresie zu verfallen?
– Ohne in Häresie zu verfallen!, erwiderte Klee, indem er zweideutig die Augen schloss mit der Gutmütigkeit der Katze, wenn sie sich freut, die gütige Seite ihrer Katzenseele zu zeigen.
Einer, der in der Windfabrik arbeitete (kurz gesagt, er unterrichtete), Herr Professor Glaser, der Einzige in der Runde, der eine Krawatte trug, teilte dagegen die Sorge der Formalisten, die es arbiträr finden, etwas eine Bedeutung geben zu wollen, das keine Bedeutung haben will. Als wollte man eine Tür mit Schulterstößen aufbrechen, wenn es gar nichts zum Aufbrechen gibt. Die Tür steht offen.
Doch Klee beruhigte alle. Das Wort Hieroglyphe ist ein dreifach gesegnetes Wort. Es ist an und für sich schon von Heiligem durchdrungen: von Erinnerung: von Religion, sodass wir ruhig schlafen können.
Über das Paradoxon lachend, schielte er zum Schlummerer hin. Das Problem aber (wie es zur Freude derer, die gern an einem Wirtshaustisch in Gesellschaft trinken, mit fast allen Problemen geschieht) blieb offen.
– Man nehme – nun war der Schreiber O/17360 an der Reihe – man nehme das scheinbar am leichtesten lesbare Zeichen auf Klees Bild: Klees O ist der Buchstabe O, der dreizehnte im italienischen Alphabet: noch eine 13! Oder ist es eine Null, oder genauer gesagt, wenn man so will: Aleph-0 des Mathematikers Georg Cantor?
Könnte Klees großes O nicht eine Antwort sein, eine Herausforderung? An Mondrian? Wer weiß! Die gebogenen Linien, sagt Ranuccio Bianchi Bandinelli richtig – Arthurs Wille hat ihm zu Ostern ein schönes Osterei beschert, er wurde beauftragt, Hitler durch die Uffizien zu führen, als Hitler im Frühjahr 1938, wenige Tage nach dem Schweizer Cupfinal im Wankdorf-Stadion von Bern am 18. April, seinen ruhmreichen iter per Italiam unternahm – die gebogenen Linien, sagt Ranuccio, sind voller individueller Sensibilität, leicht kalligrafisch und auch ein bisschen lasziv. Der Schlummerer hob kurz das linke Augenlid. Wer ihnen folgt, ist verloren. Ein Maler, ein Holländer, ein Abstrakter, flüchtete aus Siena, als er bemerkte, dass ihm auf den Straßen, leibhaftig, Duccios Engel, als Mädchen gekleidet, entgegenkamen: Er fürchtete, sich in ihrem Oval zu verlieren.
Mondrian, der von Spinoza Inspirierte, ganz dessen Ethica ordine geometrico demonstrata verpflichtet, erreichte ab 1931 / 32 die vollkommene Kreuzung der Geraden. Ordnung und Reinheit, das jahrhundertealte «flandrische Leinen». Der platonische Mondrian, der Keusche, der Asket. Der calvinistischste unter den abstrakten Künstlern. Wäre er Philosoph und nicht Maler gewesen, hätte er es wie Origenes machen können, sich blenden, um nicht durch Frauen von seinen Spekulationen abgelenkt zu werden. Durch ihr Oval.
Laszivität der gebogenen Linien. Und Klee war ihretwegen ein verlorener Mann?
Klee lachte herzlich und trank, zu Ehren des Mediterranen im weitesten Sinne, von Siena und den Sieneser Hügeln in der Schweiz, ein gutes halbes Glas Merlot: aus der Kellerei von Mendrisio. Doch was war Klees O?
Auf den ersten Blick ist es durchaus ein O, ein Kreis, aber nicht vollkommen rund, es ist nicht, nein nein nein nein, das O von Giotto; es ist nicht mit dem Zirkel gemacht. Ist es ein O wie ein alter verbogener Ring, ein betrogener Geliebter, der sich an dem auf dem Jahrmarkt geschenkten Liebespfand rächt? Ein verbeulter Rahmen, der auf dem weiten Feld der Abfälle gelandet ist?
Ein O zu interpretieren ist, als wollte man eine Note für Trompete interpretieren, die aus einem Trompetenkonzert, einem Weihnachtsoratorium isoliert in die ländliche Einsamkeit dringt, einem Tuba mirum spargens sonum per deserta regionum entsprungen, einem Strawinsky: und eine wütende Hand dreht dir das Radio ab und sie bleibt da stehen in der Dunkelheit, diese einzelne Note in der Nacht.
In der ganz deutschen Nacht hörte man fortissimo das Tuten einer Hupe, das Frauen, Alte und Kinder im ganzen Häuserblock im Bett auffahren ließ. Die Männer waren in den Kasernen. Sie lagerten auf dem Land (wie es bei einem mondrianesken Ariost heißt)
zu zehnt, zu zwanzigst, zu viert, zu siebt, zu acht.
Niemand (oder doch, durch geheime Koordinaten, Mondrian), niemand protestierte gegen die Schamlosigkeit dieses Hupens, das von dem schwarzen Mercedes kam. Und dann war das Auto schon wieder losgefahren mit extra lautem Knirschen von Nagelreifen auf dem körnigen Asphalt: auf Wiedersehen.
Andernorts auf der berüchtigten Seite 13 der «National-Zeitung», unweit von der Stelle, wo er blitzartig sein O hingeworfen hatte, deutete der entartete Maler Paul Klee so etwas wie ein schüchternes H an, doch vielleicht war es gar kein H; vielleicht war es ein Gestell, wie man es in Turnhallen findet, eine Sprossenwand, an die Turnlehrer – solche, die Tag und Nacht die Trillerpfeife im Mund haben, die von den verstörten Bergbuben Ungeliebten – den aus dem Tal in die Stadt gekommenen Jungen schicken, weil er schon so krumm, plump, vertrottelt daherkommt wie ein Landstreicher, ein Schandfleck, ein Spaghettifresser und schon den schiefen Gang eines Bauern hat; da an der Sprossenwand nageln sie ihn dann fest, damit sich seine verfluchte Wirbelsäule eines mediterranen Bauern etwas aufrichtet, da er nichts mehr von dem Griechentum weiß, das in ihm lebendig sein müsste, aber erloschen ist: Herrgott, er soll lernen, Haltung anzunehmen wie ein kühner Soldat und dir mit stählernen Augen in die Augen zu blicken. Wie die von der Wehrmacht.
Danach: als der Mercedes mit der ungeheuren Hupe weg war, die selbst ein Strawinsky nicht hätte nachahmen können in der Strawinskyschen Absicht, Herren im Frack, violett gewandeten Monsignori und tief dekolletierten, zur Vergewaltigung einladenden schönen Damen im hell erleuchteten Konzertsaal die wohlgeformten Ohren zu zerfetzen: folgte eine lange Stille in der deutschen Nacht. Tief im Herzen der Nacht war sie, diese lange Stille, in der Nacht des zeit-losen Herzens, in der intempesta nox: Wie spät mag es sein? Eins? Zwei? Ist es schon drei, oder vier, so fragt sich, sich im Bett wälzend, doch hätte sie niemals, auch wenn man ihr eine Million Mark dafür gegeben hätte, das Licht angeknipst, eine beliebige Mutter Arthur Schopenhauers des 20. Jahrhunderts, verloren im deutschen Sturm, ohne rettendes Floß, kein Arthur mehr, keine Hilfe weit und breit. Und mit ihr alle die korpulenten, reizlosen Mütter armer Schlucker, die wer weiß wo sind. Im Gefängnis? Beim Verhör? Wo bloß, wo? Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Zugleich denken sie mit unendlicher Wehmut an den Aufschrei, der durch das Radio aus dem Stadion tönte, wenn einer ein Tor geschossen hatte.
Das waren die Friedenstage, und ein Mann konnte, so sagte (gottesfürchtig) seine Frau, den Kopf ans Radio halten und Minute für Minute das Spiel verfolgen.
– Ich weiß nicht, was sie daran finden –, würde sie dann an einem beliebigen Montag beim Wäscheaufhängen (die schöne Wäsche der schönen Friedenstage) zu ihrer Nachbarin sagen, – aber auch meinem Mann gefällt es, irgendetwas muss doch dran sein.
Das sind die Banalitäten, die einem in Kriegszeiten in den Sinn kommen. Jedenfalls füllte der Mann damit in Friedenszeiten seine Sonntagnachmittage aus. Während sie sich im Bett wälzte, konnte eine Johanna Trosiener des 20. Jahrhunderts zu dem hölzernen Engel beten, den sie einmal, bevor sie daherkamen, um die Tage des Friedens zu stören, in Düsseldorf gekauft hatte: ihn bitten, noch viele Fußballspiele zu schicken, jeden Sonntag, mit vollem Stadion, das sich dann ganz langsam leert, während die Straßenbahnen in den Kurven und an den Kreuzungen klingeln und die Männer vom Fußballspiel nach Hause bringen, genau rechtzeitig zum Abendessen. Ja, der Krieg ist Mangel, Abhandenkommen der Fantasie.
Oder war das O von Klee die Eingrenzung eines privilegierten Raums? Die Schaffung eines Theaterraums – das Theater! – des Vergessens und gleichzeitig der Verfügbarkeit für den, der hinschaut? Aber schauen die Besucher des Klee-Museums in Bern denn hin?
Nicht nur der Schlummerer döste. Da rief eine in der Wüste rufende Stimme immer wieder: Es war der Raum eines griechischen oder Renaissance-Tempels. Was für eine Art Schauspiel wollt ihr? Wollt ihr, dass ein Wille der Macht anfängt? Wollt ihr, dass die Jagd nach dem Glück beginnt? Das Gefühl der Unausweichlichkeit, der Verfügbarkeit? Oder ist es der Tempel, den man wiederfinden muss, ein Ort, den man Gott übergeben muss, damit er zurückkehrt, ihn zu bewohnen? Ein Traum?
Das O von Klee stand an einer bedeutsamen Stelle. Die schwarze Tinte hatte die Grasshoppers-Formation ausgespart: Huber, Minelli, Weiler; Springer, Vernati, Rauch; Bickel, Rupf, Artimovic, Xam Abegglen, Chrismer.
Während der Wirt ein paar Gläser trocknete, fragte er erneut:
– Stimmt es oder nicht, dass die Grasshoppers ganz von den Juden finanziert werden?
Verstümmelt, teilweise ausgelöscht, hatte das O von Klee hingegen die Mannschaft von Servette, und in der Tat wird sie bei der Wiederholung des Endspiels unvermeidlich unterliegen: man würde sagen: notwendigerweise, schicksalhaft, nach dem Wollen des Willens. War Klee demnach einfach der Vollstrecker einer Botschaft, aus den himmlischen Gefilden überbracht von einem Regenbogen, der aus grauem Himmel über Bern herabgestiegen war? Klee hatte die Vernichtung, den Krebs gezeichnet, der die Hälfte der Genfer Formation zerfressen sollte. So war der Name des Torwarts ausgelöscht, der des rechten Verteidigers, die Hälfte des Metodo-Mittelläufers und des linken Mittelfeldspielers. Von den Stürmern war der Name des rechten Halbstürmers verschwunden. Es überlebten der Mittelstürmer Belli (ein Franzose, der als solcher mehrere Monate lang in den Genuss der Gastfreundschaft im Stalag IV F in Deutschland kommen wird, mit der Häftlingsnummer 36293) und das linke Offensivtandem Trello Abegglen und Georges Aeby.
Die sonderbarste von Klee vorgenommene Verstümmelung erlitt der rechte Halbstürmer Génia Walacek. Verschwunden der Name vom Gürtel aufwärts, der Grenzlinie zwischen oberem und unterem Energiefeld, aber die Endsilbe des Namens überlebte Klees blitzartige Geste – er selbst der lila Schöpfer, der gedrungen wie ein soeben von der Stange aufgeflogener Sperber flattert –: die Silbe cek, der Teil, der am meisten an die arme Tschechoslowakei von Masaryk und Beneš erinnerte, das angekündigte Opfer nach dem narbenbedeckten Österreich.
Walaceks Name entzweigeschnitten. Vom Gürtel abwärts kannst du ganz ihn sehen. Davongeflogen die Drachen-Seele, die Nummer 8 des rechten Halbstürmers zur Hälfte abgeschnitten und auf Null reduziert.
– Aber dann kann das O des Herrn Klee zu allem werden! –, bemerkte der Wirt hinter der Theke spontan. Es konnte das Schwert der japanischen Folter sein, das Schwert Japans, das sich drohend an die Seite der Nazifaschisten Europas gesellte. Im Frühjahr 1938 wusste ein Bergbub, geboren am 30. Oktober 1928, wenig oder nichts, nein, gar nichts von dem, was in der Welt geschah. Er hatte kein Buch zu Hause, seine einzige Schule außerhalb der Schule war die Wirtschaft seiner Eltern, je nach den Gästen. Manche brachten Nachrichten, Fetzen von Tatsachen und Kommentaren, manche verkündeten ihre Meinung, bevor sie ihr Glas leerten und wieder ihrer Wege gingen. Der Schreiner hatte eines Tages über verschiedene Bestrafungssysteme gesprochen. Nicht über alle: – Gott bewahre! –, sagte er, er kenne nur einige davon. Und direkt an den Jungen gewandt, denn der war der Einzige, der ihm zuhörte, während alle anderen sagten, ein Glas genüge, um ihm Nachmittag für Nachmittag den Affen zu erneuern, was bedeutet, tagtäglich melancholisch betrunken zu sein, direkt zu dem Jungen sagte er, eines davon sei die chinesische Methode.
– Du nimmst einen –, sagte er, – verschnürst ihn wie eine Salami und stellst ihn unter tropfendes Wasser. Wie wenn du, um Ostern herum, einen unter einer Dachtraufe festbindest, wenn der laue Wind Tag und Nacht den Schnee zum Schmelzen bringt: ein Tropfen pro Sekunde, mitten auf die Halbglatze. Die Stärksten und die Dümmsten oder Blöden, Vollidioten, Schwachsinnige und Irre konnten einen Tag durchhalten, die Übrigen wurden schon nach zwei Stunden rasend. Die andere Foltermethode, die japanische, geht so: Man nimmt einen Mann, fesselt ihm die Hände auf dem Rücken und legt ihm einen Kragen aus Blech um den Hals, ein schönes, am inneren Rand messerscharf in die Haut schneidendes Lätzchen. Dann wird der Mann in eine verlassene Ebene geführt und dort ausgesetzt. Sie rufen ihm zu, dass er frei sei zu gehen, wohin er wolle. In der Tat läuft der Mann eine Weile bei vierzig Grad in der Sonne, dann versucht er zu schreien, zu rufen, zu weinen, dann zu beten, Gott anzurufen, ihn zu verfluchen und mit ihm das ganze Menschengeschlecht und den Ort und die Stunde seiner Geburt und den Samen, mit dem er gezeugt wurde.
Professor Glaser fiel ihm ins Wort:
– Arthur hat Recht: Woher nahm Dante den Stoff für sein Inferno, wenn nicht aus dieser unserer wirklichen Welt?
Der Schreiner ertrug die Unterbrechung mit orientalischer Ruhe. Von einem Dichter namens Giacomo Leopardi hatte er gelernt, dass die menschliche Bosheit eine Folge des Unglücklichseins ist und nicht umgekehrt. Welch unglückliches Volk die Deutschen sein mussten! – Die Sonne mit ihrer Gluthitze wird sich an einem gewissen Punkt seiner erbarmen. Mit Hilfe des Hungers, der Müdigkeit, der Stolpersteine wird der schöne runde Kranz, der wie der Kragen um den vornehmen Hals eines Edelmannes aus dem 17. Jahrhundert aussieht, dem Gefesselten in Form seiner ganz persönlichen Guillotine den Kopf abschneiden. – Der Schreiner sagte auch (hatte er das vielleicht selbst erfunden?), dass einmal ein Lastwagen nicht richtig festgezurrte, dünne Blechplatten eine steinige Bergstraße voller Löcher hinaufbeförderte. Es wehte ein heftiger Wind, derselbe, der an den Fahnen und an den Röcken der Mädchen zerrt. So löste sich eine Platte und flog ein Stück durch die Gebirgsluft wie der Krummsäbel eines Riesen, der fliegende Teppich eines Zauberers. Hinter dem Lastwagen fuhr ein Mann im Pullover, mit Brille und Mütze, auf seiner Motosacoche, und die Blechplatte schnitt den Hals des Motorradfahrers durch wie ein Rasiermesser, ohne dass dieser einen Mucks machen konnte. Er schloss nicht einmal die Augen. Der abrasierte Kopf rollte wie ein Ball einen Abhang hinunter, und der Rest, Motorrad und enthaupteter Körper, fuhr noch das kurze gerade Stück auf der Straße weiter, bis das Motorrad bei der ersten Biegung ins Leere stürzte mit dem Mann, der nicht von Klees O, sondern vom fliegenden Schwert des Zauberers geköpft worden war. Vielleicht war das O von Klee auch gar nicht das Schwert der japanischen Folter, sondern der Autoreifen, den die Fischer einer nordischen Insel dem wegen Ehebruch zum Tode Verurteilten um den Oberkörper binden.
– Was ist ein Ehebruch?
Der Schreiner erklärte mit größter Schamhaftigkeit und Präzision, so als würde er ein Möbelstück aus massivem Holz mit Intarsien verzieren, das Wort Ehebruch. Dann fuhr er fort: – Sie setzen ihn senkrecht im Meer aus. Sie befestigen ein leichtes Gewicht an den Füßen des Mannes, binden ihm den Reifen so um den Oberkörper, dass der Mann aufrecht schwimmt und der Kopf vom Hals aufwärts aus dem Wasser ragt. Auf den Kopf binden sie ihm einen schönen glitzernden Fisch. Ein Reiher oder irgendein anderer Meeresvogel mit hartem Schnabel wird, wenn er den Fisch sieht, im Sturzflug herabstoßen, um ihn aufzuspießen, und dabei mit seinem sehr langen Schnabel die Schädeldecke des Ehebrechers durchstoßen.
– Was für Länder! –, sagte der Kackschneider. – Aber könnte man nicht einfach sagen, dass das O von Klee ist, was es ist: eine Null?
Vielleicht schon. Klee schien einverstanden zu sein, er schien es Walacek und Genossen weiterzusagen. Er musste sie kennen, 1938, sie waren die Fußballnationalmannschaft, die unter Kapitän Karl Rappan, dem Fuchs, dem Erfinder des Riegels, in Paris gegen Großdeutschland unter dem schlauen Sepp Herberger antrat, gegen Hitler-Deutschland, das Verteidigung und Angriff mit fünf Großen aus dem österreichischen Wunderteam gestärkt hatte:
Für deutsches Land das deutsche Schwert!
So sei des Reiches Kraft bewährt!
Lohengrin III, 3
Ja, sprach Klee, ich werde von der Hakenkreuzbande als entarteter Künstler bezeichnet. Ich bin einer, ich glaube, einer zu sein, der davon überzeugt ist, dass man die Sprache der Deutschen von Grund auf erneuern muss, indem man Tabula rasa macht mit dem, was sie mit ihrer Droge hineingepumpt haben. Man muss bei Null anfangen, bei einem Vorher, vor der Vernunft, wenn die Vernunft auch das ist, was zu den Hakenkreuzfahnen geführt hat, massenhaft konntet ihr sie in Köln wehen sehen, als sie eines ihrer Rituale abgehalten haben, wenn die Vernunft auch das ist, was zur Pervertierung der keuschen Bedeutung von Wörtern wie Blut und wie Boden geführt hat. Wörter, die im 18. Jahrhundert auf Weine angewendet wurden. Wir müssen wieder bei Null anfangen.
– Und welche Rolle hätte ich bei all dem? –, schien Walacek ihn besorgt zu fragen.
Klee schien lachend zu antworten:
– Du warst die Nummer 8, der Halbstürmer. Und indem ich dich und die Acht halbiert habe, habe ich dich wieder auf Null gebracht.
In Walaceks Augen lag immer noch ein Rest Angst. Die Zahl Null macht Angst. Als hätte Klee im Hof des Kindergartens oder der ersten Klasse Grundschule mit Kreide einen Kreis gezeichnet, ein O, und alle Kinder darum herum gesetzt und dann der Lehrerin ein Zeichen gemacht, das bedeuten sollte: los! Die Lehrerin (hübsch, wirklich sehr hübsch, verlockende Kurven rechts, verlockende Kurven links, reizende Öhrchen und Stupsnase) sagte daraufhin: – Jetzt spielen wir Faules Ei.
Doch als Bubi an die Reihe kam, der Sohn des Majors, der zu Hause in Wien schon lange vor 1938 beim Eintreffen von Gästen den Arm zum Gruß hob wie ein kleiner Hitler, da ließ Bubi sein Taschentuch genau hinter dem Rücken des kleinen Sindelar fallen. Sindelar spürte sehr wohl, dass das Taschentuch hinter ihm lag, und er hätte es aufheben und Bubi hinterherrennen und ihn innerhalb einer Runde einholen müssen, andernfalls wäre er das faule Ei gewesen. Aber er hob es nicht auf. Ein Sindelar hätte alle feisten Bubis und Söhne von Biertrinkern des Dritten Reichs mit drei Sprüngen eingeholt, aber es ekelte ihn bei dem Gedanken, dieses Taschentuch aufheben zu müssen, das Bubi in die Hand genommen, eine ganze Runde lang in seiner Hand gehalten hatte, und die Runde war groß. So wurde der kleine Sindelar das faule Ei, und alle Kinder riefen in ihrer Ahnungslosigkeit: faules Ei, faules Ei. Sindelar erfand eine Notlüge, er sagte, dass man ihn wegen einer wichtigen Sache zu Hause erwarte, und hörte zu spielen auf. Für immer. Er konnte weder mit Bubi noch für Sepp Herbergers und Hitlers Großdeutschland spielen. Sie fanden ihn vom Gas getötet. Selbstmord oder Strafe? Walacek zitterte einen Moment, so wie wenn man aus dem Augenwinkel den Beine brechenden Verteidiger wutentbrannt und missgünstig auf sich zu rennen sieht. Eine Null? Nein. Es hätte ihm nicht gefallen, wie ein guter Genfer aufzuwachsen, nichts als Wohnung und Büro, wie eine zuverlässige Benzinpumpe, die unterschiedslos diesen und jenen Tank mit Treibstoff füllt. Er hätte kein Baum im Stadtpark oder auf einem Platz sein mögen, mit einem kleinen Zaun drum herum, genau wie ein Waisenhaus- oder Internatszögling. Ebenso wenig hätte er alle seine Abende, alle Sonntage seiner zwanzig Jahre mit Kartenspielen verbringen mögen, denn wenn er auch nie eine Zeile Schopenhauer gelesen hatte – er wusste nicht einmal, wer Schopenhauer ist –, so ahnte er doch undeutlich, dass nichts die elende Seite der Menschheit mehr entblößt als Kartenspielen, dass die Langeweile für den Sonntag steht und die Notwendigkeit für die übrigen sechs Tage der Woche. Walacek hatte seinen Platz als Halbstürmer gefunden und war froh, denn ein Halbstürmer ist mehr als ein Flügel mit seiner festgelegten Rolle, am Aus entlangrennen und von der Grundlinie aus eine Flanke in den Torraum schießen. Ein Halbstürmer muss den Überblick über das Spiel behalten, mit den anderen Mittelfeldspielern im Dialog bleiben, nicht nur seinen Flügel losschicken, sondern auch den Flügel auf der anderen Seite, mit langen flachen Pässen, die die gegnerische Verteidigung täuschen, oder er muss seinem Mittelstürmer vor dem Tor einen Pass in die Tiefe zuspielen, der aber kein schwacher Torschuss sein darf, kein Weihnachtsgeschenk oder mit weißen Handschuhen getätigter Anruf für den gegnerischen Torwart.
Bubis Taschentuch war verdreckt wie das Laken von Franz im Internat, als Walacek und Sindelar eisern in den Vorstadtmannschaften spielten, wo geprügelt wird, wo man, vor allem die Schmächtigeren, die Techniker wie Sindelar und Walacek, Erfahrung sammelt, wenn es denn gelingt zu vermeiden, dass einem jemand (die, die sie Metzger nennen) die Beine bricht. An einem Freitagabend, bevor die «Gäste» des Internats den Zug in die Weihnachtsferien nahmen, hatte der Oberaufseher einen Inspektionsrundgang durch die Schlafsäle gemacht. Jeder Bub stand neben seinem Bett. Als der Oberaufseher vor Franzens Bett angelangt war, schob er seinen bleichen, behaarten Arm unter Franzens Kissen und warf abrupt mit einer gezielten Bewegung die weiße Decke samt Federbett zurück, sodass, wie beabsichtigt, das Laken darunter zum Vorschein kam, die Kuhle, in der dieser Hund von Franz mit seinem Judengesicht schlief. Das Laken war besudelt, und der Oberaufseher rief mit gekrümmtem Zeigefinger alle rund um Franzens Bett, alle im Kreis, damit jeder sich das schmutzige Laken genau anschaue. Ein Kleinerer aus der zweiten Reihe versuchte zu sehen, so viel er konnte, indem er zwischen den Körpern der Größeren, Frecheren, die vor ihm standen, hindurchspähte: wie beim Fußball. Es war kein Blut, es waren gelbliche Flecken, an den Rändern leicht braun, als hätte da jemand, um dem Franz erneut einen Streich zu spielen, ein faules Ei zerquetscht. Die Kleinsten baten anschließend Rudolf, Rudi, der immer alles wusste, um eine Erklärung. Denn alle hatten angefangen, ordinär zu lachen und sich mit dem Ellbogen anzustoßen, aber nicht so, wie wenn gleich ein Freistoß aus achtzehn Metern geschossen wird und sämtliche Verteidiger eine Mauer bilden, mit ein paar Gegnern darunter, die mit den Ellbogen dazwischenfunken. Franz war der Einzige, der sich keinen Millimeter wegrührte, er blickte auf sein Laken, als läge er selbst da anstelle des Lakens, sein unheiliges und jede Sekunde dieser Hölle, die er durchmachte, ununterbrochen entweihtes Grabtuch. Er blickte darauf mit seinem schmalen Gesicht und seinem traurigen Mund mit den feinen wohlgeformten Lippen, und einmal hatte der Zeichenlehrer Zaccheo, der außerhalb der Schule auch Maler war und in der Klasse immer von «unserem Pavolo Veronese» sprach und, wenn einer ihn fragte, welche Farbe er nehmen solle, zur Antwort gab: «Nehmen Sie Hirnfarbe», weil er alle siezte, einmal hatte Zaccheo sich vor Franz hingestellt, hatte ihn durchdringend angesehen mit seinen Augen einer verschlagenen und zugleich verschlafenen Katze und zu der ganzen Klasse gesagt: Alle Mädchengestalten von Botticelli einschließlich der Madonna haben so einen Mund.