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Génia Walacek öffnete die Augen ins Leere. Aber der Oberaufseher hatte keine Ahnung von Botticelli. Er konnte, mit Witz, mit Nachdruck, das heißt, indem er mit seinen klobigen Fingern eine mechanische Übersetzung des Arrangements in die Tasten haute, Lili Marleen spielen. Schön, schön. An sich musste Lili Marleen genau das Gegenteil von Bubi und der Bubi-Rasse sein. Lili Marleen hat etwas Schönes, ganz das Gegenteil von Bubi, der auch noch zwei Pfirsiche gestohlen hatte, die einer der Kleineren nicht zu essen wagte und seiner Mutter zu Weihnachten mitbringen wollte. Mistkerl und Dieb, gib die zwei Pfirsiche zurück, auch wenn sie so hart waren wie Tennisbälle: Man hätte ein bisschen spielen können damit, con, avec, sic, so beinahe rennend auf dem Rückweg durch die Unterführung des Berner Bahnhofs, in Eile, beinahe in Hetze, in der Angst, ja nicht zu spät zurückzukehren vom Klee-Museum in Bern, wo man die Schwarze pastose Wasserfarbe auf bedrucktem Zeitungspapier wieder hatte sehen wollen: beinahe rennend zwischen den Leuten in den langen Gängen der Berner Unterführung, die von geschäftigen Leute wimmeln: und sich wieder wie ein Junge mit einem Tennisball fühlen. Kapitän Severino Minelli, in zweiter Linie bei den Grasshoppers, in erster Linie Verteidiger und Kapitän der Nationalmannschaft, sagt nämlich, dass man so, mit einem Tennisball, einen Fußball kontrollieren lernt. Bis man so weit ist, dass sie einem gehorchen wie Bälle oder Kegel in der Hand und außerhalb der Hand eines Varieté-Künstlers, eines Zirkus-Jongleurs: als würden sie magnetisch angezogen. Wenn Sindelar den Ball führte, war sein vorwärtsstürmendes Geplänkel, sein plänkelndes Vorwärtsstürmen, rechtsfüssig, linksfüssig, so unberechenbar, dass alle Augen der Gegner ihn voll Verwirrung und, muss man hinzufügen, voll Bewunderung und Hass ansahen. Was würde bei diesen Bewegungen des ganzen graziös verrenkten Körpers herauskommen? Der Ball folgte dem tänzerischen Fuß wie ein Hund, ein abgerichtetes Tier. Sindelar-Walacek brauchen, unter dem Mantel des Dompteurs, nur zu sagen: hopp Suisse, hopp Wunderteam, und schon gehorcht der Ball, verhält sich wie das Stöckchen oder die Melone in den Händen von Charlie Chaplin. Sindelar (und auch Walacek) hätte den Ball genauso treffsicher in die Ecke des gegnerischen Netzes setzen können (sie nennen es das Set), wie er einem Unterführer des Führers den Pfeil seiner Spucke ins Schweinsgesicht hätte (hätte: bleiben wir bei hätte) schleudern können, einem Bubi aus dem veranschlussten, vergasten, vergewaltigten Österreich. Jugendliches altes Wien. Doch du kannst nicht sterben, wie Sindelar, sonst können wir alle sterben. Ta ta ta ta.
Waren das die Trompeten des einstigen Wien oder Salven aus einem Maschinengewehr?
So ernst werdend, wie man sie noch nie gesehen hatte, schienen Klees Großmutter und Walaceks Großmutter, Jenny Morel, durch Klees Mund zu Walacek zu sagen:
– Versuch, wenn du in Paris gegen Hitler spielst, denn alles ist Politik, da hat der große nationale Gottfried Recht, versuch, ein Dribbling hinzulegen wie ein junger Gott: en surplace, dass es deinen Nazi-Gegenspieler aus der Fassung bringt, fertigmacht, ihn gewissermaßen auf null reduziert. Wir sind gegen den Stierkampf, da es uns nicht gelingt, im Stier nicht ihn zu sehen: Christus; du aber mach dir den Stil des Toreros zu eigen, täusche deinen Peiniger, dass er das Gleichgewicht verliert, leg uns einen Eckball hin, der alle überrascht, und trete den Ball ins Netz, ohne dass irgendwer ihn berührt, was das Größte ist, das ein Eckballschütze bieten kann. Du wirst dieser Größte sein! Falls du einen Elfmeter schießen musst (und du bist so bescheiden, dass du dich der ungeheuren Aufgabe nicht entziehen wirst, da eine fanatische oder feindselige Welt dir zuschaut), so musst du den Torwart in die eine Ecke und den Ball, auf halber Höhe, in die andere Ecke schicken. Alle Muskeln deines Körpers und auch das Gehirn, auch das Herz müssen zusammenwirken.
– Die «Sophia» der Griechen –, schaltete sich Professor Glaser ein, – ist technisches Können, Kunst. Der Zimmermann, der Schmied, der Bildhauer, der Architekt und jeder andere Handwerker, der seinen Beruf beherrscht, hat seine «Sophia»; ebenso wie der Sänger, der Musiker, der Wahrsager, der Arzt, der Dichter. Suche auch du danach, Nummer 8. Das wird deine metaphysische Erfahrung sein, das Werk, in dem sich die «Unordnung» des Ich als Teil der göttlichen Ordnung erweist. Es wird etwas sein, das sich unterscheidet: einerseits von der Sphäre, von dem («meinem?») Kreis der Komödie, dem Theaterraum, gemacht für die Komödie der wilden Träume und des alltäglichen Lebens; und andererseits von der Tragödie des Opfers. Sie werden dich dann in die Mannschaft der Entarteten aufnehmen, mit Klee:
Grosz
Thoma Schlemmer
Engelmann Gropius Feininger
Jawlenskij Walacek Klee Kokoschka Kandinski
Das ergab vor allem einen schönen Sturm, mit einer ganzen Reihe von Ks wie ein Bunker oder ein kanonenbewehrter Panzer, der den Beelzebub-Teutonen des Hakenkreuz-Klubs Zähne und Gebisse herausschlägt. Eine schöne K-Batterie, denn auf der Gegenseite, im jungfräulich weißen Trikot, sind angekündigt:
Treblinka
Göring Goebbels
Auschwitz Buchenwald Mauthausen
Himmler Eichmann Hitler von Ribbentrop von Papen
Wer wird es als Erster wagen, sich dem Dritten Reich entgegenzustellen?
Was wollen eigentlich diese kleinen Scheißer von Schweizern, die mitten im Jahr 1938 daherkommen, um uns den Weg abzuschneiden, und zwar im Parc des Princes, nach dem Anschluss und nachdem wir uns das Wunderteam einverleibt haben? Der Punkt ist, dass diese Schweizerlein ihre Scheiße mit so viel Leidenschaft und Präzision absondern, eben wie Trödler und Uhrmacher, dass du sie nicht mehr abkriegst von der Schuhsohle und dem Lackleder. Aber wir werden sie ihre Scheiße noch fressen lassen, auch sie werden noch drankommen.
Wollte Klee statt eines Rundtheaters mit zentralem Grundriss, einem Ort des Vergessens, der Leere, der Offenheit, vielleicht einen Zirkus zeichnen, mit seiner Manege für Elefanten, Pferde, Akrobaten und Clowns und einer ordentlichen kreisförmigen Rampe, die die Artisten vom Publikum trennt?
Das Leben von Génia Walacek, gebürtig aus der Tschechoslowakei, beginnt, noch vor dem Stadion, im Zirkus.
Walaceks Großvater väterlicherseits war Dirigent in einem Moskauer Zirkus, und dort arbeitete diejenige, die später Walaceks Großmutter werden sollte. Der Vater des zukünftigen Halbstürmers der Nationalmannschaft wiederum, Professor für Klavier am Moskauer Konservatorium, heiratete eine Schweizerin, die Tochter eines Uhrmachers aus dem Kanton Neuenburg, der ausgerechnet nach Moskau gegangen war, um sich mit Uhren zu beschäftigen.
Überspringen wir mit der für Standesbeamte, die mit ihrer Materie stets sehr vertraut sind, typischen Geschwindigkeit Stammbäume und Daten, springen wir zum mütterlichen Zweig: Der Großvater ist Schweizer, die Großmutter eine Deutsche, Jenny Toss aus Hannover, dazu bestimmt, durch Heirat eine Morel zu werden. Aus dieser europäischen Mischung geht mitten in den Jahren, in denen Europa in Flammen steht, Génia Walacek hervor, geboren in Moskau am 20. Juni 1916. Zwischen 1916 und 1918, zwischen dem Krieg an der deutschen Front, dem Ausbruch der russischen Revolution und der Ankunft Lenins, ist Russland ein einziges Netz sentimentaler Reisen, wie Viktor Schklowski sie nennt, einer, der etliche dieser Strecken selbst bereist hat:
– Es kursierte das Gerücht –, sagte Schklowski, – dass ein Briefträger seine Frau aufgegessen habe, ja, aber ich weiß nicht, wie viel Wahres daran ist. Es herrschte Stille, Sonne und Hunger, viel Hunger.
– Mit uns fuhr ein Waggon mit Särgen, und auf den Särgen stand mit Pech hingeschmiert: Zurückschicken.
– Ein Gewehr, vor allem ein russisches, ist im Osten viel wert. Anfangs bekam man dafür zwei- bis dreitausend Rubel, für eine Patrone wurden auf dem Basar drei Rubel bezahlt, am Bahnhof von Kamerlju gaben sie für die gleiche Patrone eine Flasche Kognak.
– In Teodosia zum Beispiel kostete eine Frau, wenn sie für immer gekauft wurde, gebraucht fünfzehn, ungebraucht vierzig Rubel. Konnte man unter diesen Umständen der Versuchung widerstehen, sein Gewehr zu verkaufen?
Die Lage wurde allmählich deprimierend, vor allem für Walacek, daher fragte Marina Zwetajewa in ihrer unheilbaren, tragischen Güte:
– In Moskau? Seid Ihr in Moskau geboren? Bei mir in Moskau haben sie morgens immer gesungen, sogar im Jahre 20 haben sie gesungen, sogar im Krankenhaus haben sie gesungen, sogar beim Typhus haben sie gesungen.
Dann wurde auch Marina traurig:
– Zur Zeit der Revolution, der Hungersnot, wurden alle meine Hunde vergiftet, damit sie nicht von Bulgaren oder Tataren aufgegessen wurden, die noch ganz anderes aßen. Lapko entging diesem Schicksal, denn er flüchtete in die Berge – um allein zu sterben.
Walacek ging stattdessen in die Schweiz. Anfang des Jahres 1918 verlassen die Großmutter Jenny Morel und der kleine Génia (er ist eineinhalb) Moskau mit einem Flüchtlingskonvoi. Ohne Särge. Der Schweizer Konsul in Moskau, großherzig um das Kind besorgt, schreibt es im Pass der Großmutter ein, als sei es ihr eigenes. Und als Sohn von Jenny Morel kommt Génia Walacek in seine neue Heimat, nach Genf, das schon die Stadt Johann Calvins war. Die Berge haben sich, für ihn, gespalten. Marina dagegen, begierig, Rilke zu sehen, dem sie in der Schweiz nie begegnen wird, schreibt am 10. Mai 1926:
«Die Schweiz lässt keine Russen hinein. Aber die Berge sollen sich rücken (oder spalten!).»
1918 haben die Berge sich gerückt.
Walacek sieht seine in Moskau zurückgebliebenen Eltern 1965 wieder. Dazwischen liegt mehr als die Stalin-Ära. Beinahe ein halbes Jahrhundert. Was bedeutet es, Menschen wiederzusehen, von denen sie dich fortgerissen haben, als du ein winziges Pflänzchen, ein Keimling warst, sie wieder vor dir zu haben, wenn du 48 Jahre alt bist (in der Schweiz ist das das Alter des Landsturms, der Reserve), und die alten Eltern noch eine Generation weiter sind? Menschen, die auf den Tod warten oder darauf, gemeinsam in einer Wohnung in der düsteren Stadt zu sterben. Sie können dir große Worte sagen: Das ist dein Vater. Das ist deine Mutter. Und das ist euer Sohn.
Bald senkt sich etwas Übertriebenes herab. Väterliche und mütterliche Fürsorge, und Tränen. Liebenswürdigkeit bis hin zur Unterwürfigkeit, bei dem Sohn. Bald schleicht sich Verdruss ein, zuerst beim Sohn, bei dem, der im Wohlstand lebt, in der Moderne, im Westen. Was will er hier? Sehenswürdigkeiten gibt es genug, ein Museum, das Haus von Tolstoi, Herzen, Tschechow. Das Bolschoi, der Rote Platz, versteht sich, mit der langen Schlange vor dem Mausoleum. Kaviar und Wodka, ja, ja. Aber es ist ein anderer Stern. Nach einigen Tagen ist allen klar, dass die Mehrzahl der Menschen wie Katzen sind, nicht wie Hunde. Sie hängen mehr an den Orten als an den Personen. Daher ist es gut, dass ein jeder in sein eigenes Bett, zu seinen bewährten Gewohnheiten zurückkehrt. Moskau–Genf, mit einem Swissair-Flug. Von einem Bruder, der nach seiner Abreise aus Moskau 1918 geboren wurde, kann er sich nicht verabschieden. Denn der Bruder ist tot.
Er war an der deutsch-russischen Front. Zwanzig Jahre alt. Wie viele so wie er? Hitler war kein Dompteur, der wilde Tiere zähmte, vielmehr hetzte er die jungen Wölfe auf, die jungen Tiger, machte sogar die gutmütigen Elefanten irre. Es gab keine Käfige mehr, keinen Sicherheitsring rund um die Manege, um die wehrlosen Zuschauer zu schützen.
So wächst Walacek bis zehn als Morel und als Schweizer auf. Doch ein unvorsichtiger Schritt seiner Großmutter-alias-Mutter Jenny Morel – die auf ihrem Platz irgendwo im Jenseits noch immer den Kopf über sich selbst schüttelt, wenn sie zum hunderttausendsten Mal mit einer Nachbarin darüber spricht – bringt die mitleidige Ordnungswidrigkeit des Schweizer Konsuls in Moskau ans Licht. Génia Morel nimmt wieder den Namen Walacek an, verliert aber die Schweizer Staatsangehörigkeit. Er erhält einen Nansen-Pass für Staatenlose.
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