- -
- 100%
- +
Die Literaturkritiker nahmen das Drama ungnädig auf. Man bemängelte, dass Zschokke Motive von Shakespeare, Schiller, Lessing und Meissner verwende, aber offenbar die Geschichte des Grafen Essex nicht kenne, dem unter der englischen Königin Elisabeth I. ein ähnliches Schicksal widerfahren war.82 Vor allem aber wurde beanstandet, es herrsche «ein unerträgliches Chaos von Verwirrung, und Lerm und Unordnung und eine äußerst verschrobne Kraftsprache darinn. Banditen treten auf; es wird entsetzlich gemordet, gerast; Geister erscheinen und die Sterbenden wälzen sich in ihrem Blute, welches gar fürchterlich auf dem Theater anzusehen seyn muß».83
Tatsächlich lauern bereits in der ersten Szene Meuchelmörder Monaldeschi auf, und es vergeht kein Akt, in dem nicht jemand seinen Dolch zückt, mit seiner Pistole auf einen anderen zielt, je nach Geisteszustand auf Freund oder Feind. Dabei überbieten sich die Frauen in ihrer rasenden Eifersucht und der abgefeimte Marquis de Sida an Schlechtigkeit. Grässliche Flüche werden ausgestossen, Himmel und Hölle angerufen und der Jüngste Tag heraufbeschworen. Durch blutrünstige Handlungen, schreiende und brüllende Personen, mit weit jenseits der Grenzen zum Wahnsinn angelegten Gefühlsausbrüchen wird das Publikum aufgeschreckt und in dauernder Anspannung gehalten.
Zschokkes «Monaldeschi» war eine Anklage gegen den korrumpierten Adel, der sich durch Geburtsrechte und Titel Ungerechtigkeiten und Übergriffe auf unschuldige Menschen erlaubte. Das Drama machte das Böse sichtbar und zwang die Zuschauer, aus einer Erschütterung heraus Stellung zu beziehen. Dabei ging es Zschokke gar nicht so sehr um eine Sozialkritik der gegenwärtigen Verhältnisse, denn das Stück ist ja in der Vergangenheit und in einem anderen Land verortet. Vielmehr war «Monaldeschi» ein Experiment, in dem er sein Theaterkonzept und die Zurschaustellung seelischer Ausnahmezustände erprobte. Zschokke griff tief in die Psyche der Personen ein: Er setzte sie extremen Situationen aus, in denen sie ihre Beherrschung verloren; das Publikum sollte dadurch in heftige Schwingung versetzt werden.
In seinem Aufsatz «Brief, aus dem Meklenburgischen», der Anfang Juli 1788 entstand, als «Monaldeschi» gerade fertig wurde, legte Zschokke seine dramaturgische Absicht offen. Das Wichtigste im Theater sei sein moralischer Nutzen. «Es scheucht mit Donnerstimme, mit Dolch und Gift, mit Fluch und verzweifelnder Wuth von der schwarzen Lasterthat zurück; malt die Tugend in süsser, liebenswürdiger Grazie vor, wie sie immer das Herz des unbefangnen Gefühlvollen am mehrsten bezauberte, und zeigt uns unsre Fehler und Schwächen in der lächerlichsten Gestalt.»84 Der Zuschauer soll sich wie in einem Spiegel selber erkennen und auf der Bühne mit den eigenen Schwächen konfrontiert werden:
«Wie oft hat nicht der Knauser im Parterr
Den Knauser auf der Bühne laut belacht.»
Zschokke zielte darauf ab, bei den Zuschauern Entsetzen und Rührung auszulösen, als Mittel zur moralischen Besserung. Nicht nur die Gebildeten erreiche diese Art der Erschütterung, sondern auch einfache Menschen, die keine Bücher läsen, «bis in die äussersten Glieder der menschlichen Gesellschaft, [...] bis zur Werkstelle des Handwerkers».85 Gutes Theater habe dieselbe Wirkung wie echte Religion: Es veredle und läutere die Menschen aller Klassen, mache den Tyrannen zum Fürsten und den Fürsten zum Vater. Daher solle man die dramatische Kunst genauso pflegen und schützen wie die Kirche. «Als mein Freund einst aus der Vorstellung von Kabale und Liebe zurückkam, und ich ihn fragte, woher er so spät käme? gab er mir zur Antwort: Aus der Kirche!»86 Eigentlich müssten Schauspieler genauso geachtet und besoldet werden wie Pfarrer, meinte er, «weil beyde Tugend predigen und heut zu Tage jene es öfters sogar mit glücklicherm Erfolge thun».87
Es lässt sich kaum verhehlen: «Monaldeschi» ist ein misslungenes Stück, was die Absicht und die Zschokke zur Verfügung stehenden Mittel betrifft. Zschokke kannte zwar die Dramen von Schiller und das eine oder andere von Lessing, hatte aber den Wandel zum bürgerlichen Trauerspiel, den Lessing mit «Miss Sara Sampson» (1755) und seinen theoretischen Schriften begründet hatte, noch nicht vollzogen, sondern war stark vom deutschen Barockdrama beeinflusst. In einem Versuch, den Dichter Daniel Casper von Lohenstein (1635–1683) zu rehabilitieren, rühmte er die «Urschönheit des Trauerspieles, auf ihre geheimnißvollen Mittel, Thränen der Wehmut zu erwecken, oder tiefes Grausen zu erregen».88 Zwei während Neros Gewaltherrschaft spielende Stücke von Lohenstein bezeichnete er als seine besten Dramen und zitierte daraus eine Folterszene und die Verführung Neros zur Blutschande durch seine Mutter Agrippina. Martin Schulz, der sich als bisher einziger Forscher mit Zschokkes Dramen und seiner Dramentheorie auseinandersetzte, findet diesen Aufsatz «ohne Wert» und meint, er werfe «ein wenig günstiges Licht auf das ästhetische Empfinden seines Verfassers». Und weiter: «Wieweit diese Ansicht in seinen eigenen Dramen zum Vorschein kommt, wird deren Untersuchung erweisen.»89
Zschokke zog aus Lohenstein die falschen Schlussfolgerungen und überschätzte dessen dramatische Wirkung. Statt die Zuschauer pflegsam zu behandeln und ihr Mitleid zu wecken, wie Lessing es vorschlug,90 putschte er ihre Gefühle auf und stiess sie ab.91 Eine Katharsis war so nicht mehr zu erreichen, und für den Kunstgenuss des gebildeten Publikums im ausgehenden 18. Jahrhundert wurden Verstand und ästhetisches Empfinden sowieso zu wenig einbezogen. Dennoch: Im wenig aufregenden bürgerlichen Theater jener Zeit verschaffte sich Zschokke, der noch echte Bösewichte auf die Bühne brachte, den Ruf eines Kraftgenies.
Auch wenn die Personen im «Monaldeschi» noch weitgehend aneinander vorbeireden, weil Zschokke die Kunst der Dialoge nicht richtig beherrschte, gab er den Schauspielern reichlich Gelegenheit, in unterschiedlichen Stimmungslagen zu agieren und sich exklamatorisch zu entfalten. Er schrieb ein aussergewöhnlich expressives Stück, für Zuschauer mit starken Nerven sicherlich ein Riesenspektakel. Schiller wohnte Anfang Januar 1791 einer Liebhaberaufführung in Erfurt bei; es wäre interessant zu erfahren, wie er das Stück empfand. Er habe, hiess es, den Gegenstand für eine künftige Bearbeitung in seinem Verzeichnis notiert.92
Bedauerlicherweise lernte Zschokke in dieser Hinsicht nicht viel dazu und variierte Themen und Mittel zu wenig, um das Potential seines Theaterschaffens in den elf Stücken, die er bis 1804 schrieb, auszuloten. Immerhin gelang ihm einige Jahre später mit seinem «Abällino» ein grosser Wurf, wobei er dem Versuch, das Publikum zu schockieren, eine neue Dimension gab.
IM TROSS EINES WANDERTHEATERS
Ob Zschokke das Theater in Schwerin häufig besuchte, wissen wir nicht. In dieser Zeit wurden «Emilia Galotti» und «König Lear» aufgeführt (beide zweimal), hintereinander drei verschiedene Versionen von «Figaros Hochzeit», «Romeo und Julie» als Singspiel von Gotter mit Musik von Georg Benda, Goethes «Clavigo» und «Der Graf von Essex oder die Gunst der Fürsten» von Johann Gottfried Dyk nach dem Englischen von John Banks. Beliebt waren Lustspiele mit publikumswirksamen Titeln wie «Der Eheprokurator oder Liebe nach der Mode» und «Die Wirthschafterin oder der Tambour bezahlt alles», Erfolgsstücke, die der Zerstreuung und Unterhaltung dienten, Vorstellungen die ein Ehepaar gemeinsam besuchen konnte, ohne Ungebührliches zu befürchten. Dieses Theater war weit von der moralischen Besserungsanstalt entfernt, die Zschokke und andere forderten.
Falls Zschokke also in Schwerin ins Theater ging, dann wohl selektiv und in der Absicht des Dichters, das für ihn erforderliche Rüstzeug zu erlernen, sein kritisches Urteil zu schärfen und sich mit schauspielerischen Möglichkeiten vertraut zu machen. Es gibt aber keinen Hinweis, dass er Theaterrezensionen für die «Monatsschrift von und für Mecklenburg» verfasste. Dagegen befreundete er sich mit dem Schauspieler Wilhelm Burgheim, Vater mehrerer Kinder, der ein angenehmes Äusseres mit einer schnarrenden Stimme verband.93 In Schwerin spielte er bevorzugt Offiziere und alte Geizige, seine Gattin (oder die Dame, die er dafür ausgab) Hilfsrollen.94 Unter dem Siegel der Verschwiegenheit vertraute Burgheim Zschokke an, er heisse eigentlich von Schlabrendorf, sei Baron und von seiner Familie verstossen worden, weil er eine nichtadelige Geliebte aus dem Kloster entführt habe. Nun werde er mit unversöhnlichem Hass verfolgt und müsse sich inkognito und als Schauspieler durchs Leben schlagen.95 Diese romantische Geschichte rührte Zschokke; vielleicht erinnerte sie ihn an Graf Monaldeschi und seine Theresa – oder hatte Burgheim für Monaldeschi und die Liebe zu einer Bürgerlichen gar Modell gesessen? Dass Zschokke Burgheims Geschichte für bare Münze nahm, kommt uns naiv und überspannt vor, aber man muss seine Jugend, den Mangel an Lebenserfahrung und Burgheims selbstbewusstes Auftreten in Rechnung stellen. Trotz seiner Vorliebe für Rangprädikate und Titel, mit denen Zschokke, bei aller demokratischen Gesinnung, ein Leben lang kokettierte, war es nicht in erster Linie die Baronie, die ihn zu Burgheim hinzog. Burgheim war vielleicht der erste Mensch, der Zschokke ernst nahm, ihn als ebenbürtig, nicht wie ein Kind oder einen Schüler behandelte. Die beiden steckten ihre Köpfe zusammen und planten eine gemeinsame Zukunft: Burgheim als Theaterdirektor und Zschokke als sein Dichter und Sekretär.96 Offenbar vergassen sie über ihren Plänen, dass Burgheim ein einfacher Schauspieler war und nicht einmal über Macht und Mittel verfügte, Zschokkes «Monaldeschi» auf die Bühne zu bringen.
Burgheim gehörte zu den Schauspielern, die im November 1787 dem kleinen Trupp der Marianne Köppi entsprungen waren, um sich in Schwerin engagieren zu lassen. Im Herbst 1788 kündigten die Mitglieder der ehemaligen Köppischen Gesellschaft, die bis zu diesem Zeitpunkt in Schwerin geblieben waren, und zogen mit einer neuen Truppe nach Prenzlau, der Hauptstadt der Provinz Uckermark. Es gelang Burgheim, Zschokke zur Mitreise zu bewegen, wozu es keiner grossen Überredungskünste bedurfte.97 Vermutlich empfand Zschokke den Aufenthalt in Schwerin zunehmend als Belastung, als ein Hindernis auf seiner Karriere zum Dichter und Gelehrten. Es reizte ihn, sich ganz seiner Leidenschaft, dem Schreiben, zu widmen und die Produkte seiner Tätigkeit gewürdigt und aufgeführt zu sehen. Hierzu bot ihm Burgheim bessere Perspektiven als Bärensprung, nicht zuletzt in finanzieller Hinsicht. Zschokke beschrieb ein Jahr später Behrendsen sein Verhältnis zu Burgheim: «Ich war [...] fast täglich in seinem Hause – wir arbeiteten gemeinsam – ich konnt es ihm nicht versagen, ging mit und erhielt ausser 4 Rth.98 wöchentl[icher] Gage, freies Logis und Mittagsessen an seinem Tisch. Ich ging, nicht sowol als Schauspieler, denn hiezu war ich die Person nicht, sondern vielmehr als Dichter und Korrespondent seines Theaters mit, befand mich überaus glüklich dabei und er ist noch stets mein Freund.»99
Es wird nicht ganz klar, wer Direktor dieser Theatertruppe war. Zschokke behauptete, es sei Burgheim gewesen; offiziell firmierte sie aber, mindestens seit Februar 1789, als Hubersche Gesellschaft.100 Wandernde Gesellschaften waren bis um 1800 noch der Normalfall im Theaterwesen. Die meisten grossen Schauspieler wie Ekhof, Ackermann oder Schröder hatten ihr Debüt so erlebt und waren jahrelang mit einer Truppe herumgezogen.101 Später hatten sie selber solche Gesellschaften gegründet und geleitet, die, im Fall von Ekhof in Gotha, Schröder in Hamburg und Bellomo in Weimar, den Stamm einer stehenden Bühne bildeten. Solche fest installierten Theater mit eigenem Ensemble entstanden 1766 als Leipziger Schauspielhaus, 1774 als Gothaer Hoftheater, 1776 als Wiener und 1779 als Mannheimer Nationaltheater. Daneben zogen noch zahlreiche Theatergesellschaften mit ihren Prinzipalen in Deutschland herum; sie wurden aber gegen Ende des 18. Jahrhunderts teilweise von den festen Bühnen übernommen, so die Carl Döbbelinsche 1795 vom Magdeburger Theater.
Nur Fürsten und wohlhabendere Städte mit kulturbeflissenen Mäzenen konnten sich ein stehendes Theater leisten. Es war normalerweise ein (kostspieliges) Zuschussunternehmen und griff die Privatschatulle des Fürsten oder die Steuereinnahmen der Stadt empfindlich an. Wandertheater waren preiswerter im Unterhalt. Man musste ihnen nur einen Saal zur Verfügung stellen und konnte erst noch an den Einnahmen partizipieren: durch Gewerbesteuern oder Vorstellungen, deren Erlös der Armenkasse zugute kam. Zudem belebte der Theaterbetrieb einheimisches Handwerk und Gewerbe, die Gastwirte, die Schneider, Schreiner und Maler für Kostüme oder den Kulissenbau. Das waren Vorteile, mit denen sich jede wandernde Truppe einem Magistrat beliebt zu machen suchte.102
Die Gesellschaften blieben, solange Interesse an ihren Vorstellungen bestand oder bis ihr Repertoire von vier bis sechs Stücken pro Woche durchgespielt war. Es konnte vorkommen, dass die Bürger mit den Aufführungen so unzufrieden waren, dass sie buhten, pfiffen, die Bühne stürmten und ihr Geld zurückverlangten. Dann hiess es für die Truppe, sich bei Nacht und Nebel davon zu stehlen und ihr Glück anderswo zu versuchen. Die Theatergesellschaft von Burgheim machte diese Erfahrung wohl mehr als einmal. Sobald sich die Zuschauerreihen lichteten und die Tageseinnahmen schmolzen oder im Sommer, wenn es die Menschen ins Freie zog statt in einen schlecht gelüfteten Saal, wanderte die Truppe weiter, falls nicht ohnehin eine begrenzte Spieldauer vereinbart war. Zum Abschluss der Saison wurde gern noch eine Redoute gegeben, ein choreografierter Maskenball, bei dem sich biedere Bürger unter das lustige Schauspielervolk mischten.
Schon das Eintreffen einer fremden Theatertruppe mit ihren bunten Wagen war in kleineren Städten wie Prenzlau (weniger als 7000 Einwohner) ein Ereignis: kostümierte Menschen, die durch die Strassen ritten oder gingen und mit kurzen szenischen Darstellungen die Aufmerksamkeit auf sich zogen, Theaterzettel verteilten oder an die Hausmauern klebten und auch sonst für Wirbel und Trubel sorgten. Ihr Einzug muss oft Ähnlichkeit gehabt haben mit dem des Rattenfängers von Hameln: Eine grosse Kinderschar begleitete die Wagen, belagerte die Quartiere der Schauspieler, wartete gespannt vor dem Theater, wo die letzten Vorbereitungen getroffen wurden, und begleitete sie auch wieder zur Stadt hinaus, falls die Truppe es nicht vorzog, sich in aller Frühe und unerkannt zu verziehen.
Dann rückte der Abend der ersten Aufführung heran: Die Leute strömten in den kerzenbeleuchteten Saal, der zum Bersten voll war. Für die Junker, Räte, höheren Beamten und anderen Honoratioren waren in der ersten Reihe Stühle aufgestellt, dahinter nahmen Bürger und Handwerksmeister mit Gattinnen Platz, den Rest füllte das Militär auf.103 Jugendliche hatten oft nur unter Anwendung einer List eine Chance hineinzugelangen: So schmuggelte sich Carl Ludwig Costenoble einmal als Bassist ins Theaterorchester.104
Das war die Kulisse für Zschokke, als er mit Burgheim und rund einem Dutzend Schauspielern im November 1788 von Schwerin abreiste und in drei Wagen – einen für die Frauen, den zweiten für die Männer und den dritten fürs Gepäck – in Richtung Prenzlau fuhr. Schon diese Reise war für den jungen Theaterdichter ein Abenteuer.105 Sein Umgang hatte bisher fast ausschliesslich aus Männern bestanden, und bis auf seine Schwester Christiana und seine Kindheitsgespielin Friederike Ziegener hatte er zum weiblichen Geschlecht keine Zuneigung empfunden, keine Frau in einer indezenten Situation gesehen. Nun aber lebte er auf engstem Raum mit Frauen zusammen, die, was ihr Benehmen oder ihre Alltagsgarderobe betraf, kaum Rücksicht auf einen prüden jungen Mann nahmen, sondern im Unterkleid am Brunnen ihre Röcke wuschen und sich vielleicht gar einen Sport daraus machten, den gehemmten Jüngling zu reizen oder in Verlegenheit zu bringen.
Hübsche junge Schauspielerinnen waren für jeden Theaterdirektor ein wichtiges Kapital, das er gezielt einsetzte. Ihr Auftreten füllte die Zuschauerreihen und überdeckte technische oder schauspielerische Mängel. Richtig ins Rampenlicht gebracht halfen sie dem Direktor, für seine Wünsche bei den Notabeln einer Stadt Gehör zu finden. Dafür mussten «die liebenswürdigen Theaternymfen», wie Zschokke sie einmal nannte,106 es sich gefallen lassen, von den Herren angehimmelt und zur Favoritin erkoren zu werden. Die Kehrseite beschrieb der Theaterkenner und -kritiker Johann Jakob Christian von Reck 1787 in seinem Buch über die Lage der Wandertheater: «Vom Theaterfrauenzimmer will ich gar nichts erwähnen, wer kennt sie nicht? – Wie selten findet man eine Ausnahme? [...] Liederlicher Lebenswandel, Ausgelaßenheit ist das gewöhnlichste.»107
Klagen über die frivole Lebensweise von Schauspielern finden sich in jener Zeit allenthalben. Reck führte das Übel darauf zurück, dass sich hier unter schlechten Arbeitsbedingungen «Barbiergesellen, Perükenmacher, Musketirs, von der Universität geloffene verführte Studenten und dergleichen Volk mehr» versammelten, die sich, der Verachtung der Öffentlichkeit preisgegeben, dadurch schadlos und über Wasser hielten, indem sie schmeichlerisch, betrügerisch und niederträchtig seien.108 Reck riet, solche Gesellschaften staatlich zu kontrollieren, den Schauspielern ihren Lebensunterhalt zu garantieren und sie so in das bürgerliche Wertesystem einzugliedern.
Ob gerade dieses Ungezähmte, Ungebärdige und leicht Verruchte Zschokke an seiner Truppe lockte, ist zweifelhaft; er konnte es sich nicht aussuchen. Einer nach dem Vorbild Recks regulierten Gesellschaft hätte er sich vielleicht lieber angeschlossen, aber die hätte ihn gar nicht in Dienst genommen. Das halbe Jahr in der fahrenden Gesellschaft war für Zschokkes Persönlichkeitsentwicklung aber von enormer Bedeutung. Er wurde selbstbewusster, verlor wenigstens zum Teil sein linkisches, schüchternes Benehmen und lernte sich im Umgang mit unterschiedlichen Menschen behaupten. Seine idealistische Vorstellung von Schauspielern als Trägern von Idealen verflüchtigte sich rasch,109 dafür eignete er sich Schlagfertigkeit, Wortwitz und eine ironisch gebrochene, rhetorisch überhöhte Redeweise an. Seine Vitalität, die bisher durch Bevormundung und Regeln gehemmt wurde, konnte sich hier freier entfalten. Er reifte vom Jüngling zum Mann, jedoch kaum in sexueller Beziehung; daran hinderte ihn seine Prüderie und Unbeholfenheit im Umgang mit Frauen. Was ihm aus dem Leben der Schauspieler relevant schien, schilderte er in «Eine Selbstschau»,110 in mehreren Zeitschriftenaufsätzen und in einem satirischen Roman über das Leben einer wandernden Theatertruppe.
Zschokkes Aufgabe bestand in Sekretariatsarbeiten und im Verfassen von Prologen und Epilogen. Er habe ausserdem, schrieb er, «ein Paar Saus- und Grausstücke» verfasst und andere Dramen bearbeitet oder gekürzt.111 Von solchen «Saus- und Grausstücken» ist, bis auf «Graf Monaldeschi», das aber schon früher entstanden war, nichts bekannt. «Graf Monaldeschi» ist auch das einzige Stück, von dem wir wissen, dass es aufgeführt wurde. Auch von Pro- und Epilogen ist keine Spur mehr vorhanden.
Die Prologe – der berühmteste der deutschen Literaturgeschichte ist zweifellos jener, den Goethe seinem «Faust» voranstellt – wurden beim ersten Auftritt der Gesellschaft in einer Stadt oder zu Anfang einer Aufführung vorgelesen oder deklamiert, um das Publikum anzuheizen, es auf das einzustimmen, was es zu erwarten hatte, und um anwesender Prominenz oder Gönnern zu schmeicheln. In gereimter Form war dies besonders effektiv. Hier lernte Zschokke schnelles Dichten für verschiedene Gelegenheiten, was ihm später zugute kam. Mit Genugtuung und Stolz wird er in der Nähe der Bühne gestanden und zugehört haben, wenn der Direktor oder ein ausgesuchter Schauspieler seinen Text rezitierte und die witzigen Redewendungen belacht und applaudiert wurden. Auch das Ausbuhen seiner Truppe blieb ihm nicht erspart, und so lernte er, wie eng im Theaterberuf Triumph und Misserfolg nebeneinander liegen.112
Zschokkes Haupttätigkeit für Burgheim lag in dem, was er «dramatische Schneiderkunst» nannte: Er hatte alte Dramen aufzufrischen, zu kürzen und anzupassen, bis sie dem Publikumsgeschmack und den Möglichkeiten der Truppe entsprachen. Ein Theaterdirektor war gut damit beraten, seinem Publikum Erfolgsstücke anzubieten, auch wenn sie sein Personal überforderten. Man brauchte auf den Handzetteln, die vor der Aufführung verteilt wurden, nicht zu verraten, dass Shakespeares «Hamlet» nicht in seiner integralen Fassung gezeigt wurde. Fehlte es an Schauspielern, um alle Rollen zu besetzen, war jemand ausgefallen und hatte der Ersatz nicht genügend Zeit, seinen Text zu studieren, oder war er nicht imstande, einen längeren Monolog zu sprechen oder in einem der damals beliebten Singspiele einen Gesangsteil zu übernehmen, dann hatte der Theaterdichter einzuspringen und ihm den Text nach dem Mund zu präparieren.113
Zschokkes Erscheinen in der Theaterwelt wurde zweimal poetisch nachgestellt: von Eduard Boas (1815–1853) in seinem Roman «Des Kriegscommissär Pipitz Reise nach Italien»,114 und von Paul Dahms im Aufsatz «Mit bunter Fuhre. Episoden aus Zschokkes Jugendzeit in einer Ostmarkstadt».115 Paul Dahms bediente sich diskret, aber ausgiebig der «Selbstschau» und Carl Günthers Zschokke-Biografie, während Eduard Boas, dessen Roman ein Jahr vor der «Selbstschau» erschien, seiner Schilderung die «Lebensgeschichtlichen Umrisse» von 1825 zu Grunde legte. Da die Darstellung von Boas zeitlich näher an den Ereignissen liegt und von einem Augenzeugen seiner Bühnenauftritte stammt, sei sie hier wiedergegeben. In einem Brief an einen Freund gerät Kriegskommissär Pipitz unversehens in Reminiszenzen an seine Kindheit in Landsberg an der Warthe:
«Es war zu Ausgang des Winters 1790 und ich zählte etwa dreizehn Jahre, als eine reisende Schauspielertruppe in dem Wohnort meiner Eltern anlangte. Wir Knaben waren sehr vergnügt und freuten uns mächtig auf die bunten Ritter-Tragödien, die unserer harrten.
Die Directoren der Truppe schlugen ihr Theater im alten Rathhause, in dem großen, öden Hausflur des oberen Geschosses auf, und wir konnten die Zeit gar nicht erwarten, wo die Zettel endlich an Straßenecken und Brunnenröhre geklebt wurden. Am ersten Abend saß ich oben in der dunkelbraunen, durch Talglichter erhellten Halle, vor dem bunten Vorhang, und sechs Trompeter von den Dragonern, rothe Federbüschel auf den breitkrämpigen Filzhüten tragend, spielten ein lustiges Stücklein. Dann klingelte es im Souffleurkasten, die Gardine rollte auf, und eine mit Flor und Flittern ausgeputzte, roth geschminkte Actrice trat hervor, einen Prolog, ‹gedichtet von Zschokke› zu sprechen. Dieser Zschokke wurde für uns Buben ein Gegenstand des Neides. Wir sahen ihn oft auf der Straße; er mochte um die 18 Jahr alt seyn, und begleitete die Theatergesellschaft als Theaterdichter. Er sagt selbst, seine Arbeit sey gewesen, ‹den Briefwechsel der lockeren Thespisvögel zu führen, Prologe und Epiloge zu reimen, oder an den Werken der deutschen Bühnendichter Prokrustes-Arbeit zu treiben.› Solch ein freies, ungebundenes Leben mitten unter den hübschen Schauspielerinnen mit den kecken schwarzen Augen, dünkte uns ein Götterdaseyn, und als wir hörten, er hätte, ohne Erlaubniß seiner Vormünder, sich von der Schule zu Magdeburg entfernt, um sich einige Zeit unabhängig in der Welt umherzutummeln, da fehlte nicht viel, daß wir Knaben alle seinem Beispiele gefolgt wären.
Er war ein junger, schlanker Mensch mit schwärmerischen Augen und einem angenehmen, blassen Gesichte, doch lag in demselben jene unbeholfene Blödigkeit, und in allen seinen Bewegungen jenes eckige schlotternde Wesen, welches Jünglinge jenes Alters characterisirt. Sein Anzug war eben nicht elegant und bestand unabänderlich aus Schnallenschuhen, kurzen Hosen, einem grünen Überrocke, dessen Fadengewebe schon ins Weißliche spielte, und aus einem kleinen Dreimaster. Er trug auch immer einen langen Zopf. Zschokke, der Theaterdichter, unser Ideal, betrat zuweilen selbst die Bretter, jedoch nur in Nebenrollen, denn sein jugendlich täppisches Wesen, verbunden mit einem scharfen, schneidend unsichern Organ, ließen ihn wenig zum Bühnenkünstler taugen. Doch einmal, entsinne ich mich, als er in dem damals ganz neuen Kotzebueschen Drama ‹Menschenhaß und Reue› den einfältigen Bedienten Peter mit drastischer Komik spielte, wurde ihm lauter Beifall zu Theil.»116
Zu diesem letzten Satz meinte Zschokkes Freund Theodor Heinrich Otto Burchardt (1771–1853), der aus Landsberg an der Warthe stammte und beim Erscheinen von Boas’ Roman dort Justizkommissär war, das könne nicht stimmen; Zschokke sei nie Schauspieler gewesen und habe nur «aus Gefälligkeit zwei oder dreimal kleine Rollen übernommen».117