- -
- 100%
- +
Noch bevor der Hass dreißig Sekunden lang gedauert hatte, kam es bei der Hälfte der im Raum Anwesenden zu unkontrollierten Wutausbrüchen. Das selbstzufriedene Schafsgesicht auf der Leinwand und die furchterregende Macht der eurasischen Armee dahinter waren zu viel auf einmal. Außerdem erzeugte der Gedanke an Goldstein automatisch Angst und Wut, denn dieser war ein beständigeres Objekt des Hasses als Eurasien oder Ostasien, da Ozeanien, wenn es sich mit einer dieser Mächte im Krieg befand, im Allgemeinen mit der anderen im Frieden war. Aber das Merkwürdige war: Obwohl Goldstein von allen gehasst und verachtet wurde und seine Theorien tausendmal am Tag, auf Bahnsteigen, auf dem Teleschirm, in Zeitungen, in Büchern widerlegt, vernichtet, verspottet und als der erbärmliche Müll, der sie waren, verstanden wurden, schien Goldsteins Einfluss trotz alledem niemals geringer zu werden. Es gab immer wieder neue Idioten, die nur darauf warteten, von ihm verführt zu werden: Nie verging ein Tag, an dem nicht Spione und Saboteure, die nach seinen Anweisungen handelten, von der Gedankenpolizei entlarvt wurden. Er war der Befehlshaber einer riesigen Schattenarmee, eines Untergrundnetzes von Verschwörern, die sich für den Sturz des Staates einsetzen. Die Bruderschaft, so hieß sie angeblich. Es gab auch heimlich erzählte Geschichten über ein schreckliches Buch, ein Kompendium aller Häresien, dessen Autor Goldstein war und das hier und da heimlich zirkulierte. Es war ein Buch ohne Titel. Die Leute bezeichneten es, wenn überhaupt, einfach als DAS BUCH. Aber bekannt waren über solche Sachen lediglich unbestimmte Gerüchte. Weder die Bruderschaft noch DAS BUCH waren ein Thema, das ein gewöhnliches Parteimitglied jemals erwähnen würde, wenn sich das vermeiden ließ.
In der zweiten Minute steigerte sich der Hass zur Raserei: Einige der Anwesenden sprangen auf ihren Plätzen auf und ab und schrien lauthals, um die wahnsinnige, blökende Stimme, die von der Leinwand kam, zu übertönen. Die kleine, sandhaarige Frau war leuchtend rosa geworden, und ihr Mund öffnete und schloss sich wie der eines gerade gefangenen Fischs. Sogar O’Briens schweres Gesicht war errötet. Er saß sehr aufrecht auf seinem Stuhl, zitternd und die breite Brust mächtig angeschwollen, als gälte es, dem Ansturm einer großen Welle standzuhalten. Das dunkelhaarige Mädchen hinter Winston hatte angefangen zu schreien: „Du Schwein! Du verdammte Drecksau!“, und plötzlich nahm sie ein schweres Neusprech-Wörterbuch in die Hand und warf es gegen den Teleschirm. Es traf Goldstein auf die Nase und prallte zurück, aber dessen Stimme ertönte unerbittlich weiter. In einem lichten Augenblick wurde Winston bewusst, dass er mit den anderen schrie und mit der Ferse heftig gegen die Sprosse seines Stuhls trat. Das Schreckliche an dem Zwei-Minuten-Hass war nicht, dass verlangt wurde, dabei eine Rolle zu spielen, sondern im Gegenteil, dass es einfach unmöglich war, sich nicht hineinzusteigern: Innerhalb von dreißig Sekunden war keinerlei Verstellung mehr notwendig, bei niemandem, und eine scheußliche Ekstase der Angst und Rachsucht; der Wunsch, zu töten und zu foltern und Gesichter mit einem Vorschlaghammer einzuschlagen, schien wie ein elektrischer Strom durch die ganze Gruppe von Menschen zu fließen, und jeden, der dabei war, selbst gegen seinen Willen in einen grimassierenden, schreienden Wahnsinnigen zu verwandeln. Und doch war die dabei gefühlte Wut ein von den Tatsachen losgelöstes Gefühl, das wie die Flamme einer Lötlampe von einem Gegenstand auf einen anderen gerichtet werden konnte. So wandte sich in einem Moment Winstons Hass gar nicht gegen Goldstein, sondern im Gegenteil gegen Big Brother, die Partei und die Gedankenpolizei; und in solchen Augenblicken schlug sein Herz für den einsamen, verhöhnten Ketzer auf dem Teleschirm, als wäre Goldstein der alleinige Hüter der Wahrheit und der Vernunft in einer Welt voller Lügen. Und doch war Winston schon im nächsten Augenblick eins mit den Menschen die ihn umgaben, und alles, was über Goldstein gesagt wurde, schien wahr zu sein. In solchen Augenblicken verwandelte sich Winstons heimliche Abscheu vor Big Brother in Anbetung, und dieser schien sich über alles zu erheben: ein unbesiegbarer, furchtloser Beschützer, der wie ein Fels den Horden Asiens widerstand, während sich Goldstein trotz seiner Isolation, seiner Hilflosigkeit und der Zweifel, die seine Existenz umgaben, in einen finsteren Zauberer verwandelte, der allein durch die Kraft seiner Stimme in der Lage war, die Grundlagen der Gemeinschaft zu zerstören.
Manchmal, in kurzen Augenblicken, war es sogar möglich, den Hass auf durch einen bloßen Willensakt umzulenken: Plötzlich, durch eine Art gewalttätiger Anstrengung, ganz so, wie in einem Alptraum den Kopf vom Kissen zu reißen, gelang es Winston, seinen Hass von dem Gesicht auf dem Teleschirm auf das dunkelhaarige Mädchen hinter sich zu übertragen. Lebhafte, wunderschöne Wahnbilder schossen in Winstons Vorstellung: Er würde das Mädchen mit einem Gummiknüppel zu Tode prügeln. Er würde sie nackt fesseln, an einen Pfahl, und einen Haufen Pfeile in sie hineinjagen wie in den Heiligen Sebastian. Er würde es ihr böse besorgen, gegen ihren Willen, und ihr dann, genau dann, wenn er dabei kommen würde, die Kehle durchschneiden. Besser als zuvor, noch deutlicher, wurde ihm nun auch klar, WESHALB er sie hasste: Er hasste sie, weil sie jung war und schön und geschlechtslos, weil er mit ihr ins Bett gehen wollte und dies nie geschehen würde, denn um ihre schöne Taille, die nur darum zu bitten schien, sie mit dem Arm zu umfassen, war diese widerwärtige scharlachrote Schärpe gewickelt, aggressives Symbol der Keuschheit.
Der Hass erreichte seinen Höhepunkt: Die Stimme Goldsteins war zum echten Blöken eines Schafs geworden, und für einen Augenblick verwandelte sich das Gesicht sogar in das eines Schafs. Dann verschmolz das Schafsgesicht mit der Gestalt eines eurasischen Soldaten, der auf dem Vormarsch zu sein schien, riesig und schrecklich, mit dröhnender Maschinenpistole, und es war beinahe so, als spränge er aus der Oberfläche des Teleschirms heraus, so dass einige der Menschen in der ersten Reihe auf ihren Sitzen davor zurückzuckten. Doch im selben Moment, dabei einen tiefen Seufzer der Erleichterung bei allen auslösend, verwandelte sich die feindselige Gestalt in das Gesicht von Big Brother: schwarzhaarig, mit schwarzem Schnauzbart; voller Kraft und geheimnisvoller Ruhe, und so gewaltig, dass es fast den gesamten Teleschirm ausfüllte. Niemand hörte, was Big Brother sagte. Es waren eher nur ein paar Worte der Ermutigung: die Art von Worten, die im Getöse eines Kampfes gemurmelt werden; nicht einzeln unterscheidbar, aber das Vertrauen wieder herstellend, einfach dadurch, dass sie gesprochen werden. Dann verschwand das Gesicht von Big Brother wieder, und stattdessen erschienen die drei Parolen der Partei in fetten Großbuchstaben:
KRIEG IST FRIEDEN
FREIHEIT IST SKLAVEREI
UNWISSENHEIT IST STÄRKE.
Doch das Gesicht von Big Brother schien für einige Sekunden weiter auf dem Teleschirm zu verharren, als ob die Wirkung, die es auf die Augäpfel gehabt hatte, zu lebhaft gewesen wäre, um den Eindruck sofort wieder verschwinden zu lassen. Die kleine sandhaarige Frau hatte sich nach vorne über die Stuhllehne vor sich geworfen. Mit einem zitternden Murmeln, das klang wie: „Mein Retter!“, streckte sie ihre Arme in Richtung der Leinwand aus. Dann vergrub sie ihr Gesicht in ihren Händen. Es war offensichtlich, dass sie ein Gebet sprach.
Dann auf einmal brach die gesamte Gruppe der Anwesenden in einen tieftönenden, langsamen, rhythmischen Gesang aus: „B-B!...Be-Be!“ – immer und immer wieder, sehr langsam, mit einer langen Pause zwischen dem ersten „B “und dem zweiten – ein schweres, murmelndes Geräusch, das auf eine merkwürdige Weise wild erschien, und es war ein wenig so, als wäre im Hintergrund das Stampfen nackter Füße und das Schlagen von Holztrommeln zu hören. Es dauerte vielleicht etwa dreißig Sekunden; ein Refrain, der oft gehört wurde in Momenten überwältigender Emotionen. Zum Teil war es eine Art Hymne an die Weisheit und Majestät von Big Brother, aber mehr noch ein Akt der Selbsthypnose, ein absichtliches Ertränken des Bewusstseins durch rhythmische Geräusche. Winstons Eingeweide schienen kalt zu werden. Während des Zwei-Minuten-Hasses konnte er sich nicht dagegen wehren, am allgemeinen Delirium teilzuhaben, aber dieser untermenschliche Gesang von „B-B! ... B-B!“, der ein wenig klang wie „Sei!-Sei!“, erfüllte ihn immer mit Schrecken. Selbstverständlich machte er trotzdem dabei mit, denn es war unmöglich, sich dem zu verweigern. Die Gefühle zu verbergen, das Gesicht zu kontrollieren; das zu tun, was alle anderen taten, war eine instinktive Reaktion. Aber es gab einen Zeitraum von ein paar Sekunden, während dessen der Ausdruck seiner Augen ihn möglicherweise verraten haben könnte. Und es war genau in jenem Augenblick, als das Bedeutsame geschah – wenn es überhaupt tatsächlich geschah:
Ganz kurz fing Winston den Blick von O’Brien auf. Dieser war aufgestanden, hatte seine Brille abgenommen und war gerade dabei, sie mit seiner charakteristischen Geste wieder auf die Nase zu setzen. Aber es gab jenen winzigen Bruchteil einer Sekunde, in dem sich ihre Blicke trafen, und während dieser kaum wahrnehmbaren Zeitspanne wusste Winston – ja, er WUSSTE es –, dass O’Brien dasselbe dachte wie er selbst. Eine unmissverständliche Nachricht war empfangen worden. Es war, als hätte sich ihrer beider Geist geöffnet und ihre Gedanken wären von einem zum anderen durch ihre Augen geflossen. „Ich bin bei dir“, schien O’Brien zu sagen. „Ich weiß genau, was du fühlst. Ich weiß alles über deine Verachtung, deinen Hass, deinen Ekel. Doch mach’ dir keine Sorgen: Ich bin auf deiner Seite!“ Und dann war jenes Aufscheinen des Erkennens verschwunden und O’Briens Gesicht wieder so undurchschaubar gewesen wie das eines jeden anderen auch.
Das war alles, und Winston war bereits jetzt schon unsicher, ob es überhaupt geschehen war. Solche Ereignisse hatten nie eine Fortsetzung. Alles, was sie verursachten, war lediglich, in ihm den Glauben oder die Hoffnung wach zu halten, dass auch noch andere außer ihm selbst Feinde der Partei waren. Vielleicht waren die Gerüchte über riesige Verschwörungen im Untergrund doch wahr – vielleicht gab es ja die Bruderschaft tatsächlich! Trotz der endlosen Verhaftungen, Geständnisse und Hinrichtungen war es unmöglich, sicher zu sein, dass die Bruderschaft nicht doch nur ein Mythos war. An manchen Tagen glaubte er an sie, an anderen nicht. Es gab keine Beweise, nur flüchtige Blicke, die alles oder nichts bedeuten konnten: Momentaufnahmen von belauschten Gesprächen, schwache Kritzeleien an Toilettenwänden und einmal, als sich zwei Fremde trafen, sogar eine kleine Handbewegung, die ausgesehen hatte, als könnte sie ein Zeichen des Erkennens sein. Es waren alles Vermutungen, und sehr wahrscheinlich hatte er sich alles nur eingebildet. Er war in seine Kabine zurückgegangen, ohne O’Brien noch einmal anzusehen. Die Idee, ihren Kontakt weiter zu verfolgen, kam Winston kaum in den Sinn. Es wäre unvorstellbar gefährlich gewesen, selbst wenn er gewusst hätte, wie er es hätte anstellen sollen. Sie hatten kurz einen zweideutigen Blick ausgetauscht, und das war auch schon das Ende der Geschichte. Aber selbst das war ein denkwürdiges Ereignis in der verschlossenen Einsamkeit, in der es sonst zu leben galt.
Winston richtete sich auf und setzte sich gerader hin. Er rülpste. Der Gin stieg ihm aus dem Magen.
Seine Augen konzentrierten sich wieder auf das Blatt. Er entdeckte, dass er während seiner hilflosen Grübelei geschrieben hatte wie von selbst. Und es war nicht mehr die gleiche verkrampfte, unbeholfene Handschrift wie zuvor. Sein Stift war ausladend über das feine Papier geglitten und hatte in großen, sauberen Großbuchstaben geschrieben, immer und immer wieder, eine halbe Seite voll:
NIEDER MIT BIG BROTHER
NIEDER MIT BIG BROTHER
NIEDER MIT BIG BROTHER
NIEDER MIT BIG BROTHER
NIEDER MIT BIG BROTHER.
Er konnte nicht anders, als einen Anflug von Panik zu verspüren. Das war zwar absurd, weil das Schreiben dieser speziellen Worte nicht gefährlicher war als der anfängliche Akt der Eröffnung des Tagebuchs, aber für einen Moment war er versucht, die verdorbenen Seiten herauszureißen und das Unternehmen ganz aufzugeben.
Er tat es nicht, denn er wusste, dass es nutzlos war. Ob er NIEDER MIT BIG BROTHER schrieb oder darauf verzichtete, es zu schreiben, war unerheblich, und ob er mit dem Tagebuch fortfuhr oder es nicht weiterführte, letztlich gleichgültig: Die Gedankenpolizei würde ihn so oder so erwischen. Er hatte – und hätte selbst dann, wenn er die Feder nie zu Papier gebracht hätte – das wesentliche Verbrechen schon begangen, das alle anderen bereits in sich trug: Gedankenverbrechen. Und das war keine Sache, die sich für immer verbergen ließ. Es war zwar möglich, damit für eine Weile durchzukommen, sogar für Jahre, aber früher oder später erwischten sie jeden.
Es war immer nachts; die Verhaftungen geschahen immer nachts. Der plötzliche Ruck aus dem Schlaf, eine rauh zupackende Hand an der Schulter, blendendes Licht in den Augen, ein Ring von harten Gesichtern um das Bett. In den weitaus meisten Fällen gab es keinen Prozess, ja nicht einmal einen Bericht über die Verhaftung: Die Betroffenen verschwanden einfach, immer nachts. Ihr Name wurde aus jedem Register gestrichen, ebenso alles, was sie jemals getan hatten und gewesen waren; ihre gesamte Existenz damit zunächst bestritten und dann vergessen. Sie wurden spurlos ausgerottet, vernichtet; VAPORISIERT war der übliche Begriff dafür.
Vorübergehend wurde Winston von einer Art Hysterie erfasst. Er begann zu schreiben in einer eiligen unordentlichen Krakelschrift:
siewerden mich erschießn istmir egal sie werdnmir in den Nackn schießn was kümmertsmich nieder mit big brother sie schießn immer inden Nackn was solls egal nieder mit big brother...
Er lehnte sich leicht beschämt auf seinem Stuhl zurück und legte den Stift ab. Im nächsten Moment erschrak er gewaltig: Es klopfte an der Tür.
Jetzt schon! So schnell? Er saß mucksmäuschenstill in der vergeblichen Hoffnung, wer immer es war, der da klopfte, möge nach einem einzigen Versuch wieder verschwinden. Aber nein, es hörte nicht auf. Das Schlimmste von allem wäre es jetzt, nicht schnell genug zu antworten. Sein Herz schlug wie eine Trommel, aber sein Gesicht war aus langer Gewohnheit heraus wahrscheinlich ausdruckslos. Er stand auf und beeilte sich, zur Tür zu gehen.
II
Als er gerade den Türknauf berührte, bemerkte Winston, dass er das Tagebuch offen auf dem Tisch liegengelassen hatte. NIEDER MIT BIG BROTHER war quer über die Seite geschrieben, in so großen Buchstaben, dass sie fast über das ganze Zimmer hinweg lesbar waren. Derart leichtsinnig gewesen zu sein, war eine unvorstellbare Dummheit, aber ihm wurde klar, dass er selbst in seiner Panik das cremige Papier nicht hatte verschmieren wollen, indem er das Buch schloss, während die Tinte noch feucht war.
Er holte Luft und öffnete die Tür. Sofort durchströmte ihn eine warme Welle der Erleichterung: Eine farblose, zerstört aussehende Frau mit zerzaustem Haar und einem zerknitterten Gesicht stand draußen.
„Oh, Genosse“, begann sie mit einer traurigen, jammernden Stimme, „ich dachte, ich hätte Sie gehört. Könnten Sie vielleicht rüberkommen und einen Blick auf unsere Küchenspüle werfen? Sie ist verstopft und...“
Es war Frau Parsons („Frau“ war ein von der Partei etwas missbilligtes Wort – die richtige Anrede für alle war „Genossinnen und Genossen“ –, aber bei manchen Frauen fühlte sich „Frau“ doch instinktiv richtiger an), die Ehefrau eines Nachbarn im gleichen Stockwerk. Sie war um die dreißig, sah aber viel älter aus und machte den Eindruck, als hätte sich Staub in ihren Gesichtsfalten festgesetzt. Winston folgte ihr den Flur entlang. Diese dilettantischen Reparaturen waren eine fast tägliche Belästigung: Die Wohnungen im Victory-Gebäude waren alt, aus den 1930ern, und lösten sich langsam in Einzelteile auf: Der Putz fiel in kleinen und großen Stücken von Decken und Wänden ab, die Rohre platzten bei jedem harten Frost, das Dach war undicht bei Schneefall, und die Heizung, wenn sie nicht ohnehin aus wirtschaftlichen Gründen vollständig abgestellt war, lief üblicherweise nur auf halber Leistung. Was die Bewohner des Hauses an Instandhaltungen nicht selbst erledigen konnten, musste von weit entfernten Ausschüssen erst genehmigt werden, und so konnte es durchaus zwei Jahre dauern, bis eine einfache Fensterscheibe endlich repariert wurde.
„Ich frage nur, weil Tom nicht ...“, sagte Frau Parsons zaghaft.
Die Wohnung war größer als die von Winston und auf eine andere Weise abgewrackt: Alles darin machte einen ramponierten, zertrampelten Eindruck, als wäre ein großes, gewalttätiges Tier darüber hinweggerannt. Ein Haufen Sportausrüstung – Hockeyschläger, Boxhandschuhe, ein geplatzter Fußball, ein Paar verschwitzte Shorts, die von innen nach außen gedreht waren – lag über den ganzen Boden verstreut herum, und auf dem Tisch stapelte sich ein Sammelsurium von schmutzigem Geschirr und Schulheften mit Eselsohren. An den Wänden hingen scharlachrote Fahnen der Jugendliga und der Spione und ein Plakat von Big Brother in voller Größe. Allgegenwärtig war der übliche Geruch von gekochtem Kohl, der dem gesamten Gebäude anhaftete, aber von einem noch schärferen nach Schweiß überlagert wurde, der – das wurde schon beim ersten Riechen klar, obwohl schwer zu sagen war, weshalb – von einer gerade nicht anwesenden Person stammte. Im Nebenzimmer versuchte jemand, mit einem Kamm und einem Stück Toilettenpapier, den Takt der Militärmusik zu halten, die immer noch aus dem Teleschirm dröhnte.
„Es sind die Kinder“, sagte Frau Parsons und warf einen halb beunruhigten Blick auf die Tür. „Sie waren heute noch nicht draußen. Und selbstverständlich...“
Sie hatte die Angewohnheit, Sätze in der Mitte abzubrechen.
Die Küchenspüle war fast bis zum Rand voll mit schmutzigem, grünlichem Wasser, das schlimmer denn je nach Kohl stank. Winston kniete sich hin und untersuchte das Abflussrohr. Er hasste es, seine Hände zu benutzen, und er hasste es, sich zu bücken, was bei ihm immer Hustenreiz verursachte.
Frau Parsons schaute hilflos zu. „Wenn Tom zuhause wäre, dann würde er das selbstverständlich sofort in Ordnung bringen“, sagte sie. „Er liebt so etwas. Mit seinen Händen kann er...“
Parsons war Winstons Arbeitskollege im Ministerium der Wahrheit: ein fetter, aber aktiver Mann von lähmender Dummheit, eine einzige Masse an grenzdebiler Begeisterung – einer dieser völlig unreflektierten, devoten Arschkriecher, von denen, noch mehr als von der Gedankenpolizei, die Stabilität der Partei abhing. Mit fünfunddreißig war er gerade unfreiwillig aus der Jugendliga geworfen worden, und vor seinem Eintritt in diese war es ihm gelungen, ein Jahr lang über das gesetzliche Alter hinaus bei den Spionen zu bleiben. Im Ministerium schien er mit einer untergeordneten Beschäftigung, für die Intelligenz nicht erforderlich war, bereits gänzlich ausgelastet, betätigte sich aber außerdem noch als eine führende Figur im Sportausschuss und allen anderen Komitees, die damit beschäftigt waren, Gemeinschaftswanderungen, spontane Demonstrationen, Spendenaktionen und sonstige freiwillige Aktivitäten zu organisieren, und erzählte gern und häufig, während er dabei an seiner Pfeife zog, dass er in den letzten vier Jahren an jedem Abend im Gemeindezentrum gewesen sei. Ein überwältigender Geruch von Schweiß, eine Art unbewusstes Zeugnis der Anstrengung seines Lebens, folgte ihm überallhin und blieb sogar noch lange hinter ihm zurück, nachdem er längst wieder gegangen war.
„Hätten Sie vielleicht einen Schraubenschlüssel?“, fragte Winston und fummelte an der Rohrschelle herum.
„Einen Schraubenschlüssel?“ Frau Parsons verlor sofort jegliche Körperspannung. „Ich weiß nicht. Vielleicht die Kinder...“
Es ertönten ein Stiefeltrampeln und eine weitere Explosion auf dem Kamm: Die Kinder stürmten das Wohnzimmer. Frau Parsons brachte den Schraubenschlüssel. Winston lockerte die Schelle, ließ die schmutzige Brühe aus dem Becken ablaufen und entfernte angewidert die Masse menschlicher Haare, die das Rohr verstopft hatte. Dann säuberte er sich die Finger, so gut es eben ging: mit kaltem Wasser; warmes gab es mal wieder nicht, und ging zurück ins andere Zimmer.
„Hände hoch!“, brüllte auf einmal eine wilde Stimme.
Ein hübscher, kräftig aussehender neunjähriger Junge war plötzlich über der Tischkante aufgetaucht und bedrohte, während seine kleine, etwa zwei Jahre jüngere Schwester die gleiche Geste mit einem Stück Holz vollführte, Winston mit einer automatischen Spielzeugpistole. Beide Kinder waren in blaue Shorts, graue Hemden und rote Halstücher gekleidet: die Uniform der Spione. Winston hob die Hände über den Kopf, allerdings mit dem unbehaglichen Gefühl, dass das alles weniger wie ein Spiel, sondern eher ernstgemeint war, so bösartig wirkte es.
„Du bist ein Verräter!“, schrie der Junge. „Du bist ein Gedankenverbrecher! Du bist ein eurasischer Spion! Ich werd’ dich erschießen! Ich werd’ dich vaporisieren! Ich schick’ dich in die Salzminen!“
Plötzlich sprangen sie beide um Winston herum und riefen „Verräter!“ und „Gedankenverbrecher!“, und dabei ahmte das kleine Mädchen jede Bewegung ihres Bruders nach. Das anzusehen, war beängstigend, wie das Herumtollen von kleinen Tigern, die bald zu Menschenfressern heranwachsen werden. In den Augen des Jungen lag eine Art berechnender Gewalttätigkeit; ein ganz offensichtlicher Wunsch, Winston zu schlagen oder zu treten, und das Bewusstsein, fast alt genug dafür zu sein. „Nur gut, dass er keine echte Waffe in der Hand hat“, dachte Winston.
Die Augen von Frau Parsons huschten nervös zwischen ihm und den Kindern hin und her. Im besseren Licht des Wohnzimmers bemerkte er mit Interesse, dass sich in Frau Parsons Gesichtsfalten tatsächlich Staub befand.
„Sie sind so laut“, sagte sie. „Sie sind enttäuscht, weil sie nicht zu der Hinrichtung gehen konnten; das ist es. Ich bin zu beschäftigt, um sie mitzunehmen, und Tom wird nicht rechtzeitig von der Arbeit...“
„Weshalb können wir nicht losgehen und uns das Hängen ansehen?“, röhrte der Junge mit seiner gewaltigen Stimme.
„Will das Hängen sehen! Will das Hängen sehen!“, rief das kleine Mädchen, immer noch im Kreis herumspringend.
Einige eurasische Kriegsverbrecher sollten an diesem Abend im Park gehängt werden, erinnerte sich Winston. Dies geschah etwa einmal im Monat und war ein beliebtes Spektakel. Kinder verlangten immer, dorthin mitgenommen zu werden, um es sich anzusehen. Winston verabschiedete sich von Frau Parsons und begab sich zur Tür. Aber er war noch keine sechs Schritte den Flur hinuntergegangen, als ihm etwas schmerzhaft wie ein glühend heißer Draht in den Nacken drang. Winston drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie Frau Parsons ihren Sohn zurück in die Wohnung zog, während der Junge ein Katapult einsteckte und noch schnell „Goldstein!“ bellte, bevor die Tür sich wieder schloss. Was Winston allerdings daran am meisten erschütterte, war die hilflose Angst in Frau Parsons’ eingestaubtem Gesicht.
Zurück in der Wohnung ging er schnell am Teleschirm vorbei und setzte sich, immer noch den Nacken reibend, wieder an den Tisch. Die Musik hatte aufgehört. Stattdessen verlas eine abgehackte Militärstimme mit offensichtlich brutalem Genuss eine Beschreibung der Bewaffnung der neuen Schwimmenden Festungen die gerade zwischen Island und den Färöer-Inseln verankert worden war.
Mit diesen Kindern, so dachte Winston, musste diese elende Frau doch sicher in ständiger Furcht leben: Noch ein Jahr, zwei Jahre, und sie würden sie Tag und Nacht nach Symptomen der Unorthodoxie ausspähen. Fast alle Kinder heutzutage waren schrecklich. Das Schlimmste von allem war, dass sie durch solche Organisationen wie die Spione systematisch in unkontrollierbare kleine Irre verwandelt wurden, und doch erzeugte dies in ihnen keinerlei Neigung zur Rebellion gegen die Disziplin der Partei. Im Gegenteil: Sie verehrten die Partei und alles, was mit ihr zusammenhing. Die Lieder, die Prozessionen, die Fahnen, das Wandern, die Übungen mit Gewehrattrappen, das Schreien von Parolen, die Anbetung von Big Brother – für Kinder war das alles eine Art glorreiches Spiel. All ihre Grausamkeit wurde nach außen gekehrt, gegen die Feinde des Staates, gegen Ausländer, Verräter, Saboteure, Gedankenverbrecher. Es war fast normal für Menschen über dreißig, Angst vor den eigenen Kindern zu haben. Und das mit gutem Grund, denn es verging kaum eine Woche, in der die Times nicht einen Artikel enthielt, in dem davon die Rede war, wie solch ein kleiner Spitzel – Kinderheld war dafür der allgemein gebräuchliche Ausdruck – eine kompromittierende Bemerkung gehört und seine Eltern bei der Gedankenpolizei denunziert hatte.