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Toby hatte damals erstaunt festgestellt, dass ein altes Haus nicht unbedingt ein schmutziges und abgewohntes Haus sein musste. Die Pinne-krögers bewohnten eine Villa aus der Gründerzeit auf dem Kaiser-Friedrich-Ring in Oberkassel. Von den vorderen Fenstern blickte man auf den Rhein und die gegenüber liegende Altstadt, nach hinten in einen gepflegten Garten. Die Räume waren groß gewesen und edel möbliert. Alle Oberflächen glänzten, eine Frau in einem schwarzen Röckchen und einer weißen Schürze darüber rannte ständig mit Putzutensilien herum und polierte. Was hatte der Mitschüler doch gelacht, als er sie Frau Pinnekröger nannte, denn er dachte, es handele sich um dessen Mutter. Toby wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass im Hause des neuen Mitschülers Bedienstete für alles sorgten, was so getan werden musste. Köchin und Haushälterin, Putzfrau, Gärtner …
Das Beste aber waren die Zimmer des Jungen gewesen! Jawohl, die Zimmer, denn er hatte nicht nur eines. Er bewohnte allein das gesamte Dachgeschoss der Villa. Sie hatten vor seinem Fernseher gesessen – er hatte einen Fernseher ganz für sich allein – und hatten Videospiele gespielt. Toby war beeindruckt gewesen, mit welcher Geschicklichkeit der Mitschüler feindliche Krieger besiegte. Mal mit dem Schwert, mal mit Schusswaffen, mal mit den Fäusten, je nach Spiel. Unfassbar, was der Junge alles besaß!
Er hatte noch etwas, was Toby nicht hatte. Aufgrund des Reichtums seiner Eltern hatte der junge Pinnekröger die Chance, alsbald in der allgemeinen Achtung zu steigen. Er lud bald auch andere Klassenkameraden ein und gab sich in finanzieller Hinsicht großzügig. Und dann sickerte so langsam durch, dass der Vater Pinnekröger in einer der größten Düsseldorfer Firmen der neue Topmanager war. Von da an dauerte es nicht mehr lange, bis der Junge aus Hamburg zu den angesagtesten Leuten in der Klasse gehörte. Genauso schnell war Toby aus dem Kreis seiner Freunde verschwunden.
Nach dem Abspülen widmete sich Toby am Küchentisch den Schulaufgaben. In seinem Zimmer befanden sich weder ein Tisch noch ein Schreibtisch. Dafür war der Raum zu klein. Eigentlich hatte er im Augenblick keine Lust, diese Pflicht zu erledigen, aber er wusste, dass ihm keine andere Wahl blieb. Schließlich war abzusehen, wann sein Stiefvater nach Hause kam. Er arbeitete in einem Lager als Verwalter und machte für gewöhnlich um vier Uhr Feierabend. Meistens war er dann um halb fünf in der Wohnung angelangt. Wenn dann Toby die Hausaufgaben noch nicht erledigt hatte, gab es als erstes einen Vortrag, dass Toby faul sei und der Schule nicht würdig, auf die ihn sein ach so großzügiger Stiefvater schickte. Zweitens gab er dann vor, Toby helfen zu wollen. Tatsache war aber, dass die Bildung des Mannes bei weitem nicht ausreichte, als dass er hätte verstehen können, was Toby in Naturwissenschaften und Mathematik lernte. Fremdsprachen beherrschte er ohnehin nicht. Also war die »Hilfe« nichts anderes als ärgerliche Zeitverschwendung, die den Aufwand für die Schularbeiten nur erhöhte.
Toby hatte die schriftlichen Arbeiten eben erledigt, da hörte er, wie die Wohnungstür geöffnet wurde. Der gnädige Herr des Hauses kehrte heim! Toby seufzte und beschloss, für Erdkunde in seinem Zimmer zu lernen. Dazu musste er nur im Lehrbuch nachlesen, was in den folgenden Seiten über Nordamerika stand.
»Ich bin zu Hause«, hörte er eine laute und etwas zu selbstbewusste Stimme rufen. Die Küchentür wurde geöffnet. Ein Mann von einem Meter neunzig Größe erschien im Türrahmen, mit deutlichem Bauchansatz und dunkelblonden, zurück gekämmten Haaren, die über der Stirn ziemlich dünn waren. Sein Stiefvater hatte irgendwo mal den Satz »Männer mit Stirnglatze sind Denker« gehört. Seitdem gab er diese Binsenweisheit immer wieder breit grinsend zum Besten.
»Mutter ist im Wohnzimmer«, brauchte Toby nur zu sagen, und der Mann drehte sich um. Da erschien jedoch seine Mutter im Flur, um ihren Mann zu begrüßen. Er küsste sie flüchtig, sie erwiderte den Kuss auf die gleiche Weise. Dann sah Toby, wie er ihr ungeniert an den Busen fasste. Seine Mutter schob die Hand weg und raunte dem Mann in ärgerlichem Ton ein paar Worte zu, die Toby nicht verstand. Er senkte rasch den Blick.
»Was gibt´s denn Gutes zum Abendessen?«, fragte Paul, der Stiefvater, lauter als notwendig.
»Von heute Mittag sind noch Nudeln und Soße übrig«, antwortete die Mutter.
»Sag mal, Nora, ist das alles, was du kochen kannst?«, fragte Paul mit einem Anflug von Verdrossenheit.
Nora Decker zog ob dieses Vorwurfs gleichfalls eine verärgerte Miene. »Ich kann nur so gut kochen, wie es die Haushaltskasse hergibt.«
Damit war das Thema beendet. Sobald es um die Finanzen ging, versuchte sein Stiefvater das Gespräch immer in eine andere Richtung zu lenken. Das kannte Toby nur zu gut. Er vermutete, dass seine Mutter Recht hatte, wenn sie glaubte, dass ihr Mann an einem falschen Ort das Geld mit vollen Händen ausgab. Er ließ sich schwer und wichtig am Küchentisch nieder. Im gleichen Moment raffte Toby seine Schulsachen zusammen und stand auf.
»Hausaufgaben fertig?«, wollte Paul wissen.
Toby nickte nur. Das schien dem Stiefvater zu knapp zu sein. Einen Moment lang überlegte er, welche Frage er nachschießen könnte. »Welche Klassenarbeiten hast du in letzter Zeit geschrieben?«, wollte er dann wissen.
»Mathe und Englisch«, antwortete Toby, der leider die Küche noch nicht hatte verlassen können.
»Welche Noten?«, bohrte Paul weiter nach.
»Mathe `ne drei«, sagte Toby, ohne den Mann anzusehen. »Englisch ist noch nicht zurück.«
Paul schüttelte den Kopf und sah dabei an die Zimmerdecke. Er schien in Stimmung für einen Vortrag zu sein. Vielleicht kam es ihm auch nur darauf an, vom Thema Haushaltsgeld und sonstige Finanzen abzulenken. »Heute hat bei uns ein Neuer im Lager angefangen. Ein Junge von achtzehn Jahren. Kein Abschlusszeugnis, nichts gelernt. Dabei ist der Kerl auch noch so doof wie Stroh. Nur stark ist er. Und eine große Klappe hat er. Der wird nicht lange bei uns bleiben, das hab ich gewusst, als ich den das erste Mal heute Morgen gesehen hab.«
Also wieder diese Tour! Toby verdrehte innerlich die Augen, traute sich aber nicht, die Küche zu verlassen, bevor sein Stiefvater fertig war.
»Überhaupt wird der es im Leben nicht weit bringen.« Paul gefiel sich offenbar in seinem Monolog. Er hörte sich immer gern reden. »Jedenfalls hat der heute schon einige dicke Fehler gemacht. Von Entschuldigung keine Spur, aber mit einem Kollegen, der schon jahrelang zuverlässig arbeitet, Krach anzufangen, das hat er geschafft.«
Toby vermutete, dass es sich bei diesem Kollegen um jemanden handelte, der vor seinem Stiefvater kroch und ab und zu mit ihm abends in die Kneipe ging.
»Eine Niete eben, dieser Kerl. Ich sehe schon kommen, dass du auch eines Tages Hilfsarbeiter wirst. So eine Niete wie der. In Mathe eine drei! Wenn du mal etwas erreichen willst, dann musst du besser werden. Erheblich besser!«
Nun schaltete sich die Mutter ein. »Eine drei in Mathematik ist gar nicht so schlecht, außerdem ist die Arbeit sowieso schlecht ausgefallen. Und wenn er mal einen Beruf erlernt, der mit Mathematik nichts zu tun hat, spielt die Note ohnehin keine Rolle.«
Aber Paul war noch nicht am Ende. »Und wie steht´s mit den Fremdsprachen?«
Toby kannte seinen Notenschnitt auswendig. »Englisch zwei plus, Französisch zwei minus.«
Achselzucken, dann ein großzügiges Abwinken. »Na ja, immerhin. Dann sieh zu, dass du später beruflich irgendetwas mit Sprachen anstellst.«
Das war´s. Toby war entlassen. Der Stiefvater kümmerte sich um sein Abendessen. Toby ging in sein Zimmer, das mit seinem Bett, einem Kleiderschrank, einem kleinen Sofa und einer Kommode fast ausgefüllt war. Alle Möbelstücke waren alt und abgenutzt. In der Mitte war noch so viel Platz, dass drei Menschen bequem hätten stehen können. Er ließ sich mit seinem Geographiebuch auf das Sofa plumpsen. Bevor er es aufschlug und zu lesen begann, war er einen Augenblick lang versucht, bereits jetzt durch die magische Tür zu treten, wie er es nannte. Aber nein, es war dafür noch zu früh. Er musste erst sicher sein, dass niemand in sein Zimmer kommen und ihn stören würde.
Der Spätnachmittag wurde zum Abend. Toby aß noch eine Schnitte Brot mit Wurst, dann gesellte er sich zu seinen Eltern ins Wohnzimmer, denn er wollte im dritten Programm den Tatort ansehen. Der war zwar eine Wiederholung, aber er mochte die Filme mit den Kommissaren Ballauf und Schenk von der Kölner Kripo. Zum Glück mochte auch Paul Kriminalfilme, sonst hätte er unter Umständen ein anderes Programm eingeschaltet. Tobys Wünsche wären dann einfach überhört worden. Wenn er seine Lieblingsfilme sehen wollte – Kung Fu-Filme mit Jackie Chan oder Bruce Lee – mussten auf den anderen Kanälen total langweilige Sachen laufen, sonst hatte er das Nachsehen.
Schließlich wurde es Zeit für die Bettruhe. Wieder in seinem kleinen Zimmer wartete Toby ungeduldig, bis in die Wohnung einigermaßen Stille eingekehrt war. Richtig still war es in diesem Haus allerdings erst spät nachts, manchmal auch nie. Aber schließlich näherte sich der rechte Zeitpunkt. Toby entspannte sich, konzentrierte sich dann, sammelte seine innere Kraft. Die Tür zu durchschreiten war nicht einfach, obwohl er es oft tat. Fast jede Nacht. Denn dann begann sein wirkliches Leben. Er schloss die Augen, öffnete dafür seinen inneren Blick.
Jetzt war es soweit!
Die Umrisse der magischen Tür schwebten plötzlich in der Dunkelheit, ihre Konturen waren aus Feuer, das auch über das Türblatt und den Rahmen leckte. Das war nun der Moment, da er jedes Mal seinen gesamten Mut zusammen nehmen musste und seine ganze Kraft. Mit dem Fuß stieß er das Türblatt auf, und als sie langsam und brennend aufschwang, sprang er durch den Rahmen der Tür in jene andere Welt, …
Zhaos Gegenwelt
… und während des Sprungs verwandelte er sich. Er war nicht länger Toby, nun war er Zhao. Zhao, der Kämpfer!
Endlich! Endlich war er zurück in seiner Welt. In der Welt, die für ihn das einzig lohnende Leben bereithielt. Er sah nicht zurück, er sah sich nur um. Es war dunkel. Es war immer dunkel in Zhaos Welt, weshalb das so war, wusste er nicht. Es spielte auch keine Rolle. Immerhin gab es genug Fackeln, Laternen, Lampions und gusseiserne Becken mit glühender Holzkohle, die das Gewirr der kleinen Straßen und Gassen beleuchteten und in ein ungewisses Zwielicht tauchten. Und dann war da ja auch noch das Lichts des Vollmondes. In Zhaos Welt war der Mond immer voll.
Dieses Gewirr aus Sträßchen, Gassen und Gässchen war bevölkert von einer unübersehbaren Menschenschar. Viele waren klein und zart gebaut, trugen dunkle Kittel und Hosen und runde Hüte aus Reisstroh. Andere waren in prächtige Gewänder aus Seide gehüllt und trugen schwarze Hüte, die aussahen wie Kästen oder Würfel. Die Armen gingen zu Fuß, die meisten Reichen ebenso, aber sie hatten eine Leibwache aus grimmig blickenden Söldnern um sich herum. Die ganz Reichen ließen sich in Sänften tragen, die von Kriegern umringt waren. Die trugen Rüstungen aus Bambus und Leder, lange und gebogene Schwerter, Lanzen und Pfeil und Bogen. Das waren die sichtbaren Waffen, aber Zhao wusste auch um die Existenz der unsichtbaren Waffen. Die waren gefährlicher. Und über diese Waffen verfügte auch er selbst.
Aber es gab auch exotischere Gestalten. Da waren die Wilden aus den Steppen des Nordens. Sie ritten auf ihren struppigen, kleinen Ponys durch die Stadt, in Kleidung aus Fell und Pelz gehüllt. Diese Leute schwitzen fast alle, denn ihre Kleidung war für diese Stadt des Südens viel zu warm. Und es gab die Seeleute, die mit ihren Schiffen den Hafen angelaufen hatten. Manche dieser Männer waren schwarz wie Ebenholz, gekleidet in buntes Tuch. Andere waren hellhäutig und blond oder rothaarig, trugen wollene Hosen und Westen aus Leder. All diese Menschen gingen durch die Gassen, auf der Suche nach Geschäftspartnern oder Partnern für die Weiterreise, auf der Suche nach Essen und Trinken, nach günstigen Einkäufen oder lohnenden Verkäufen, nach Vergnügungen.
Zhao ließ sich mit den Menschen durch die Stadt treiben. Die meisten Gebäude hatten weit überhängende Dächer, die außen leicht nach oben gebogen waren. Er ging an armseligen und elenden Hütten vorbei, an solide gebauten Geschäften, deren Inhaber ihre Waren kunstvoll auf den Veranden dekoriert hatten. Die Paläste der Reichen waren umsäumt von mächtigen Mauern, die sowohl Eindringlinge als auch die lästigen Blicke Neugieriger abhalten sollten. Restaurants lockten mit hell erleuchteten Räumen. Darin sah man Damen, die ihr schwarzes Haar kunstvoll nach oben frisiert trugen. Sie bedienten Menschen, die an niedrigen Tischen auf dem Boden saßen und köstliche Speisen verdrückten. Es gab aber auch üble Spelunken, in deren Inneres man kaum einen Blick werfen konnte. Daraus roch es nach billigem Alkohol und Rauch, der vermutlich von Opium oder anderen Drogen stammte. Zhao ging an dem einen oder anderen Bettler vorbei, für jeden hatte er eine kleine Münze.
Ein Händler sprach ihn an. »Werter Herr, habt doch die Güte und betrachtet meine Spiegel. Sie sind von erlesenster Qualität und doch nicht teuer. Aber seht selbst!« Der Mann hatte einen dünnen Schnurrbart, dessen Enden bis weit über das Kinn reichten. Er zeigte Zhao ein Grinsen voller Goldzähne. Zhao warf einen Blick auf den Spiegel aus poliertem Metall, den der Händler hoch hielt und betrachtete darin sich selbst. Er war groß, schlank und sportlich. Er hatte das markant gut geschnittene Gesicht eines jungen Kämpfers. Seine Kleidung war schlicht und tiefschwarz. Er sah gut aus. Und er war ein Held.
»Eure Spiegel sind wirklich prachtvoll«, antwortete Zhao höflich. »Aber egal, wie günstig sie sind, ich benötige keinen.« Und damit ging er weiter. Er hörte noch, dass der Händler ärgerlich vor sich hin grummelte, aber das kümmerte ihn nicht.
Es war Zeit, die anderen zu finden. Denn in dieser Welt hatte Zhao Freunde. Er traf sie jede Nacht, die er hier verbrachte, und gemeinsam erlebten sie Abenteuer. Wo mochten Weng und Lim sein?
Er bog in eine kleine Seitengasse ab, in der viele Gewürzhändler ihre Läden hatten. Die ausgefallensten Düfte wehten ihm hier um die Nase. Es roch nach Kräutern und Knoblauch, es roch sauer, süß und scharf. Er bemerkte Düfte, für die ihm keine Namen und keine Bezeichnungen einfielen. Jeder Händler rief ihm zu, er möge sein Geschäft betreten und zu ihm kommen, nur er habe die wirklichen guten Waren, die anderen böten nur billigen Schund feil. Während sich die Geschäftsleute so an Eigenlob und Schimpfkanonaden auf die Konkurrenz überboten, entdeckte Zhao seine Freunde. Der vierschrötige Weng, der ein langes, gerades Schwert am Gürtel trug, prüfte den Knoblauch eines Händlers. Der Händler hatte gerade mit einem Messerchen eine Zehe abgeschält und hielt sie Weng unterwürfig hin, dabei grinste er Beifall erheischend. Der schmale und drahtige Lim stand schmunzelnd daneben und sah zu, wie sein kompakt gebauter Freund die Knoblauchzehe entgegen nahm und hinein biss.
»Nun sagt selbst, edler Herr«, sagte der Händler, »das ist der beste und frischeste Knoblauch, den Ihr jemals gekostet habt, stimmt es nicht? Er ist zart und dabei doch so aromatisch.«
Weng kaute mit Genuss, dann fragte er: »Wie viel willst du für drei Knollen haben?«
Der Händler hob drei Finger, behielt jedoch seine unterwürfige Haltung bei. »Nur drei Dong, edler Herr!«
Weng machte ein zufriedenes Gesicht und holte einige Münzen aus einer kleinen Tasche, die an seinem Gürtel hing.
»Macht also im Ganzen neun Dong, edler Herr!«, sagte der Händler, und sein Grinsen wurde noch breiter. »Ein Preis, der wirklich günstig ist.«
Lim begann schallend zu lachen, während Weng erbost die Augenbrauen in die Höhe zog. »Was sagst du da? Ich habe nach dem Preis für drei Knollen zusammen gefragt, da sind drei Dong in Ordnung. Aber das Stück drei Dong, das ist Wucher!«
Die Händler ringsum beeilten sich, Wengs Meinung lautstark zu teilen, überschütteten den Geschäftsmann, bei dessen Laden Zhaos Freunde standen, mit Flüchen und forderten Weng auf, zu ihnen zu kommen.
»Aber, Herr!«, jammerte der Händler, »bei dieser Qualität ist der Preis wahrlich nicht zu hoch. Ich selbst habe mehr oder weniger diesen Preis an den Bauern zahlen müssen, der ihn mir lieferte. Herr, ich kann ihn Euch nicht billiger verkaufen, Ihr ruiniert einen armen Mann.«
»Wenn du deinen Knoblauch nicht günstiger verkaufen kannst, dann behalte ihn.« Entschlossen ging Weng, da er gerade Zhao entdeckt hatte, an dem Händler vorbei. Lim folgte ihm. Beide Männer zeigten ein freundliches Lächeln, als sie auf ihren Freund zugingen. Sie begrüßten sich mit einer Verbeugung, dann schlugen sie sich leicht auf die Schultern.
»Du stinkst!«, sagte Zhao breit grinsend zu Weng. Der zeigte sich durch das Kompliment des Freundes nicht im Geringsten beeindruckt.
»Ach, weißt du«, sagte Weng, »ich habe gehört, dass Knoblauch schlank macht. Wenn ich ein wenig danach rieche, ist mir das egal.«
Die drei lachten herzlich. Dann fragte Zhao: »Was machen wir heute Abend?«
Lim antwortete leise: »Mir wurde zugetragen, dass heute fünf Fremde in der Stadt sind, die nach Ärger aussehen. Ich will ja nicht behaupten, dass diese Straßen und Gassen jemals sicher waren, aber diese fünf Gestalten müssen extrem nach Wut und Zorn riechen.«
»So, schau mal einer an!«, murmelte Zhao. »Und wo sollen sich die befinden?«
»Sie wurden zuletzt im Hafenviertel gesehen«, sagte Lim.
»Dann machen wir uns doch auf den Weg dorthin«, schlug Zhao unternehmungslustig vor.
Er wusste genau, woher Lim seine Informationen bekam. In dieser Stadt gab es viele Bettler, die alle in einer Triade organisiert waren. Sie hielten nicht nur die Hand auf, sondern auch Augen und Ohren. Und ein Mann, der ihnen als spendabel bekannt war, konnte sich darauf verlassen, von diesen Bettlern alles berichtet zu bekommen, was sich in der Stadt zutrug. Die drei Freunde standen mit den Bettlern auf gutem Fuß, da sie immer etwas spendeten, aber vor allem diese Männer nicht herablassend, sondern freundlich behandelten.
Sie näherten sich einer etwas breiteren Straße, die genau so dicht bevölkert war wie die anderen. Plötzlich entstand weiter vor ihnen ein großer Trubel. Die Menschen liefen vor etwas davon oder zur Seite der Straße, suchten Schutz in Hauseingängen, Kneipen und Geschäften. Über das panische Geschrei der flüchtenden Leute hörten sie eine laute und raue Männerstimme rufen:
»Aus dem Weg! Platz für Mo Deng, den edelsten Herrn der Stadt! Weg da! Platz für Mo Deng!«
In Sekunden war die Straße leer bis auf ein Dutzend Bewaffnete, die vor einer Sänfte marschierten. Der vorderste der Männer ließ eine Peitsche knallen. Er sah Furcht erregend aus: Ein kahl rasierter Schädel bis auf den Punkt genau in der Mitte. Dort wuchs Haar, das er zu einem langen Zopf gedreht hatte, der seitlich am Kopf herunter hing. Ein Schnurrbart, dessen Enden lang und geflochten waren und fast bis zur Brust hingen. Und er war über und über mit Muskeln bepackt. Kein Wunder, dass die unbewaffneten Bürger vor diesem Unhold Reißaus genommen hatten. Hinter der prachtvollen Sänfte marschierten weitere Söldner.
Der Mann mit der Peitsche sah nun auf die drei Freunde. Grimmig ließ er erneut das Leder durch die Luft zischen. »Nun, wie steht es mit euch? Wollt nicht auch ihr die Straße räumen für Mo Deng, den Fürsten?«
Weng murmelte leise: »Mo Deng, der Kopf der Triade der Opiumschmuggler! Der heuert immer die grausamsten Söldner an!«
Lim antwortete ebenso leise: »Keine Bange, die können wir schaffen. Die Frage ist nur, ob wir das heute tun wollen. Eigentlich haben wir anderes vor.«
Die Krieger, allen voran der mit der Peitsche, gingen weiter die Straße entlang. Sie warfen Zhao, Weng und Lim drohende Blicke zu. Das Leder der Peitsche zuckte bösartig durch die Luft. Dann erkannten die Söldner den ganz in Schwarz Gekleideten. Der mit der Peitsche zögerte kurz, sein Schritt wurde langsamer. Er ging wieder schneller, während die gefährliche Waffe in seiner Hand ein Eigenleben zu führen schien. Wie eine bösartige Schlange zog sie ihre blitzartige Bahn im Raum vor dem Söldner. Peitsche und Krieger näherten sich den Freunden immer mehr. Bald musste die Waffe treffen und ihnen die Haut von den Knochen reißen.
Da machte Zhao blitzartig einen Satz nach vorn und packte das Ende der Peitsche, als sie gerade zurückgezogen wurde. Ein kräftiger und geschickter Zug und Ruck, und der Krieger, der den Griff hielt, landete im Staub der Straße. Vor Wut brüllend erhob er sich, legte die Hand an den Knauf seines Schwertes und wollte es gerade blank ziehen. Da ertönte ein kurzer, scharfer Ruf aus der Sänfte. Grollend und die drei Freunde mit Blicken durchbohrend ging der Krieger zur Sänfte. Dort angekommen verbeugte er sich. Leise gemurmelte Worte, die die drei Freunde auf die Distanz nicht verstehen konnten, und der grimmige Krieger verbeugte sich das eine ums andere Mal. »Ja, Herr! Ja, Herr!«, sagte er immer wieder gehorsam. Schließlich verbeugte er sich ein letztes Mal und ging wieder zur Spitze des Zuges. Zitternd vor Wut, aber auch vor Angst, rief er: »Mein Herr hat bestimmt, dass die Straße für ihn und euch breit genug ist. Wir gehen einfach aneinander vorbei!«
Damit setzte sich der Zug der Bewaffneten mit der Sänfte in der Mitte wieder in Bewegung, aber sie strebten nun dem rechten Rand der Straße zu und ließen die andere Hälfte frei. Langsam gingen Zhao, Lim und Weng auf der freien Seite weiter, doch behielten sie dabei die Söldner Mo Dengs im Blick. Die starrten feindselig zurück, aber in den Augen und Mienen lag auch Respekt vor den dreien. Die Sänfte war geschlossen, nur der, der darin saß, konnte durch schmale Schlitze hinaus sehen. Sie wussten genau, dass sie von Mo Deng beobachtet wurden. Als sie aneinander vorbei waren blieben die Freunde stehen und sahen dem Zug hinterher.
»Es ist doch immer wieder schön, festzustellen, dass wir bekannt sind«, meinte Zhao zufrieden.
»So ist es«, bestätigte Weng. »Unser Ruf hat uns jetzt eine zeitraubende Rauferei erspart.«
Kaum waren Mo Deng und seine Krieger verschwunden, da füllte sich die Straße wieder mit Menschen, die aus den umliegenden Häusern kamen, gerade so, als würde Wasser aus unzähligen Schleusen laufen. Die Umgebung war blitzschnell wieder belebt. Unter dem Gerede, Gefluche, Lachen und Geschrei der Leute zogen die drei weiter.
Einige Straßenecken weiter begann das Hafenviertel. Von weitem war zwischen den Häusern die dunkel glitzernde Fläche des Meeres zu sehen. Im Licht des Vollmondes, der über der Bucht hing, schaukelten Dschunken und Sampans leicht auf und ab. Aber auch einige fremdländische Schiffe lagen vor Anker. Einige kleine Ruderboote waren zwischen dem Ufer und den Wasserfahrzeugen unterwegs. Seeleute gingen an Land oder kehrten auf ihre Schiffe zurück.
Hier am Hafen war die Mehrzahl der Gasthäuser von schlechter Qualität. Es gab zwar einige gute Restaurants, aber es überwogen die üblen Spelunken. Auch hier waren die drei Freunde bekannt. Kaum hatten sie das Viertel betreten, da huschten bereits einige Gestalten durch die Schatten, um in den umliegenden Häusern zu melden, dass Zhao, Lim und Weng da wären. Wer die drei kannte und ein schlechtes Gewissen hatte, verdrückte sich nun oder sah sich zumindest vor, ihnen nicht zu begegnen.
»Edle Herren, bitte!«, hörten sie eine winselnde Stimme aus der Dunkelheit. »Eine kleine Münze für einen armen Mann, der vor seinem nahen Tod noch einmal seine hungernden Kinder satt sehen will! Bitte, Ihr Herren, eine kleine Münze nur!«
Zhao warf einen Blick auf Lim, der zu schmunzeln begann. Er näherte sich der kaum zu erkennenden Gestalt, beugte sich ihr kurz zu, drückte einen kleinen Gegenstand der Gestalt in die Hand. Dann kam er zurück ins Licht. Aus dem Schatten klang es: »O, ich danke Euch, edler Herr, Eure Güte wird Euch durch die Götter vergolten werden.«
»Die Bande ist in der Kneipe Zur abgewrackten Dschunke«, sagte Lim leise. »Und wir müssen uns vorsehen. Sie haben eine Geisel.«
Zhao spürte, wie ihn bei diesen Worten eine leichte Unruhe überkam. Wen konnten sie als Geisel genommen haben? Und wie brutal waren sie?
Schattenhafte Gestalten huschten beim Näherkommen der Freunde in Winkel von absoluter Finsternis, wo sie nicht mehr zu sehen waren. Zhao spannte alle Sinne an, denn es war nicht auszuschließen, dass ihnen aus dieser Finsternis Gefahr drohte. Irgendeine feige, aber tödliche Waffe konnte plötzlich auf sie zufliegen: Der vergiftete Pfeil aus einem Blasrohr, ein Wurfstern, dessen Zacken nicht weniger gefährlich waren, ein Wurfmesser … Zhao wusste, dass auch seine Freunde wachsam waren. Das war in dieser Stadt die einzige Möglichkeit zum Überleben.