Lied vom stillen Sommernachtstraum

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Nach einer weiteren Stunde auf der Landstraße im flachen, öden Binnenland mache ich auf einem Autorastplatz halt. Noch 20 Kilometer abseits der Küste bis nach Rochefort zu laufen ist ein frustrierender Gedanke. Ich setze mich an einen Tisch und picknicke. Außer mir ist noch ein älteres Pärchen aus den Niederlanden mit ihrem Wohnwagen da. Wir kommen ins Gespräch, übers Reisen kann man aber auch immer und überall reden. Die Beiden bieten mir an, mich bis nach Rochefort mitzunehmen. Ich nehme dankend an. Während der Fahrt stellt sich auch heraus, dass das eine gute Entscheidung war. Viel Verkehr auf wieder einmal engsten Straßen. Als wir an der Zitadelle von Brouage vorbeifahren, ärgere ich mich kurz nicht gelaufen zu sein. Hier hätte es vielleicht einen einzigartigen Schlafplatz gegeben. Andererseits ist die Vorfreude groß, mal wieder eine Nacht in einer Stadt zu verbringen. Neben der alten Schwebefähre geht es auf einem Viadukt über den Fluss Charente. Schon sind wir am Ortsrand von Rochefort. Meine niederländischen Chauffeure halten Ausschau nach einem Campingplatz, finden nichts und lassen mich schließlich bei einem Gewerbegebiet aussteigen. Ich danke und großmütig sage ich, dass man sich dann in einigen Wochen vielleicht in Alkmaar, ihrer Heimatstadt, wiedersieht. Sie lachen und düsen ab. Ich schnappe meinen Rucksack und muss mich erst einmal orientieren. Ich könnte auf der Straße weiter nach La Rochelle laufen, aber 40 Kilometer auf der einzigen und damit vielbefahrenen Straße sind wenig verlockend. Ich beschließe erst einmal ins Zentrum von Rochefort hineinzulaufen. Es ist windig und trotz der heißen Temperaturen fröstelt es mich. Ich fühle mich ziemlich schlapp. An einem Bahnhof ankommend, noch ehe ich wirklich das Stadtzentrum erreicht habe, schaue ich etwas mechanisch nach den Fahrpreisen für ein Ticket nach La Rochelle. Vier Euro empfinde ich als das Schnäppchen schlechthin. Ich erwache aus meiner Trägheit, habe mir sofort in den Kopf gesetzt, den anstrengenden Asphaltmarsch nach La Rochelle sausen zu lassen, um dafür schon heute Abend in La Rochelle zu sein. Vor einigen Jahren wäre ich dort schon mal fast gelandet, als ich mir einen Rundflug mit einer Billigflieger-Airline durch Europa zusammengebastelt hatte. Aber anstatt zwei Monate mehrere europäische Länder zu besuchen, fand ich alles Glück der Welt auf einer einzigen Insel: Irland. Dort hätte ich bleiben sollen. Warum ich damals geglaubt habe, dass ich unter dem Rock einer Frau noch mehr Glück finden könnte, erschließt sich mir heute nicht mehr. Ticket am Automaten gekauft, zehn Minuten später sitze ich auf meinem Platz, meine erste Zugfahrt in Frankreich.
Nach einer halben Stunde erreichen wir den Bahnhof von La Rochelle. Raus, ein Foto vom hübschen Bahnhofsgebäude gemacht, weiter Richtung Stadtzentrum marschiert. Der Alte Hafen (Vieux Port) und die umliegende Altstadt haben es mir angetan. Vor allem das Hafenportal mit dem Tour St.-Nicolas auf der einen und dem Tour de la Chaîne (Kettenturm) auf der anderen Seite. Die Hafeneinfahrt zwischen beiden Türmen ist keine 50 Meter breit. Auf keiner Postkarte von La Rochelle fehlt ein Bild dieses Hafenportals, dessen Anblick sich unwiderruflich ins Gedächtnis einbrennt. Nur selten gibt es Städte, die einem durchgängig positiv begegnen. La Rochelle und ich haben beide einen guten Tag erwischt. Ganz sicher hätte es auch ganz anders kommen können. Die Stadt ist voll, was mich heute aber nicht weiter stört. Auch die vielen Touriboote sind zum Sonntag gut gefüllt und pausenlos unterwegs. Marktstände sind aufgebaut, die Nachfrage scheint groß, auch die Café-Freisitze sind ausnahmslos gut gefüllt. Kinder fahren auf einem Karussell. Viele Kirchtürme sind zu sehen, die Läden in der Altstadt, mit den vielen Arkadengängen, haben geschlossen. Ich laufe durch den langgezogenen Parc Charruyer, der einen großen Teil der Altstadt umschließt und der Stadt zusätzlich Charme verleiht. Wenn man den Park von Nord nach Süd durchläuft, kommt man direkt zum kleinen Strand von La Rochelle. Es ist bereits halb acht, einige baden sogar, viele Familien und Jugendgruppen sitzen hier oder gehen spazieren. Ich setze mich auf eine Bank, rauche ein Che, überlege wo ich pennen könnte, meine Suche hat bisher nichts ergeben. Ich laufe am Tour de la Lanterne (Laternenturm) und der Wehrmauer vorbei zum nahegelegenen, bereits liebgewonnenen Hafenportal. Setze mich auf eine Bank bei einem Kriegerdenkmal und schreibe eine Postkarte an Stefanie, die erste in Frankreich. Mit Musik in den Ohren breche ich anschließend zum Abendspaziergang auf. Die Sonne geht über der Stadt unter, ich stehe so, dass ich das Hafenportal mit seinen Türmen und der dahinter untergehenden Sonne knipsen kann. Schöne Fotos. Ich bin berauscht, setze mich auf eine Bank, ziehe mir die Kapuze über den Schädel und genieße den Anblick der Abendröte. Es sind schöne, unvergessliche Stunden in La Rochelle. Auf der anderen Seite der schmalen Bucht laufe ich einen Spazierweg entlang, blicke immer wieder über das Wasser zur Altstadt mit seinen drei Türmen. Lichter gehen an, die Nacht ist da, auch das ist ein schöner Anblick.
Zurück am Vieux Port laufe ich an den Marktbuden vorbei, ohne irgendwo zu stoppen, weil ich kein Geld habe und noch wichtiger, weil mich die Leute erdrücken. Am letzten Verkaufsstand, in Richtung Hafenausfahrt, blickt der Verkäufer auf meinen Rucksack und spricht mich an. Er ist neugierig, wo meine Reise hingeht. Wir schwatzen kurz und dann zeigt er mir, was er und seine Frau verkaufen. Dabei handelt es sich um Schmuck (Halsketten, Armbänder), den vor allem sie herstellt. Sie haben sich für drei Tage den Stand gemietet, teuer, aber der Verkauf ist dank der vielen Touristen gut. Sie kommen aus den Pyrenäen. Sie spricht kein Englisch, ich versuche es auf Französisch und bin schon dankbar, wenn dabei überhaupt einmal etwas Verständliches aus meinem Mund kommt. Gegen Mitternacht werden die Zelte um die Verkaufsstände geschlossen, wenn ich möchte, kann ich die Nacht in ihrem Zelt verbringen. Sie räumen nachher alles zusammen und kommen am nächsten Morgen wieder. Ab und an kommt ein Sicherheitsmann vorbei, aber dieser könnte mich im Inneren des Zeltes nicht sehen. Falls er mich doch bemerkt, soll ich aber nicht sagen, dass die Beiden es mir erlaubt hätten, denn dann würden sie Ärger bekommen. Alles klar, ich danke.
Der Schlafplatz erweist sich als nicht die beste Wahl. Die Laternen bleiben die ganze Nacht über an, es ist recht hell und selbst drei Uhr ist noch Radau, vor allem Männer grölen auf dem schmalen Weg neben dem Zelt herum. Einer pisst gegen die Plane, der Gestank macht sich im ganzen Zelt breit, mir wird übel – die Nächte in der Zivilisation bringen auch den Gestank der Zivilisation mit sich. Ich sollte nicht mehr mitten in Städten pennen. Im ersten Tageslicht habe ich genug und ziehe weiter. Das ewig selbe Bild eines Stadtzentrums am frühen Morgen spielt sich vor meinen Augen ab, keine Touristen mehr, nur die Reinigungskräfte sind unterwegs, ansonsten Totenstille, wie angenehm. Der Gang raus aus La Rochelle ist wenig erfreulich, im Gegenteil, im Zickzack geht es durch Industriegebiet. Ich habe schon zehn Kilometer in den Beinen, als ich noch immer in La Rochelle bin und an der drei Kilometer langen Brücke zur Île de Ré stehe. Ein Ausflug auf die Insel bleibt aus, ich bin nicht gut drauf, will einfach nur vorankommen. Außerdem müsste ich den gleichen Weg wieder zurück, was ich ja beim Tode nicht ausstehen kann. Die Fähre zurück zum Festland – was eine schöne Abkürzung wäre – kann ich mir nicht leisten. Statt der Abkürzung muss ich um die Bucht l'Aguillon laufen, eine frustrierende Angelegenheit, denn die Bucht führt gerade kein Wasser, es ist warm und das Laufen auf dem Fahrradweg eine monotone Angelegenheit. Auch die Aussichtspunkte über das Naturreservat bringen keine Freude, lediglich kurze Verschnaufpausen. Ich schalte Musik ein, versuche mich abzulenken – wie so oft folgt einem glücklichen Tag ein Tag düsterer Melancholie. Ein paar Radler sind unterwegs, die meisten sind augenscheinlich Urlauber, so weiß wie sie sind. Um über den Fluss Sèvre Niortaise zu kommen, geht es einige Kilometer landeinwärts, der zweite Umweg heute. Nach der Mündung des Sèvre Niortaise macht das französische Festland einen großen Bogen zum Atlantik hin; woraus ein dritter Umweg resultiert, von zwei Tagesmärschen, im Vergleich zum direkten Weg nach Nantes. Aber weil ich am Meer bleiben möchte, nehme ich es in Kauf. In der Mitte der Brücke über den Sèvre Niortaise beginnt Département Nummer fünf meiner Frankreich-Wanderung: Vendée. Wie die anderen Départements zuvor noch nie gehört. In Vendée stehen 200 Kilometer Atlantikküste bevor, ansonsten scheint es hier nichts Besonderes zu geben, zumindest keine mir bekannten Städte. Ein Blick auf die Karte verrät auch nicht gerade viele Ortschaften in dieser Region. Einsame Tage stehen bevor, vorerst auch im Landesinneren, umgeben von Feldern und Kanälen, ohne Aussicht aufs Meer. Ich treffe auf ein älteres Pärchen, ausgerüstet mit Wanderstöcken, wir laufen ein paar Kilometer zusammen, sehr langsam. Sie verstehen kein Englisch, was die Unterhaltung recht lustig werden lässt, dank meines ungeheuren Talents, mich mit Mimik und Gestik zu verständigen. Bei einem Bauernhof verabschieden wir uns voneinander, sie geben mir noch Tipps zur Route und kehren um. Ich laufe gleich weiter. Der ohnehin schon frustrierende Tag bekommt seine Pointe, als ich feststellen darf, dass der Fahrradweg permanent im Zickzack verläuft, was locker das Doppelte an Strecke mit sich bringt und somit auch die Aussicht, am Abend zurück am Meer zu sein, aussichtslos werden lässt. An sich ist es gar nicht so übel zum Wandern, also die einsame Gegend, keine Straßen, der ausgeschilderte Radweg (gleichzeitig auch Fernwanderweg), Entfernungsangaben zum nächsten Ort, die vielen Vögel, aber irgendwie kann ich mich am ersten Tag noch nicht mit Vendée anfreunden. Ich werde nun einige Tage länger brauchen, um in Nantes die Loire zu erreichen. Hätte ich das Ziel nicht, spätestens bis Mitte November am Nordkap zu sein (sein zu müssen), wäre es nicht weiter beunruhigend, aber so … ich muss halt aufpassen, dass der Rückstand nie zu groß wird, ich darf nie in die Situation kommen, dass ich mein Ziel zu Fuß nicht mehr erreichen kann.
Nach 52 Kilometern an diesem Tag – und somit Einstellung der bisherigen Bestmarke – erfülle ich mir einen Wunsch, nämlich einmal mitten in einem Getreidefeld zu pennen. Das erweist sich schnell als Fehler, denn ich werde mitten in einer Mückenoase nächtigen. Aber der Erfahrung wegen! Die Sonne geht halb zehn hinter einem anderen Feld unter, weit und breit kein Haus zu sehen, Abendröte. Es wäre so schön romantisch, wenn nicht diese Biester wären, dieses pausenlose tzzzzzzzzzzzz macht mich ganz kirre, passt aber auch irgendwie zum ganzen Tag. Ich stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren, das hilft. Meinen Körper mumifiziere ich mit meinem Schlafsack, das hilft auch. Da ich aber nichts mehr höre, befürchte ich am Morgen von einem Trecker überrascht zu werden, spätestens dann, wenn er über mich rollt.
Ich schlafe jedoch gut, und mitten in der Nacht ist auch das tzzz verklungen, dafür schlägt nun die Nässe zu, ohne dass es regnet. Aber der Schlafsack hält und so war die Nacht doch viel besser, als zuerst befürchtet. Zum Sonnenaufgang packe ich meine Sachen, die Mücken schlafen noch, ein Trecker ist nicht zu sehen, und wenig später bin ich auch schon wieder auf dem Radweg unterwegs. Kurz darauf bin ich zurück am Meer, am Horizont macht sich die Île de Ré breit. In L'Aiguillon-sur-Mer habe ich Glück, finde einen Super U, wo ich meine leeren Nahrungsvorräte auffüllen kann. Nach dem Großeinkauf bleiben mir noch genau 18 Euro, davon kann man leben, zumindest in nächster Zeit. Im Zickzackkurs geht es weiter, Fahrradweg neben der Düne und im nächsten Moment wieder zwei Kilometer davon entfernt, bis ich genug davon habe und direkt am Ufer laufe, wo ich mich ohnehin am wohlsten fühle, trotz der zusätzlichen Anstrengung, die beim Laufen auf Sand vonnöten ist. Ich erreiche La Tranche-sur-Mer und ärgere mich, dass ich auch hier hätte einkaufen können, stattdessen so die letzten Kilometer mit unnötigem zusätzlichen Gewicht gelaufen bin, und dann noch bei dieser Hitze. Ich trinke fünf Liter an diesem Tag, der ereignisarm zu Ende geht. Drei Kilometer vor Saint-Vincent-sur-Jard lege ich mich am Waldrand hin, blicke aufs Meer und döse ein.
Immer weiter am Strand, stehe ich schließlich vor einer Sandwüste, durch die sich mäanderförmig ein Fluss schlängelt. Auf meiner Touristen-Karte ist davon nichts zu sehen, auch nicht zuvor auf den regionalen Karten am Wegesrand. Ich ziehe meine Schuhe aus, ziehe alles aus, bis auf die Boxershorts, laufe langsam, Fuß vor Fuß durch das Wasser, habe zwölf der siebzehn Meter geschafft und auf einmal fällt die Flussrinne ins Bodenlose. Wie zum blanken Hohn steht auf der anderen Uferseite ein Angler, stoisch, bemerkt mich vielleicht nicht einmal, reicht mir auch nicht die Leine, an der ich mich durch die Strömung ziehen könnte. Während ich so verloren im Wasser stehe, kommt auf einmal völlig überraschend ein Schauer runter … das muss ein Bild für die Götter sein: ein Bild eines Idioten, der durch den Fluss waten möchte, wo jeder andere sofort gesehen hätte, dass es ein unmögliches Unterfangen ist. Ich gehe zurück, genauso langsam wie zuvor, stehe wieder auf der Sandbank, der Regen hört schlagartig auf. Ich fühle mich veräppelt. Aber ans Aufgeben denke ich nicht. Laufe einige Meter flussaufwärts, suche eine andere Gelegenheit, versuche es ein zweites Mal und muss wieder kurz nach der Flussmitte mein Vorhaben abbrechen. Ich fühle mich schließlich dann doch beobachtet, zumal auf der anderen Uferseite eine Familie picknickt. Ich laufe auf Sand noch weiter am Flussufer lang und nach all den Biegungen weiß ich irgendwann gar nicht mehr wo ich bin. Die Sandbank findet ein Ende, ich laufe oberhalb des Flusses am Waldrand weiter, mitten durchs Gebüsch, aber es gibt einfach keinen Weg raus, eine Brücke ist kilometerweit nicht zu sehen, zu allem Überfluss spaltet sich der Fluss auch noch in zwei mäanderförmige Flüsse auf und schließlich versperrt mir ein Zaun den Weg, Privatgelände. Frustriert setze ich mich ans Flussufer, vertilge eine Packung Kekse, versuche mich durch Rauchen zu beruhigen und muss schließlich konsterniert einsehen, dass ich den Weg ganz genauso wieder zurückgehen muss, wie ich gekommen bin. Damit ich es mir nicht anders überlege, lässt der weitestgehend blaue Himmel noch einmal für einen kurzen Moment seine Schleusen öffnen … „ist ja gut“, schimpfe ich und begebe mich auf den Rückweg; bedeutet erst einmal fünf Kilometer zurück, um dann den regulären Weg durchs Landesinnere (fünfzehn Kilometer) zu laufen: Um also auf die andere Uferseite zu gelangen, stehen zwanzig Kilometer Wegstrecke an, wo mir hier gerade nur fünf bekloppte Meter fehlen, um den Fluss zu überqueren. Ich komme mir vor wie in der tiefsten Wildnis. Und genauso akzeptiere ich schließlich auch die Bestimmungen der Natur. Trotzdem bin ich froh, als ich zurück in der Zivilisation bin, genauer: im Ort Talmont-Saint-Hilaire. Eine reizende kleine Stadt, mit einer Burg und ansehnlichen Kirche. Ich frage mich, warum ich nicht gleich diesen Weg eingeschlagen habe. Ein Plakat erinnert mich daran, was ich in diesem Jahr nicht haben werde: die Spiele eines großen Fußballturniers (in dem Fall die EM) auf meiner Couch zu schauen, mit Bier, viel Bier, Chips, vielen Chips, und der Ruhe, die ein Mann beim Fußballschauen braucht. Nein, das wird es in diesem Jahr nicht geben. Für einen Moment bekomme ich Heimweh, denke mir schließlich aber, dass jeder Fußball schauen kann; durch Europa zu laufen gelingt nicht so vielen Leuten, und denen es gelingt, gelingt es nicht allzu oft.
In Bourgenay, mit Jachthafen, kann ich endlich wieder am Meer weiter, in zwei Kilometer Entfernung sehe ich den Fluss, der mir pro Meter vier Kilometer, pro Sekunde eine Stunde abgeknöpft hat. Sein Name: Le Payré. Verurteilt ihn! Diesen Schuft! Wütend wegen der verlorenen Zeit ziehe ich voll durch, neben dem Radweg verläuft nun eine Département-Straße. Nach zwei Stunden komme ich in Les Sables-d’Olonne an … im Vergleich zu den anderen Orten seit La Rochelle eine gefühlte Großstadt, eine Großstadt mit 14.000 Einwohnern. Auf einer Bank neben dem kilometerlangen Stadtstrand gönne ich mir endlich mal wieder ein Bierchen. Es gibt nichts Besseres nach einem anstrengenden Tag! Danach geht es zum Hafen (Sport und Industrie), was einige Zeit dauert, um diesen zu umlaufen. Die Abenddämmerung setzt ein und ich laufe und laufe, nehme mir keine Zeit für die Stadt, noch immer auf Schadensbegrenzung aus. Außerdem will ich außerhalb des Ortes übernachten, ja nicht wieder eine halbe Nacht lang den Geruch von Pisse inhalieren! 22 Uhr bin ich bereits am Ortsrand, die Laternen bringen genügend Licht, laufe weitere vier Kilometer zum Strand La Paracou … es tut gut, endlich mal wieder nach Anbruch der Nacht zu laufen. Ich bin voller Adrenalin, meine Beine sind in einer herausragenden Form. Die Belohnung ist eine neue Bestmarke (53 Kilometer) und ein toller Schlafplatz. Windgeschützt liege ich in einer Senke auf der Düne, umgeben von Gebüsch und mit Stroh unter der Matte. Perfekter Blick auf den Atlantik und sogar das Licht des Leuchtturms auf der 30 Kilometer entfernten Île d’Yeu ist zu sehen, dazu Halbmond und viele Sterne am Himmel. Sollte es doch regnen, könnte ich in den kleinen, offenen Sanitärtrakt nur zehn Meter hinter mir. Dank des Grünzeugs um mich herum kann man mich nicht einmal sehen, aber hier scheint jetzt sowieso niemand mehr vorbeizukommen. Ich habe mir mal die Mühe gemacht, meine Kalorienzunahme zu überprüfen … am Tagesende: 6.000 kcal. Da verwundert es nicht, dass mein Bauch einfach nicht flacher wird, im Gegenteil. Gut schlafen kann man aber auch mit einem runden Bäuchlein.
Der Schlafplatz ist so bequem, dass ich erst halb acht aus den „Federn“ komme. Ich gehe aufs Klo und komme mir richtig vornehm vor, ich wasch mir sogar die Hände. Die 18. Wanderwoche kann beginnen, mit meiner bisherigen Laufleistung kann ich zufrieden sein. Ich hätte es selbst nicht für möglich gehalten, dass ich mal an 120 Tagen hintereinander im Schnitt 36 Kilometer laufen werde – was man nicht alles imstande ist zu leisten! Faszinierend. Es geht in den küstennahen Wald, der Radweg führt mitten durch, ehe ich zur Mittagszeit Bretignolles-sur-Mer erreiche, und nach einem kurzen Snack bin ich auch schon auf dem Weg nach Saint-Gilles-Croix-de-Vie. Die letzten Kilometer geht es dabei neben dem Fluss Jaunay entlang; dieser verläuft für fünf Kilometer parallel zur nahen Küstenlinie, bis er im Stadtzentrum in die Vie fließt, ehe das Wasser beider Flüsse wenig später den Atlantik erreicht. Das Stadtpanorama macht nicht zuletzt deswegen ordentlich etwas her. Für eine Stunde spaziere ich durch die Straßen, bin als Einziger in der Kirche Saint-Gilles, trage mich als „Lars Nimmersatt“ ins Gästebuch ein, ehe ich es mir auf dem Sockel des Leuchtturms bequem mache und ein wenig verschnaufe. Ich esse Kekse, obwohl ich keinen Hunger habe; ich tue es damit mir nicht langweilig wird. Das ist furchtbar – wann habe ich aufgehört mir selbst zu genügen? Reicht es nicht, an einem schönen Ort zu sein? Muss man denn immer etwas machen? Essen, trinken, rauchen … werde ich mir selbst gegenüber unausstehlich, wenn ich nichts davon bei mir habe? Ertrage ich mich selbst nicht? Von was versuche ich mich abzulenken? Wieso kann ich nicht mehr den Moment genießen? Nun, ich will nicht zu hart mit mir ins Gericht gehen, aber hin und wieder gibt es Auffälligkeiten, die ich an mir entdecke und die mir einfach nicht gefallen.
Auf Sand geht es weiter, bis ich die letzten Häuser passiert habe und nur zweihundert Meter weiter an einem Bunker Halt mache. Kein Eingang, dafür aber ein guter Windschutz. Eine noch frische Rose liegt auf dem Boden, ich hebe sie auf und stecke sie in den Sand neben meinem Nachtquartier und muss daran denken, dass ich ihr kein einziges Mal Blumen geschenkt habe. Eine Frau, die nie Blumen geschenkt bekommt, sucht sich irgendwann ihren Rosenkavalier. Ich habe Verständnis. Es ist meine letzte Nacht am Atlantik. Ich vermisse das Meer jetzt schon. Wahrscheinlich werde ich es mehr vermissen als sie, vielleicht ist ja das Meer die Liebe meines Lebens. Solang wie man sich nicht mitten drauf, sondern nur an ihrer Seite aufhält, kommt man gut mit ihr, der See, aus. Vielleicht hätte ich es in meinen vorangegangenen Beziehungen genauso halten sollen. Denn alles Aufsteigen läuft nicht ohne ein Bezwingenwollen ab. Das verbirgt immer seine Gefahren: auf dem Meer, bei Frauen, auf dem Weg zum Berggipfel. Mitunter kann es tödlich enden, zuerst muss dabei immer der Verstand dran glauben, nun ja … Ich mache es mir bequem, schau an der roten Rose vorbei zum Atlantik und versuche die vorerst letzte Nacht am Meer zu genießen, es sind auch die letzten Stunden im Mai. Ich schlafe schnell ein, verpasse den Sonnenuntergang, werde viertel elf noch einmal wach und blicke in ein weitgefächertes Abendrot.
In Saint-Jean-de-Monts laufe ich ein paar Kilometer auf der langen Strandpromenade, ehe es heißt: Abschied nehmen, Abschied vom Atlantik, von der Côte de Lumière, vom Meer. Dafür habe ich mir meine letzte Zigarette aufgehoben, die ich nun rauche und für ein paar Minuten innehalte, mit starrem Blick auf die schönste Farbillusion der Welt, das „Blau“ des Meeres. Die Augen bleiben trocken, so dass ich, ohne kurz abwarten zu müssen, ins Kongressgebäude auf der anderen Straßenseite gehen kann, hinein ins Fremdenbüro, wo mich gleich vier Frauen ungläubig anschauen, als ich sie nach einem Spazierweg nach Nantes frage. Sie sind mit meiner Frage überfordert, geben aber ihr Bestes, überlegen hin und her und finden doch keine Lösung. Es sei nicht ungefährlich, weil es nur eine Straße Richtung Osten, ins Landesinnere gibt, die dementsprechend auch befahren wird. Sie empfehlen mir den Bus, kostet 15 Euro. Ich muss lachen, bekomme noch eine Straßenkarte und bedanke mich. „Be care“, sagt die eine, die noch am ehesten Englisch spricht, mit einem besorgten, mütterlichen Blick (steht jeder Frau gut!). Ich versuche es mit meinem sanftesten Lächeln, versuche Eindruck zu schinden und verschwinde. Auf den nächsten Kilometern bilde ich mir ein, dass die vier Frauen über mich reden, mich ganz großartig finden, nun ja, nach einer Stunde hört es auf in meinem Kopf zu spuken. Stattdessen ärgere ich mich mal wieder über mich selbst, denn ich habe die Chance verpasst, nach zehn Tagen endlich mal wieder ein Bad zu nehmen. Ich Weichei bekam einfach kein Bein in das kalte Wasser des Atlantiks, von der einen Katzenwäsche gemeinsam mit Philipp mal abgesehen.
Am Anfang habe ich noch Glück, ein Teil des geplanten Fahrradweges nach Challans ist bereits gebaut, so bleiben mir die Autos vorerst noch erspart. Ich denke an nichts, bin frustriert über die 60 bis 70 Kilometer zwischen Meer und Nantes, 60 bis 70 Kilometer auf Asphalt, in einer flachen, wenig erbaulichen Umgebung. Kurz vor Challans endet der Radweg, ich umlaufe die Stadt auf einer zweispurigen Schnellstraße mitten durchs Gewerbegebiet, bei 29 Grad im Schatten, also 40 Grad auf Asphalt. Manchmal ist mir zum Heulen, weil ich hier so einen Stuss veranstalte, auf irgendwelchen Straßen die Zeit verrinnen lasse, anstatt, mit einer kalten Limo in der Hand (muss ja nicht immer Bier sein), Zeit mit meiner Kleinen zu verbringen. Sie hat ihren Alltag, jeden Tag, und ich laufe völlig desillusioniert, vorhin noch an vier Frauen denkend, auf französischen Landstraßen herum. Es ist armselig, ich versuche es zu ignorieren, aber das ist es. Egal wie meine Reise endet und selbst wenn mich danach die ganze Welt feiert …
Von der Schnellstraße geht es weiter auf einer einspurigen Landstraße, schmale Seitenstreifen sind auch hier nicht vorhanden. Den Ort La Garnache passiert und schließlich entscheide ich mich doch zum ersten Mal, gezielt auf eine Mitfahrgelegenheit aus zu sein. Ich nehme den Stadtplan von Saint-Gilles-Croix-de-Vie, Größe A3, die Rückseite ist weiß, und schreibe mit dicken Buchstaben ganz groß NANTES drauf, male darunter einen grinsenden Smiley und klebe es an meinen Schlafsack, der oben auf meinem Rucksack befestigt ist. Ich bin stolz auf meine Kreativität, wohlwissend, dass es nur eine Spielerei ist und sicherlich niemand auf der wenig befahrenen Straße anhalten wird. Ich laufe 200 Meter, das zweite Auto in meine Richtung hält an. Ich bin überrascht und grinsend gehe ich zur Fahrertür, wo mich ein junger Kerl mit einem Lächeln begrüßt. Er steigt aus, denn sein kleines Auto ist voller Holz, Bretter sowie Balken, was alles von hinten nach vorn gestapelt ist. Ich habe keine Ahnung, wie ich mit meinem Rucksack in das Auto passen soll, aber irgendwie bekommen wir es hin. Rucksack hinten rein, ich klemme mich auf den Beifahrersitz. Wie meistens vergesse ich mich vorzustellen. Wir reden auf Französisch, er meint, er kann mich bis zum nächsten Ort, ins Dorf Touvois, mitnehmen. Mir bleiben dadurch elf Kilometer Asphaltritt erspart. Die beste Nachricht ist aber, dass wir nun in ein anderes Département kommen, nach Loire-Atlantique, wo ich mit dem Bus für nur zwei Euro nach Nantes fahren kann, dem Département-Tarif sei Dank. Ich kann es gar nicht glauben, wenige Kilometer weiter südlich, in Challans, wären es noch zwölf Euro gewesen. Immer wieder frage ich ihn, ob er sich sicher ist. Ja, er ist selbst schon mit dem Bus nach Nantes gefahren. Er fährt mich direkt zur einzigen Haltestelle des Dorfes, steigt mit mir aus. Wir schauen auf den Plan, wo schon mal „Nantes“ als Endstelle zu finden ist. Ein Mann steht dort, die beiden unterhalten sich ... ja, es koste um die zwei Euro. Ich bin glücklich, dass mir so ein ganzer Tag Asphaltritt erspart bleibt, zumal meine Knie neue Probleme bereiten. Freudestrahlend danke ich meinem Chauffeur.



