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»Ist gut.« Sie wirkte beruhigt. »Ich konnte das heiße Wetter noch nie ausstehen.«
»Deine zynische Zunge in Ehren«, diesmal klang Sorge in seiner Stimme, »bist du sicher, dass ich auch diesmal nichts unternehmen soll?«
»Nein.« Sie brauchte nicht darüber nachzudenken. »Ich will nichts darüber wissen. Was würden deine Nachforschungen schon bezwecken? Ich bin stolz, deine Tochter zu sein. Die Tochter des ehrenwerten Angelsachsen Ath of Abingdon ...«
Sie dachte kurz nach. »Es sei denn, du willst, dass ...«
»Denk nicht mal daran, Tochter. Du weißt, ich würde dies nur in deinem Interesse tun, um dein Wohl.«
»Dann tu nichts«, stieß sie hervor.
»Du machst mich sehr glücklich.«
»Und du machst mich verlegen.« Sie schlug den Blick nieder. Ath konnte sich nicht erklären, wie er eine solche Tochter verdiente. Ihre Ergebenheit, ihr Respekt, ihre Liebe zu ihm. Wie konnte es sein, dass er allein all das erfahren durfte?
»Sag«, meinte sie dann, »soll der Wein zu Sahib? Und der Umschlag?«
»Ja, ich wollte ihm beides noch bringen. Es ist die Rechung für die Gewürze und den Honig, den ich ihm besorgt habe, und eine Flasche Wein für seine Gäste. Sie scheinen ihn zu mögen und du weißt wie schwer es ist, hier guten Wein zu bekommen. Er hatte mich heute Nachmittag darum gebeten. Er hat ein paar Nordmänner zu Gast und wollte sichergehen, sie wohlversorgt zu haben.«
»Lass mich hinübergehen und es ihm bringen, dann werde ich auch zu Bett gehen.«
»Wenn es dir nichts ausmacht.« Er gab ihr die beiden Sachen. »Dann sehe ich dich gleich noch.«
Er nickte ihr zu und zog sich in das hintere Zelt zurück, schlug die dicken Vorhänge im Gehen zu.
Jetzt war sie es, die ihm nachblickte und lächelte. Wie konnte sie erwägen, nach ihrem richtigen Vater, nach ihrer richtigen Familie zu suchen, wenn er all das war? Noch immer lächelnd, schüttelte sie unverständig den Kopf, wandte sich dem anderen Ausgang des Zeltes zu, der sie nach weiteren Vorhängen direkt in den lärmenden Gastraum brachte. Sie waren wie jedes Mal Gäste Sahibs gewesen. Ath und er kannten sich seit Jahren, Ath nannte ihn Freund und sie wusste, auch Sahib hegte eine große Schwäche für ihn und seit vielen Jahren nun auch für sie.
Sahib war nirgends im Zwielicht des großen Zeltabschnittes zu sehen. Etwa zehn Nordmänner waren Gast des Weinhändlers und gaben sich den lukullischen Köstlichkeiten und den auserlesenen Getränken hin, die gereicht wurden. Nur drei der Nordmänner saßen allein, die anderen hatten ein Mädchen im Arm und gaben sich auch dieser Kostbarkeit mehr oder weniger offensichtlich hin.
Aths Tochter gab sich Mühe, nicht über die Kissen zu stolpern, während sie einem herangeeilten Diener die Sachen reichte. Er schien zu wissen, worum es sich handelte. Froh darüber wollte sie sich zurückziehen. Der Geräuschpegel war nahezu unerträglich und das Benehmen nicht minder. Dann jedoch spürte sie ihr Fußgelenk umfasst, fuhr erschreckt herum und sah in das grinsende Gesicht eines der Nordmänner.
»Wag es nicht«, fuhr sie ihn auf Angelsächsisch an. Sie versuchte, ihren Fuß zu befreien.
»Sieh an, eine angelsächsische Kratzbürste«, grölte der rothaarige Riese in die Runde. »Sahib erwähnte nicht, dass seine Mädchen auch derart wählerisch sind.« »Ich bin keines von diesen Mädchen«, fauchte sie ihn an. Im Dämmerschein stolperte sie mit ihrem anderen Fuß über einen der Teppiche, fiel halb auf ihn, was ihm die Gelegenheit gab, sie an sich zu ziehen. Doch er hatte nicht mit ihrer Gegenwehr gerechnet. Sie krümmte sich, schob ihm ihren Buckel vor die Nase und kratzte ihn über die Hand, die noch immer ihren Fuß festhielt. Sie glaubte, er würde sie loslassen. Stattdessen klatschte seine flache Hand beseelt auf ihr Hinterteil, was sie entrüstet auffahren ließ. Ihr Kopf stieß dabei seine Nase, was endlich Pein genug schien, um sie freizulassen. Sie stolperte auf allen Vieren von ihm weg und sah zurück. Er hielt sich die Nase. Zwischen seinen Fingern quoll dunkle Flüssigkeit hervor, Blut, in dem Licht schwarz wie seine Augen.
»Du verdammtes Biest ...«
Noch ehe er die Worte ausgesprochen hatte, hievte sie sich hoch, wissend, er würde sich dies nicht vor den anderen, die bereits brüllend lachten, gefallen lassen. Sie strauchelte weiter, passierte zwei weitere Nordmänner, dann jenen am Kopf der Gruppe Sitzenden. Dieser jedoch griff blitzschnell nach ihrem Webgürtel, zog sie zu sich herunter. Noch ehe sie wiederum zum Kampf ansetzen konnte, spürte sie seinen Mund dicht neben ihrem Ohr.
»Ruhig, Mädchen«, zischte er, »tu nichts. Ich werde dich hier rausholen. Vertrau mir.«
Sie wusste nicht, warum, aber sie blieb augenblicklich still. Rührte sich nicht, verfolgte ungläubig das Gespräch der beiden Nordmänner.
»Ich denke, dass Mädchen hat sich die Gesellschaft für diesen Abend ausgesucht, oder nicht?«, meinte ihr Retter.
Der andere Nordmann, der aufgestanden war, um sie einzuholen, verschränkte die Arme.
»Das sehe ich. Trotzdem würde ich es begrüßen, wenn du sie mir überlässt. Ich hätte da noch ein oder zwei Sachen mit ihr zu klären.«
»Lass mal, Sazur, du hast bloß eine Nase.«
Die anderen lachten, selbst der gescholtene Nordmann. Er konnte seinem Kommandanten nicht wirklich gram sein und scheinbar hatte das Mädchen tatsächlich gewählt, hatte selbst die Arme um seinen Hals gelegt und schmiegte sich an ihn.
»Sie hat gut gewählt.« Sazur wandte sich ab. Sein Kommandant erhob sich daraufhin, noch immer das Mädchen im Arm.
»Ihr werdet verstehen, dass ich diesen Leckerbissen allein genießen werde.«
Seine Männer erhoben daraufhin ihre Hörner, prosteten ihm zu und wünschten ihm Vergnügen, bis er durch den Gang entschwand, aus dem das Mädchen erschienen war.
Aths Tochter wurde augenblicklich heruntergelassen, als sie ihren Zeltabschnitt wieder betreten hatten. Noch immer verwirrt durch das, was eben passiert war, schritt sie zum Tisch, hielt sich, diesmal stehend, an der Tischkante fest, schluckte und befeuchtete ihre trockenen Lippen.
»H-Habt dank, Nordmann.«, ihre Stimme war nicht ihre eigene. Wo war ihre dunkle, beherrschte Stimme in diesem Moment?
»Verzeih meinen Männern«, antwortete er stattdessen. Sie glaubte zu träumen, sich einen Nordmann entschuldigen zu hören. Er fuhr fort: »Sie sind heute etwas zu ausgelassen, aber sie haben ihre Gründe. Einige harte Prüfungen liegen hinter ihnen. Zudem fehlt ihnen der Respekt vor Frauen.«
»Respekt vor Frauen«, wiederholte sie, ohne sich umzuwenden. Der Nordmann bereitete ihr selbst in dieser Entfernung eine Gänsehaut. Er sprach ihre Sprache fließend, roch nach herber Seife und gutem Wein. Sie wusste plötzlich, wer jenen Wein bevorzugte, den sie selbst hinübergebracht hatte.
»Respekt«, sagte sie nochmals. Sie hatte es geflüstert und trotzdem nicht gemerkt, dass er direkt hinter sie getreten war.
»Es scheint, dir ist bisher wenig Respekt von Männern entgegengebracht worden.« Seine Stimme klang nicht länger klar, ein Unterton schwang darin, leise, rau. Die Kerze flackerte kurz, dann erlosch sie. Sie bemerkte den Hauch der Atembewegung, als er sie ausblies.
Sie konnte sich nicht rühren. Wie zuvor. Sie stand nur da.
»Du solltest zumindest wissen, dass es Männer gibt, die euch sehr wohl Respekt entgegenbringen.« Während er das sagte, strich er das Haar aus ihrem Nacken und legte es vorn über ihre Schulter. Bei seinen nächsten Worten spürte sie seine Lippen auf ihrem Nacken, spürte, wie seine Barthärchen die Liebkosung begleiteten.
»Und du solltest es nicht vergessen, wenn du einem Mann einmal gehörst.«
Seine Arme legten sich um ihre Taille, zogen sie an ihn. Sie ließ es geschehen, lauschte seinen Worten, verfolgte seine Berührung. Sie hatte keine Angst. Vor diesem einen Mann nicht. Sie ließ zu, was kein anderer je gewagt hatte, was kein anderer je hätte tun dürfen.
»Männer wie ich nehmen sich niemals das, was eine Frau ihnen nicht freiwillig schenkt.«
Ihr Kopf legte sich auf seinen Oberarm, ihr Hals hieß seine Lippen willkommen, während seine Hände nach oben wanderten, den Ansätzen der sanften Wölbungen unter dem Webstoff des Kleides folgten.
»Jene anderen Männer werden nie in eure Seele schauen dürfen, merk dir das.« Er drehte sie langsam zu sich, nahm ihr Gesicht in beide Hände. Nichts vermochte die Dunkelheit zu durchdringen, weder ihre Gesichtszüge, noch ihre Haarfarbe oder die Farbe ihres Kleides. Nichts gab sie preis. Aber das Gefühl, das beide in Gegenwart der vielen Nordmänner beschlichen hatte, konnte die Dunkelheit durchbrechen.
»Ich zeige dir Respekt«, sagte er.
Wie von selbst öffneten sich ihre Lippen etwas, ließen den seinen ihren Willen, mehr noch, unterwarfen sich ihnen. Er atmete lang aus, eine jede Spannung schien den Hünen zu verlassen. Er genoss und sie wusste ganz plötzlich, was er meinte. Sie öffnete sich ihm, ohne sich selbst aufzugeben.
Der Nordmann bemerkte es, fühlte ihre Gedanken, wusste, er hatte erreicht, was er wollte. Er erhielt jene Antwort, die er begehrte, stellte trotzdem überrascht fest, dass ihm dieses Mädchen mehr gab als all jene vor ihr. Er bedauerte, dass Welten zwischen ihnen lagen.
Sie stellte sich unverhofft auf die Zehenspitzen und legte ihre Arme um ihn. Ihre Lippen antworteten den seinen sanft, ohne jede Hast, unverfälscht. Eine ewige Zeit. Sie beide genossen. Vergaßen, wo sie waren, wer sie waren, gaben sich einzig dem Gefühl hin.
Ungern trennte er sich dann von ihren Lippen.
»Bei den Göttern, ich wünschte, ich könnte dies hier zu Ende führen«, hauchte er in ihren Nacken und presste sie an sich.
»Gott schütze dich, Nordmann«, flüsterte sie in sein Ohr. »Ich werde niemals vergessen.«
»Suche jenen Mann, der dir gibt, was du verdienst. Suche ihn sorgfältig.«
Sie hielt sich wie zuvor an der Tischkante. Der Luftzug der herunterfallenden Vorhänge umgab sie. Er war fort.
Robyn schnappte nach Luft, Schmerzen durchfuhren ihren kältesteifen Körper. Schmerzen, die sie nie derart erfahren hatte. Nicht in all den Jahren. Wer war sie? Warum hatte sie als vierjähriges Mädchen inmitten einer unwirtlichen Steinwüste gestanden? Warum hatte ihr Vater das zugelassen?
Sie wimmerte auf, Tränen mischten sich auf ihren Wangen mit dem Salzwasser, das sie nur zu gern verschlingen wollte. Doch der Arm hielt sie fest. Die Präsenz des Nordmannes, der zwischen ihr und dem nassen Grab stand, war keine Einbildung. Kein Trugbild. Für einen Moment schloss sie die Augen.
Sie würde nie erfahren, wer jener Nordmann gewesen war. Warum hatte er ihr jene Erinnerung bereitet? Was hatte ihn bewogen, ihr an diesem Abend einen Glauben einzupflanzen, den sie nur zu bereitwillig aufnahm? Sie hatte nie einen solchen Mann getroffen.
»Es wird dir bei uns besser ergehen als bei jenen, die dich deiner Familie entrissen.«
Robyn brauchte eine Weile. Die Worte drangen nur langsam zu ihr vor. Dann begriff sie. Der Nordmann hatte zu ihr gesprochen. Sie drehte ihren Kopf langsam, zwinkerte im Sonnenlicht.
»Ich kann dir nicht das Paradies versprechen. Nur eines ...«
Robyn fühlte den Druck seiner Arme. Er würde sie nicht gehen lassen.
»Du wirst keine Sklavin sein.«
Wie konnte sie weiterleben wollen? Wenn nicht als Sklavin, als was dann? Was war mit all ihren Fragen? Wie würde sie je eine Antwort darauf erhalten?
Sie wandte sich ab, blickte auf die See, die ruhige See. Sie lag vor ihr, ließ in ihr die Hoffnung aufkeimen, dass sie irgendwo dort am Horizont die Antworten zu all ihren Fragen finden würde.
Wulf spürte, dass sie nach seinen Armen griff, doch ehe er feststellen konnte, ob sie sich von ihm befreien wollte oder die Ausweglosigkeit ihrer Situation zuließ, sank sie in sich zusammen. Er verhinderte ein erneutes Abgleiten unter Wasser, in dem er sie nach hinten kippen ließ, um mit ihr zum Schiff zu schwimmen.
Der Rauch quoll um alle Häuser am Strand. Sie floh, hielt ihre Röcke mit eiserner Hand fest, um nicht über sie zu fallen. Der sandige Boden ließ sie straucheln, sie fiel, spuckte den Sand aus, schluckte den Rest hinunter, nur um wieder auf die Beine zu kommen und weiterlaufen zu können.
In dem Durcheinander suchte sie ihren Vater. Etwas sagte ihr, er würde sich wie die anderen flüchtenden Menschen in das Wäldchen nahe dem Kloster zurückziehen. Dort war es unwegsamer, die Bäume und vereinzelten Sträucher boten mehr Schutz vor den raubenden und plündernden Nordmännern.
Ihr Vater würde mit den Mönchen und den anderen Bewohnern dort auf sie warten. Und abwarten. Die Nordmänner hatten, was sie wollten, zogen sich zum großen Teil bereits auf ihr Schiff zurück mit Gold, Wolle, den Vorräten des Klosters, insbesondere dem wertvollen Honig. Sie trugen ihre Beute nahezu ohne Gegenwehr der Menschen auf ihr Schiff, das am Strand lag und unheilvoll umwoben wurde vom Rauch der angezündeten Hütten und des flammenden Klosters.
Sie hörte die Nordmänner brüllen. Das Drachenboot wurde bereits ins Wasser geschoben, sie stemmten sich gegen die Planken, übergaben es der See. Verloren keine Zeit. Das Unheil, welches sie hinterließen, rief kein Mitleid in ihnen wach. Eine Pranke umfasste im Laufen ihren Hals, drückte ihr die Luft ab. Sie krallte sich in die Hemdsärmel des Nordmannes, der sie festhielt. Sie würgte an ihrem aufsteigenden Mageninhalt. Sein Blick war durchdringend, als er sie von oben bis unten betrachtete. Sie verstand augenblicklich. Er besah sich seine Ware. Sie fühlte, wie der Schock sie lähmen wollte, sie erkalten lassen wollte. Doch als der Nordmann sie mühelos über seine Schulter legte, holte sie aus tiefster Seele Luft und schrie, dass selbst die Nordmänner, die am Strand warteten, aufsahen.
»Vaaaaaaaateeeeeeeer ...« Sie wollte nicht so aufgeben, nicht ohne ihren Schmerz und ihre Verzweiflung herausgerufen zu haben. »Vaaaaaaateeeeeer ...«
Sie sah zurück auf das Wäldchen, im Dunst der Feuer kaum noch auszumachen. Sie starrte es mit tränenden Augen an, schrie unentwegt, ohne dem Schreien noch Silben zu verleihen. Dann, als sich ein anderer Nordmann von hinten näherte, sah sie ihren Vater plötzlich aus dem Wald stürzen. Er schrie genau wie sie, aber es war nur noch ein entferntes Echo. Der Schatten des anderen Nordmannes legte sich auf sie. Dann war es plötzlich dunkel ...
4.
Mit steifen Gliedern ließ Wulf sie wenig später unsanft auf Deck gleiten. Der Aufprall führte zu einem Hustenanfall, bei dem Robyn minutenlang das Wasser hervorwürgte.
»Eine schöne Fracht.« Egill stand mit verschränkten Armen über ihr, neben sich Wulf, der einige Male tief ein- und ausatmete. »Warum hast du sie nicht gehen lassen? Es schien ihr Wunsch sein.«
»Seit wann gewähren wir einem Menschen in Not nicht mehr unsere Hilfe?«, fuhr Wulf ihn an. Er hatte Egills ewiges Jammern satt. »Ist es nicht dein Wunsch, jene im Westdorf zu verurteilen? Sie hätten vielleicht so gehandelt. Aber nicht wir. Wir pflegen nicht wie sie auf Raubzug zu gehen. Nicht mehr. Hast du das vergessen?«
»Nein, Wulf. Aber du weißt, dass Frauen an Bord nur Unglück bringen. Noch dazu eine, die wie eine Nixe leblos im Wasser trieb.«
»Verdammt sei dein Aberglaube.« Wulf zog sich das Hemd aus, die untergehende Sonne würde nicht mehr lang Wärme spenden. »Sag zwei Männern, sie sollen ein Feuer machen und dann sieh zu, dass du irgendwelche trockene Kleidung für sie findest.«
Egill gab ein zustimmendes Brummen von sich und ging, bellte wenig später zwei der Männer an, damit sie Holz zusammentrugen.
Robyn fühlte zum ersten Mal seit Stunden ihre Beine. Sie zog sie heran, spürte keinen Schmerz, nur Kälte.
Eine Reise. Sie trat erneut eine Reise an.
Sie stöhnte leise. Warum nur? Warum?
Sie betastete ihren Kopf. Er hämmerte unerträglich. Der Nordmann am Strand hatte sie mit bloßer Faust bewusstlos geschlagen. Ihre Hand wanderte weiter. Fast hätte sie aufgeschrieen. Die gesamte linke Seite schien zu zerspringen. Sie versuchte stillzuliegen, damit der Schmerz nachließ. Befremdet zerrieb sie das geronnene Blut, das aus ihrem Ohr gelaufen war, in ihrer Hand. Sie benötigte einige Atemzüge, um den Blick endgültig zu schärfen, um ruhig aufzublicken, ohne Drehen, ohne verschwommene Bilder. Der Nordmann hatte abwartend über ihr gestanden.
Wulf bemerkte ihren schweren Augenaufschlag, sah gleichzeitig, wie sich ihre Lippen aufeinanderpressten. Sie war bemüht, ihren Schmerz zu verbergen, durchaus gekonnt, aber seine Augen waren zu gut trainiert.
»Nimm einige der Decken dort.« Er wies hinter sie auf einige Decken in Reichweite. »Zieh deine nassen Kleider darunter aus, dann begib dich zu dem Feuer, dass die Männer für dich anzünden. Und fürchte dich nicht. Niemand wird Hand an dich legen. Ich stehe zu meinem Wort.«
Wulf beobachtete sie noch kurz. Sie brauchte eine Weile. Er glaubte nicht, dass sie ihn nicht verstanden hatte. Vielmehr sammelte sie all ihre Konzentration, um seinen Worten folgen zu können. Sie zog sich langsam zu den Decken hin, ergriff eine. Damit hatte er genug gesehen. Er wandte sich ab, um selbst seine Kleidung gegen trockene einzutauschen.
Robyn konnte ihm nicht einmal hinterherblicken. Sie musste ihre Augen schließen, während sie die Decke um sich legte und das Kleid auszog. Ihre Schuhe hatte sie im Wasser verloren. Wozu hatte sie sie auch behalten sollen? Sie hatte sterben wollen. Für einen Augenblick bettete sie ihren Kopf auf die anderen Decken, sehnte sich zurück in die See, nach dem Horizont, dem kalten Wasser, da es sie nach all den Stunden zärtlich umarmt hatte, ihre Sehnsucht erwidert hatte.
»Weib!«
Sie schreckte auf. Woher kam das? Undeutlich erkannte sie die Konturen des Hünen wieder. Sie schärfte den Blick, diesmal mit Erfolg. Die kurze Entspannung hatte ihr gut getan. Er trug trockene Kleider, hatte sein Haar im Nacken zusammengebunden. Die Sonne war längst untergegangen, der Himmel in seinem Rücken rötlich.
»Wir riskieren eine Menge, indem wir ein Feuer an Deck entzünden. Hab die Güte und nutze es aus.«
Wieder brauchte es eine Weile, dann reagierte sie, zog sich an der Reling hoch, stützte sich auf sie, während sie langsam nach vorn strauchelte.
Wulf nahm einige Decken und folgte ihr im kurzen Abstand. Seine Männer beobachteten ihre Silhouette aufmerksam, vorsichtig. Wulfs Entscheidung, sie an Bord zu lassen, hatten einige nicht gutgeheißen und ihren Kommandanten dies auch wissen lassen. Er hörte ihren Eingebungen zu, bestimmte aber trotzdem, dass sie bleiben würde. Die Überfahrt näherte sich ihrem Ende. Zwei Tage noch, dann hatten sie ihr Ziel erreicht. Bis dahin mussten sie die Nixe an Bord dulden, hernach würde ihr König über sie entscheiden. Vielleicht würde einer der Nordmänner sie zur Frau begehren. Eine Heirat hatte den Vorteil, dass sie niemandem außer ihrem Mann und dem König Rechenschaft schuldig war. Für den Fall, dass sich niemand für sie fand, würde sie einfachen Arbeiten im Dorf nachgehen müssen, jedoch ohne den Schutz eines Ehemannes. Aber sie würde dieselben Rechte erhalten wie all die anderen. Sklaven gab es unter ihnen seit einer Generation keine mehr.
Und ein Zurück gibt es für dich auch nicht mehr, dachte Wulf, während sie kraftlos am Feuer niedersank. Wer immer du bist, deine Familie, dein Mann wird dich unter Nordmännern wissen; keine Schande dürfte größer sein.
Seine eigenen Gedanken widerten ihn an, aber er kannte den Ruf seines Volkes, wenngleich die Wahrheit anders war. Sehr anders.
Sein Blick streifte seine Männer. Große, starke Männer, kampferprobt seit vielen Jahren, in jeder erdenklichen Waffe trainiert, geschickt, furchtlos, ihre Haut gebräunt von der unerbittlichen Sonne in Byzanz. Versteinert sahen sie auf die Nixe, deren weiße Haut sich von der dunklen Decke absetzte wie ein unheimliches Omen. Misstrauen lag in Egills Bewegungen, als er sich hinabbeugte und ihr einige Kleidersachen hinlegte. Männerkleidung. Sie würde genügen müssen.
Wulf legte zwei weitere Decken zu ihr. Als sie sie bemerkte, ließ allein ihr Anblick ihre Augen zufallen. Ohne auf die Nordmänner zu achten, ließ sie sich nieder. Furcht und Schmerz verloren sich für den Moment und sie gab sich dem Schlaf hin. Der Nordmann würde zu seinem Wort stehen.
5.
Sie schlief einen ganzen Tag hindurch, ungeachtet der Männer, des Windes, der Planken, die nie still zu sein schienen. Robyn blickte hinauf in den klaren Sternenhimmel.
Trotz des Misstrauens waren die Nordmänner nicht ohne Freundlichkeit. Ein Hauch von Winter lag seit einigen Stunden über dem Schiff, je näher sie ihrer Heimat kamen. Jemand hatte ihr eine wärmere Decke um die nackten Schultern gelegt, während sie schlief. Das Feuer war erloschen, aber sie empfand keine allzu große Kälte. Die Decken waren von guter Qualität, ein Zeichen, dass die Nordmänner zu etwas Reichtum gelangt waren.
Robyn tastete vorsichtig ihr Ohr ab. Es war heiß und geschwollen. Sie wünschte sich sehnlichst, es kühlen zu können, aber das musste warten. Wenn man der Luft glauben schenken konnte, würde im Land der Nordmänner bereits Schnee liegen. Schnee ... Robyn glaubte für einen Moment ein Bild vor sich zu sehen. Doch es verschwand genauso schnell wieder. Ob es Erinnerungen waren? Die Zunge der Nordmänner bereitete ihr keine Probleme. Sie verstand jedes Wort. Andere Nordmänner aus Jutland, Svealand oder Götaland hätten ihre vollste Aufmerksamkeit benötigt, um sich verständlich zu machen. Nicht diese. Sie selbst hatte das meiste aus ihrer Vergangenheit vergessen, hatte die nordische Zunge nie gesprochen, solange sie bei Ath gewesen war. Alles, was vor der Steinwüste gewesen war, erschien ihr vage, verschwommen, niemals kehrten konkrete Sachen in ihr Gedächtnis zurück. Nur die kratzige Zunge, rau und doch für ihre Ohren nicht unangenehm, war ihr geblieben.
Ich verstehe jedes Wort.
Was bedeutete das? Konnte es sein, dass ihr Ursprung irgendwo im Land dieser Nordmänner lag?
Geliebter Vater, werde ich dich je wiedersehen?
Ihre Verzweiflung gewann erneut die Oberhand, verdrängte jene Gedanken. Die Furcht kehrte schockartig zurück. Sie war verdammt zu einem Leben unter diesen Menschen, die ihr so fremd waren. Was geschah, wenn sie an Land gingen? Was würden sie mit ihr tun?
Vater, steh mir bei. Lass mich nicht allein.
Die Angst verstärkte ihre Schmerzen. Sie wusste, sie musste sich zusammennehmen. Tat es nach einer Weile, atmete tief ein und aus.
Langsam richtete sie sich auf, das Blut rauschte in ihrem Kopf, ließ sie nochmals geraume Zeit verweilen. Dann erst klärte sich ihr Blick und sie erkannte die Umrisse der Kleidung, die einer der Nordmänner ihr hingelegt hatte, Hosen und eine weite helle Tunika, einige Lagen groben Stoffes und Lederschnüre, um ihre Füße zu schützen. Vielleicht würden sie ihr später Schuhe geben.






