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»Niemand hat mich je um Hilfe gebeten, hat je auf mich gewartet ...«
»Du hast ihnen nie wirklich Anlass dazu gegeben. Als dein Vater dich mit Dora verheiratete, gab er dir eine Frau aus einer der hoch angesehensten Familien. Was, glaubst du, wollte er damit erreichen? Er wollte, dass du dich eingliederst, dir bewusst wirst, wer du bist! Stattdessen hast du dich in deinem Haus im Wald verschanzt, dich und deine Frau damit unglücklich gemacht. Sie in die Arme anderer getrieben, auch wenn das vielleicht ohnehin passiert wäre.«
Wulf lachte bitter auf. Er dachte an seine Hochzeitsnacht.
»Arnulf, sie hatte zumindest schon mit einem Mann vorher das Lager geteilt ...«
Wulf sah nach einigen Atemzügen der Stille auf Annija, und lächelte.
»Würdest du mir ein paar Sachen für meine Frau geben? Ich befürchte, sie wird sonst nichts zum Anziehen haben in den nächsten Tagen.«
Annija nickte und entfernte sich in eine Kammer, die vom Raum abführte. Wulf schritt um das Feuer auf Arnulf zu und wartete, bis sich ihre Blicke kreuzten.
»Ich verspreche dir, über die Dinge nachzudenken, die du mir zu sagen hattest. Doch bitte erwarte dir davon nicht zuviel. Selbst wenn all das wahr ist, es gibt eine Seite an Eilaf, die mich schon immer abgestoßen hat. Ich kann dir nicht beschreiben, was es ist, aber Eilaf kann und wird deshalb nie den Platz in mir einnehmen, den du und Annija innehabt. Hätte ich je wählen dürfen, ich wäre aus den Trümmern in eure Arme gerannt. Ich hätte hier mit euch leben können, als euer Sohn.«
Arnulf schwieg. Er wäre so froh gewesen, hätte Wulf die Wahl gehabt. Aber das würde er ihm nie sagen. Wulfs Bestimmung war eine andere und Arnulf würde immer hoffen, dass auch Wulf das erkennen würde.
Als Wulf merkte, dass Arnulf keine Antwort geben würde, wandte er sich wieder Annija zu, die ihm ein Bündel überreichte.
»Wenn sie weben und nähen kann, wird sie sie mir bald zurückgeben können. Ich hoffe, sie wird dich nicht schon darin enttäuschen, das Haus nicht ordentlich führen zu können.«
»Wir werden sehen.« Wulf klang nicht überzeugt.
»Noch etwas«, meinte Annija. Sie zögerte abermals, zog dann aber etwas aus ihrer Schürzentasche und legte es in Wulfs Hände.
Er sah sie fragend an.
Es war ein Armreif, etwa so breit wie ein Zeigefinger. Die Glieder des Reifes hatten die Form sich gegenseitig verschlingender Schlangen. Der Verschluss war nicht sofort erkennbar. Der Schmied dieses Stückes hatte ihn in eine der Schlangen eingearbeitet.
»Ich weiß nicht, warum, Wulf«, erklärte Annija, »aber ich habe Dora nie für würdig empfunden, die Hochzeitsgabe deines Vaters an deine Mutter zu tragen. Ich bete noch immer, dass ich damit nicht Böses heraufbeschworen habe und sie mit dem Kind ins Unglück stürzte. Lege es deiner Frau noch heute um. Berichte ihr irgendwann, wenn sie bereit ist, wer der Träger dieses Armreifes war. Eine mutige Frau, die lieber mit ihrem Mann und ihren Söhnen starb, als sich einem König unterzuordnen, der nicht ihr wahrer König war. Die in einem brennenden Haus starb, aus dem nur ein Sohn gerettet werden konnte. Sage dies deiner Frau, wenn sie würdig ist, die Wahrheit zu erfahren. Ich werde zu den Göttern beten, dass sie dich glücklicher machen wird als deine erste Frau.«
Wulf nahm den Armreif, der einst den Arm einer zierlichen, dunkelhaarigen Frau geschmückt hatte. Eine Frau, an die er sich nur noch vage erinnern konnte, die seine wirkliche Mutter gewesen war. Die sich geopfert hatte.
»Ich wusste nicht, dass du etwas von meiner Mutter besitzt.«
»Ich hüte den Reif schon so lange. Dein plötzliches Auftauchen heute, Wulf, ist ein Zeichen. Ich mag nichts von Zauber verstehen, aber ich deute es nicht als Zufall, dass du heute Nacht noch einmal zu uns kamst. Geh nun zu deiner Frau. Die Götter mögen ihre Hände über euch halten.«
»Du bist dir sicher, dass ich es ihr geben soll?« Wulf wirkte nicht überzeugt.
Annija sah auf, blickte in seine dunklen, blauen Augen.
»Denke einen Moment an sie ...«
»Was?« Wulf verstand nicht.
»Tu es«, forderte Annija eindringlich.
Wulfs Blick wandte sich auf einen unbestimmten Punkt an der Wand.
»Siehst du sie?«, wollte Annija wissen.
»Ja«, meinte Wulf.
»Nun, sieh auf ihr Handgelenk ...«
Wulfs starrer Blick wanderte für einen Moment.
Dann sahen Annija und Arnulf, wie sich seine Hand plötzlich um den Reif schloss.
»Ist gut.« Wulfs Stimme hatte jene Unschlüssigkeit verloren.
»Ich sehe dich morgen am Strand«, meinte Arnulf zum Abschied, »wenn es das Wetter zulässt.«
Wulf nickte, verstaute die Salbe und den Armreif sorgfältig in einem Bündel, das er wenig später am Sattel festband.
Er küsste Annija auf die Wange und tauschte einen letzten Blick mit Arnulf, der schweigsam geblieben war.
»Ich verspreche es, Arnulf, ich werde darüber nachdenken«, wiederholte sich Wulf ein letztes Mal vom Rücken des Pferdes.
»Ich weiß, mein Sohn, ich weiß.«, Arnulf hob die Hand, während Wulf über das schneebedeckte, im Dunkeln leuchtende Feld ritt. Der Schnee knirschte lauter als zuvor und zeugte von der Kälte, die zurückgekehrt war.
»Vielleicht hat Wulf Recht«, murmelte Annija, während sie ihn im Wald verschwinden sahen.
»Womit?«
»Nun, manchmal wünschte ich, er hätte einen Ort gefunden, der es wert gewesen wäre, fort von hier zu bleiben. Vielleicht wäre er dann glücklicher.«
»Ich weiß, Wulf gibt keine leeren Versprechen. Er wird über die gesagten Dinge nachdenken. Aber was muss passieren, damit er spürt, dass dieser Ort immer hier sein wird? Es gibt keinen anderen Ort für ihn, Annija. Wulf gehört hierher. Wie wir alle, wie du, wie ich, wie all unsere Leute.«
»Mag schon sein. Das Schicksal fragt nicht nach dem Glück des einzelnen.«
10.
Robyn versuchte sich den Fortlauf ihrer Reise vorzustellen. Sie war die Ehefrau eines Nordmannes. Sie würde sein Heim versorgen, seine Gefährtin in schwierigen Zeiten sein. Mit Selbstlosigkeit verbundene Gedanken jagten durch ihren Kopf. Es überraschte sie. Dann jedoch schweiften ihre Gedanken in eine andere Richtung. Ob er jemals eine Wiedergutmachung für ihr Leben verlangen würde?
Welches Leben, fragte sie sich. Sie hatte nicht darum gebeten. Er hatte ihre Schwäche ausnutzen können, sonst nichts.
Sie zog die Felldecke enger um sich. Das Feuer loderte noch friedlich, spendete angenehme Wärme, doch ihr Frösteln hatte nichts damit zu tun. Sie lag auf einer niedrigen Holzbank am Feuer, nachdem sie sich gewaschen und eine seiner Tuniken übergestreift hatte. Sie reichte bis zu ihren Knien. Sie hoffte, er würde ihr bald Kleider beschaffen können. Aber heute Abend genügte es vollkommen. Selbst etwas von dem Brot hatte sie gegessen und einen weiteren Schluck Met getrunken. Sie hatte sich davon etwas Schwere und Ruhe erhofft. Doch ihre Gedanken ließen sich nicht so leicht abstellen. Wieder und wieder kreisten sie um ihre Reise. Eine Reise, die sie allein ihm zu verdanken hatte.
Verdanken?
Sie schloss die Augen kurz.
Sollte sie Wulf dankbar sein?
Ath würde es so sehen, entschied sie dann. Wahrscheinlich wäre er enttäuscht von ihr, wüsste er, dass sie sich aufgegeben hatte.
Aber war sie dem hier gewachsen? Ehefrau? In einem Land fernab von allem, was sie kannte. Kalt, unwirtlich, abweisend.
Sie atmete lang und geräuschvoll aus. Seitdem sie sich hingelegt hatte, schmerzte ihr Ohr etwas weniger. Für kurze Zeit schien der Schlaf Nachsicht mit ihr zu haben.
Bevor sie ihn sehen konnte, hörte sie ihn. Ein kraftvolles Rauschen. Ein Aneinanderreiben und Aufbrausen unzähliger Blätter. Der Wind durchfuhr den Baum mit unsichtbarer Stärke, in unregelmäßigen Abständen. Wieder. Und wieder. Und wieder.
Sie konnte die Stärke des Baumes körperlich spüren. Ihr Atem ging tief, als atme sie sie ein. Sie atmete mit dem Wind, fühlte das Rauschen in ihren Ohren, meinte einen Schlag zu hören. Wieder. Und wieder. Und wieder. Es klang, als schlüge ein Herz. Sie wusste, sie lauschte dem Baum, seinem Herz, seiner Seele.
Ein Windstoß, lauter als all jene zuvor. Blätter wurden vom Baum abgetrennt und streiften ihre Wange mit einem kratzenden Geräusch. Er befahl ihr aufzuwachen.
Da hörte sie es. Schritte, leise, vorsichtig, nicht die Schritte eines Heimkehrenden. Wulf hätte sich dem Haus nicht so genähert. Die Tür im Nebenraum, wo der Stall war, hätte sich geöffnet. Aber das tat sie nicht.
Wieder Schritte. Als ging jemand das Haus von außen ab, um zu sehen, ob sich jemand darin befand. Der winzige Rauchabzug hatte ihn wahrscheinlich nicht überzeugen können.
Robyn wagte nicht, sich zu rühren. Vielleicht würden sich die Schritte wieder entfernen. Doch der Schnee knirschte auch weiterhin gedämpft.
Wie gelähmt hielt sie den Atem an. Die Schritte verstummten, doch sie konnte jetzt einen schweren Atem vernehmen. Direkt vor der Tür. Es klang mehr wie das Japsen eines Hundes.
Dann wurde die Tür geöffnet, nicht vorsichtig wie das Abschreiten des Hauses zuvor vermuten ließ. Geräuschvoll schwang sie auf, blieb offenstehen, ließ kalte Luft und Schnee hinein. Leichter Flockenwirbel hatte draußen eingesetzt, doch Robyn sah nur den Mann, der in den Feuerschein getreten war. Sein Atem ging noch immer schwer. Und roch nach Met. Mehr als das. Der ganze Mann stank danach.
»Für eine Weile hatte ich fast geglaubt, mein Bruder hätte dich zu seinem kleinen nächtlichen Ausflug mitgenommen. Aber wie ich sehe, hatte er ein Herz und setzte dich in deinem neuen Heim ab.«
Ehe sie sich versah, kam er um das Feuer und packte ihr Fußgelenk, um sie an sich zu ziehen.
»Bevor er wiederkommt, haben wir beiden noch etwas Zeit. Nicht viel wahrscheinlich, aber du scheinst alt genug, um mir auch in kurzer Zeit zu meinem Vergnügen zu verhelfen.«
Seine andere Hand krallte sich ihr Handgelenk und er riss sie zu sich heran. Er wollte ihre Hand zwischen seine Schenkel legen, doch Robyns andere Hand kratzte nach seinem Gesicht. Er musste ihr Fußgelenk loslassen, um Schlimmeres zu verhindern, gab ihr jedoch damit die Gelegenheit, ihn zu treten. Und das tat sie. Mit aller Macht. Wie irrsinnig trat sie gegen seinen Unterleib, würgte am Schmerz und am Metgeruch, der ihn umgab wie eine betäubende Hülle.
»Aber, nicht so heftig«, amüsierte er sich. Seine Stimme war rau, sein Atem faul und süßlich zugleich. »Du scheinst rechtmäßig in Doras Fußstapfen getreten zu sein. Sie mochte es auch ein bisschen wilder ...«
Er stemmte plötzlich sein gesamtes Gewicht gegen sie, warf sie dabei neben der Holzbank auf den Boden und zerrte ihr die Decken fort.
»So gefällst du mir schon besser«, raunte er. Er blickte an ihr hinunter, auf ihre nackten Beine, das halbgeöffnete Hemd und leckte sich über die aufgesprungenen Lippen.
Robyn holte Luft, zog den Arm hervor, auf dem sie selbst und der Nordmann lagen und krallte ihre Hand in die roten Haare des ältesten Thronerben. Bereits in der Halle hatte sein Blick unentwegt auf ihr gelegen. Sie zog an seinem Haar, bis er zornig aufschrie. Er ließ sie für einen Moment los. Sie kämpfte sich unter ihm hervor und war halb aufgestanden, da packte er erneut ihr Fußgelenk. Sie fiel auf den Boden, konnte einen Schmerzensschrei nicht mehr verhindern. Das Echo in ihrem Kopf ließ sie zusammenzucken. Das gab Harold die nötige Zeit, um sich wieder auf sie zu stürzen.
Sie wimmerte kurz, doch er drehte sie rücksichtslos herum.
»Schluss jetzt! Er hat sich nicht um Dora gekümmert, er wird sich auch nicht um dich kümmern. Lass mich das für ihn erledigen.«
Er riss an der Tunika, schien mit weniger Widerstand zu rechnen. Doch er irrte. Robyn fasste diesmal nach seinen Handgelenken und versuchte sie wegzudrücken, was ihn nur noch wütender machte.
Er schlug ihr ins Gesicht, sie schrie auf, diesmal langanhaltend und ohne wieder aufzuhören. Der Schmerz in ihrem Kopf ließ sie die Verzweiflung und Machtlosigkeit herausschreien. Schreie, die in den Wald hallten. Und Gehör fanden.
Robyn strampelte unter ihm, halb besinnungslos vor Pein. Der sachte Wind von draußen fachte das Feuer an, sprühte Funken auf, die auf ihren nackten Beinen verglühten. Wie lange würde sie sich noch wehren können?
Harold hielt ihre Kehle umfasst, um sich selbst von seinem Umhang zu befreien. Sie bekam kaum noch Luft, sah den Schatten über Harold nicht. Erst als Harold von hinten ergriffen und von Robyn fortgezogen wurde, um dann, zwei Tischbeine durchbrechend, an die hintere Wand geschleudert zu werden.
Das Bersten des Holzes scholl in Robyns Ohren. Schnaufend holte sie Luft. Wulf kniete neben ihr nieder, umfasste ihr Gesicht, ohne Rücksicht auf ihre Verletzung. Ihre Nasenflügel vibrierten sichtlich, ihre Augen tränten ohne Unterlass, blickten ihn ebenso ängstlich an wie Harold nur Augenblicke zuvor. Seine Augen, seine Hände, eisige Kälte umgab ihn. Und schneidend war seine Stimme. Ungläubig lauschte sie seiner indirekten Anschuldigung.
»Hast du ihm Anlass gegeben hierher zu kommen?«
Wie konnte er glauben, sie hätte etwas mit seinem Erscheinen zu tun?
»Antworte mir, sonst führe ich zu Ende, was er begonnen hat!«
Ein Wimmern drang aus ihrer Kehle. Es entwich ihren Lippen.
»Wulf, nā ...«
Es dauerte einen Moment, dann erst verstand Wulf. Zu sehr überraschte ihn ihre Stimme. Sie war heiser, leise durch den Schmerz. Doch sie war dunkel und klang älter, als er sie eingeschätzt hatte. Und sie sprach angelsächsisch. Sie war keine Nordfrau, sie war eine Angelsächsin. Und für einen winzigen Atemzug nur schmerzte ihn die Erinnerung an eine Angelsächsin. Doch das ging schnell vorbei.
Nā. Nein. Sie hatte seine Frage verneint. Seine Augen hingen an ihren Lippen. Sie sprach weiter.
»Ič ne misdyde.« Ich tat nichts Böses.
»Warum ist er dann hier?«, stieß Wulf hervor. Er wurde sich bewusst, dass er noch immer die nordische Zunge sprach. Aber sie schien zu verstehen.
Schwer schlossen sich ihre Augenlider, öffneten sich mit ebenso viel Anstrengung.
»He ... he spræc of Dora ...« Er hatte Dora erwähnt.
Wulf lockerte bei Erwähnung dieses Namens augenblicklich seinen Griff.
Zu Robyns Überraschung entspannten sich seine Züge, ein zynisches Lächeln erschien auf seinen Lippen.
»Verzeih, Nixe. Ich tat dir Unrecht ... ich hätte es besser wissen sollen ...«
Fast entschuldigend strich er eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht, drehte sich im selben Augenblick um und stand auf.
Harold hatte sich mühselig erhoben und ordnete seine Kleider. Er konnte kaum stehen.
»Du bekommst einfach nicht genug, nicht wahr?«
Harold grinste.
»Was meinst du, Bruder? Vom Met? Oder von deinen Frauen? Tu doch nicht so, als ob du es nicht gewusst hättest?«
Wulf packte ihn am Kragen, doch Harold konnte sich erstaunlich gut wehren. Sie rangen, stemmten sich gegeneinander.
»War der Bastard von dir?«
»Was glaubst du denn? Von Leif etwa? Der kann nicht mal ...«
Wulf stieß ihn an die hintere Wand. Harold holte mit dem Kopf aus, um ihn gegen den seines Bruders zu rammen. Wulf wich dem aus, dadurch konnte Harold sich etwas freimachen und sie schwankten durch den Raum, wo sie in der Mitte einen Moment voneinander ließen.
Robyn stand mühselig auf, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Harolds Hand schnellte nach ihr, griff ihre Haare.
»Sie gefällt mir, Bruder«, rief er, »wir können sie uns teilen ... vielleicht bringst du es ja diesmal fertig, dass die Nachkommen von dir sind ...«
Er stieß Robyn über die Bank vor dem Feuer. Diesmal blieb sie reglos liegen. Wulf nutzte seine kurze Unaufmerksamkeit, rammte ihm den Ellenbogen erst in den Unterleib und dann ins Gesicht. Er hörte den Knochen splittern, sah das Blut aus Harolds Nase schießen. Dieser Schmerz würde ihn lange genug betäuben. Harold krümmte sich vor Schmerz, seine Nase gab rasselnde Geräusche von sich. Für den Moment gab er sich geschlagen. Wulf fasste seine Schultern und zog ihn nach draußen in die Kälte, wo Harolds Pferd in der Nähe harrte. Harolds massiger, vom Met aufgedunsener Körper bereitete Wulf keine Schwierigkeiten. Er hievte ihn auf das Pferd, wo er nach vorn kippte und Halt am Hals des Pferdes fand.
»Scher dich nach Hause, Bruder. Geh zu deinem Met. Und vergifte weiter das Ohr unseres Vaters ...«
»Zum Teufel mit dir«, stieß Harold hervor.
»Nein, zu ihm nicht. Ich werde in Walhalla sein und warten, dass wir Verrätern wie dir den Hals umdrehen.«
Er berührte die Kruppe des Pferdes, worauf es sich in Bewegung setzte. Es würde seinen Weg zum Dorf und zur Halle allein finden.
Wulf wandte sich ab. Der Rappe stand abwartend vor dem Eingang, im Lichtschein der Tür, wo er ihn stehengelassen hatte, als er ins Haus gestürmt war. Ihre Schreie hatten durch den Wald gehallt. Sie hatte die ganze Zeit nicht geschrieen, keinen Ton von sich gegeben, trotz allem. Die Reise, die Abneigung der Nordmenschen, wortlos hatte sie alles über sich ergehen lassen, hatte ihre Schmerzen verborgen, die Zähne zusammengebissen.
Doch jetzt hatte sie geschrieen.
Und ihm war plötzlich nach Lachen zumute. Doch es war bitter. Und es schien nie anders gewesen zu sein. Er konnte sich nicht mehr erinnern, je anders gelacht zu haben.
Die Nixe, wer immer sie war, hatte verweigert, was wenige Frauen hier ausgeschlagen hätten. Vor allem hatte es Dora nicht. Vor allem sie nicht.
Der Rappe wandte ihm den Kopf zu, als er nähertrat. Wulf fuhr kurz über die Stirn des Pferdes.
»Ah, Sleip, wir waren zu lange fort«, murmelte Wulf.
Der Rappe ließ ihn nicht aus den Augen. Das Feuer drinnen schien auf sie, umrahmte sie gegen den dunklen Wald hinter ihnen.
Ohne die Zügel des Pferdes aufzunehmen, ging Wulf zum Stall, wohin ihm Sleip folgte. Er öffnete die Tür, ließ das Pferd an seinen angestammten Platz gehen, wo Arnulf ihm bereits am Morgen Wasser und Heu hingetan hatte. Wulf streifte ihm Sattel und Trense ab. Er legte das Zaumzeug achtlos an die Wand. Er würde sich später darum kümmern. Sleip war gut versorgt, so dass er durch die zweite Tür zurück ins Haus ging. Nachdem er die andere Tür auch geschlossen hatte, stand er für kurze Zeit am Feuer und blickte auf seine Frau. Die Unordnung, die der Kampf angerichtet hatte, interessierte ihn nicht. Er sah nur sie.
Sie hatte ihre Wahl getroffen. Seinen Bruder abzuweisen, bedeutete alle hier abzuweisen. Zumindest die meisten. Wenige hielten zu Wulf. Sie respektierten ihn, aber trauten ihm nicht. Und Wulf erging es ebenso.
Sie würde keine Sklavin sein. Aber seine Frau zu sein, war nicht bedeutend einfacher.
Doch sie hatte sich entschieden.
Er wickelte das Bündel auf, nahm den Armreif.
Als er sich zu ihr niederließ, zögerte er noch kurz, ergriff dann aber ihr Handgelenk. Der Verschluss klickte kurz, das Licht des Feuers brach sich im Gold. Sie würde den Reif nie selbst abnehmen oder abstreifen können, er war zu eng, der Verschluss nur mit beiden Händen zu öffnen.
Er betrachtete den Reif kurz, ihren Arm. Er hatte sie in Arnulfs Haus so gesehen. Mit dem Reif. Es schien richtig.
Wulf umfasste ihre Schultern mit dem einen, ihre Beine mit dem anderen Arm und zog sie zu sich heran. Ihr Kopf lehnte an seinem Oberarm.
Trotz Harolds Übergriff roch sie gut. Seife schien ihr kein Fremdwort. Selbst ihr Haar fiel feucht über ihre Schultern. Er bemerkte die geraden Enden. Jemand schnitt ihr das Haar. Keine der Nordfrauen hier tat das, sie ließen es wachsen. Obwohl sie während der Fahrt nur Suppe zu sich genommen hatte, spürte Wulf, dass sie gut genährt war. Kein Zeichen von Armut. Und sie sprach nicht das Angelsächsisch der niederen Leute. Wulf konnte unterscheiden, er hatte unter dem Kaiser von Byzanz lange mit Angelsachsen gedient. Er hatte ihre Sprache gelernt, ihre Kultur und gesellschaftliche Gliederung.
Der Daumen jener Hand, die ihre Beine hielt, strich über ihre nackte Haut. Sie war weich, so weich wie jene der adligen Frauen in Byzanz, die ihre Zeit in Bädern und bei Massagen verbrachten.
Wulf atmete lang und tief aus.
Diese Angelsächsin hätte einiges Geld eingebracht, hätte man sie weiterverkauft. War sie zudem in der Lage, einen Mann zufriedenzustellen, stieg ihr Preis ins Unermessliche. Dies herauszufinden, würde er später Gelegenheit haben.
»Menschen leben, um zu sterben ...«
Wulfs Blick schnellte zu ihren Lippen. Die Worte waren leise, doch deutlich. Ihr Blick war starr, auf das Feuer geheftet, dessen Wärme sie nun, da die Tür wieder verschlossen war, erreichte und ihre Füße und Beine wärmte. Sie sprach noch immer angelsächsisch, wissend, dass auch er sie verstand.
»Wir leben, um zu büßen ... Wir werden ewig für meine Rettung büßen ... Du hättest mich sterben lassen sollen ... sterben ...«
»War es das, was du wolltest?« Seine Worte veranlassten sie, ihren starren Blick zu lösen. Ihren dunklen Augen sahen ihn einen Moment lang an.
»Was glaubst du?« Da war kein Vorwurf in ihrer Stimme. Sie erwartete auch keine Antwort.
»Nixe«, sagte er dann, »was auch immer ich vom König halte, ich werde mich seinem Willen beugen. Und das solltest auch du tun. Es gibt kein Zurück mehr.«
»Muss ich mich dem Willen deines Bruders etwa auch beugen?« Diesmal war es ein Vorwurf.
Er antwortete nicht, stieß nur verärgert die Luft aus.
»Verzeih«, sagte sie müde. Sie krallte eine Hand in sein Hemd, um sich in eine bequemere Position zu bringen. Sie musste nach ihrem Ohr greifen, lehnte sich mit der Hand daran wieder kraftlos an ihn.
»Bist du gesprungen, bevor das Boot unterging?«, wollte er wissen. Er trug ihr den Vorwurf nicht nach.
»Ja.«
»Sie haben dich geraubt?«
Sie nickte leicht.
»Wo?«
»Jorvik.«
Wulf ließ die Antwort kurz auf sich wirken. Ein langer Weg lag hinter ihr. Sie war fernab ihrer bekannten Welt. Es gab kein Zurück mehr. Nicht jetzt, nicht im Frühjahr. Niemals.
Er sah, dass sie ihr Handgelenk betrachtete, es leicht hin und her bewegte.
Dann blickte sie ihn fragend an.
»Später, Nixe. Wenn die Zeit gekommen ist.«
Sie sagte nichts darauf, schwieg einen Moment, als müsse nun sie etwas wirken lassen. Robyn wusste, dass es eine Hochzeitsgabe war. Die Angelsachsen teilten einen solchen Brauch mit den Nordmännern. Es band sie an ihren Mann, aber gleichzeitig ehrten die Männer ihre Frauen auch damit. Wulf gab ihr das Recht und sein Einverständnis hier zu sein, er akzeptierte, dass sie für sein Haus verantwortlich sein würde. Und er tat all das, ohne sie zu kennen. Ohne zu wissen, ob sie würdig dafür war.
»Wer ist Dora?«, fragte sie dann leise, obwohl sie die Antwort bereits kannte.
»Jene, die deinen Platz vorher einnahm. Auf dieselbe Weise dazu kam. Unter Zwang.«
»Dein Vater hat dich zweimal gezwungen eine Frau zu nehmen?« Robyn quälte jedes ihrer Worte, der Schmerz wurde nur durch ihre stützende Hand etwas gedämpft.
»Ja, zweimal, Nixe. Aber fast will mir scheinen, das zweite Mal bin ich nicht ganz unschuldig an der Situation.«
»Bereust du deine Entscheidung?«
»Dich zu retten?« Er sah sie erstaunt an.
Sie nickte leicht.
»Was glaubst du?«, wiederholte er ihre eigenen Worte, doch ihre Antwort überraschte ihn.
»Es tut mir leid.« Ihre Stimme war so leise, dass es die Ehrlichkeit nur noch mehr hervorhob.
»Sieh mich an, Nixe«, forderte er sie auf. Sie leistete ihm Folge.
»Warum bist du gesprungen?«, verlangte er ein zweites Mal zu wissen.
»Um zu st...«
»Denk nach, Nixe«, unterbrach er sie jedoch, »geh in dich, geh tief in dich und sag mir, warum du gesprungen bist!«





