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– Ich glaube niemandem, der mit meiner toten Oma sprechen kann, unterbrach sie mich harsch.
Wenn ich mich nicht täuschte, schwitzte sie langsam auch. Ihr Geruch vermischte sich mit dem Geruch des Waldes und mein Herz pumpte schwer, also hielt ich den Mund und atmete durch die Nase ein.
In der nächsten halben Stunde schwiegen wir. Schließlich waren alle Sonnenblumen, die wir im Frühling in Gummistiefeln in Übergröße gepflanzt hatten, im Transporter. Da ich keinen Führerschein hatte, setzte sich Dani ans Steuer und wir fuhren los.
Ihr glaubt jetzt vielleicht, dass ich einfach nicht weiß, wann genug ist, aber so ist es nicht.
– Es wird so viel Geld in die Raumfahrt gesteckt, sagte ich, da muss doch was dran sein. Glaubst du wirklich, dass die Erde von rund zehn Trillionen Planeten der einzige ist, auf dem es Leben gibt?
– Nein, sagte sie. Ich glaube nur nicht, dass die anderen sich für uns interessieren. Oder dass wir uns für sie interessieren sollten. Wir haben hier eindeutig wichtigere Probleme.
– Auf der Venus zum Beispiel gibt es ja, fing ich an, doch Dani unterbrach mich wieder.
– Auf der Venus, Alter, auf der Venus ist es viel zu heiß für irgendetwas. Hältste mich für blöd, oder was? Auf der Venus hat es mehr als vierhundert Grad, da lebt gar nix.
– Unsere Fantasie reicht vielleicht nicht aus, gab ich zu bedenken. Wir stellen uns Leben immer so ähnlich vor wie unseres. Nicht wie schwingende, entkörperte Wesenheiten, die sich von Hitze ernähren, weil Hitze ja Energie ist. Könnte doch sein, oder? Die DNS ist nicht die einzige Form von belebter Information. Vielleicht sind da Energiewellen mit Bewusstsein, die mit Leichtigkeit Millionen von Kilometern zurücklegen und sich bei Bedarf materialisieren können. Und die genau wie viele frühe Kulturen die Sonne anbeten. Die auch ein Interesse haben, das Hakenkreuz zu entnazifizieren. Eher so spielerisch-kreatives Interesse als ein ideologisch-ästhetisches.
In der Stadt waren wie erwartet kaum Menschen auf den Straßen. Sonntagnacht, Montagmorgen. Dani nahm ihr Telefon und benachrichtigte die anderen über einen vereinbarten Code. Dann schaute sie mich an.
– Du meinst, diese Aktion ist eigentlich gar nicht unsere, sondern die von Venusbewohnern?
– So stark würde ich es nicht simplifizieren, sagte ich.
– Wir wollen den Rechten dieses Symbol nicht mehr überlassen. Wir wollen uns nicht mehr mit ihnen auf Demos prügeln. Wir wollen dem Gegner Boden entreißen, wir haben lange genug über das alles diskutiert, und jetzt faselst du auf einmal die halbe Nacht von Außerirdischen. Ist bei dir eigentlich noch alles klar?
– Ja. Glaube schon, fügte ich nach einer Pause hinzu.
Ich hatte sie für intelligenter gehalten. Sie bremste ab und fuhr nun rückwärts in die enge Gasse, die auf den Rathausplatz führte. Noch bevor der Motor aus war, standen unsere Leute bereit.
Die Bleiplatten lagen schon auf dem Platz, wir fuhren die Ladefläche auf halbe Höhe herunter, jeder Handgriff saß, war häufig genug besprochen worden. Es war, als hätten wir einen Tanz choreografiert. Innerhalb von vier Minuten standen 750 Sonnenblumen, die meisten von der Sorte Ring of Fire, in Gummistiefeln in Größe 52 auf Bleiplatten festgeklebt auf dem Rathausplatz. Eine weitere Minute später hatten wir auch den Stacheldrahtzaun um die Hakenkreuzform gezogen, die wir mit den Gummistiefeln gelegt hatten. Die Helfer verschwanden. Fast zeitgleich ging eine anonyme Mitteilung an die Presse raus, am Horizont zeigte sich das erste zarte Grau, das sich noch nicht entscheiden konnte, rot zu werden.
Dani grinste, die Selbstgedrehte zwischen den Lippen, als sie den Motor anließ.
– Findest du es nicht komisch, dass man Zweifel säen möchte, aber selbst nicht zweifelt?, fragte ich.
Jetzt war sie genervt, als hätte die gelungene Aktion eine Art Schutzpanzer entfernt. Sie schnaubte, hob an, etwas zu sagen, schwieg dann aber grimmig.
Ich widerstand der Versuchung. Als sie an einer Ampel hielt, stieg ich aus. Ich wartete, bis der Transporter außer Sichtweite war. Dann sah ich mich um. Keine Zeugen. Ich löste den Körper auf, ich brauchte ihn nicht mehr.
DIE BIBELWERKSTATT
Hillalum wusste nicht, ob er gekommen war, um zu klagen, um anzuklagen oder um Trost zu finden.
Drei Jahre waren vergangen, seit sein Sohn gestorben war, ein Jahr, seit seine Frau ihn verlassen hatte, ein Monat, seit sein Vater erst seine Mutter und dann sich selbst getötet hatte.
Warum?, fragte er. Warum ich? Was habe ich getan? Wie oft habe ich Zuflucht gesucht bei Dir, aber Du hast sie mir nicht gewährt. Einen Menschen nach dem anderen hast Du mir genommen. Sieh, ich bin allein und völlig hilflos. Was willst Du von mir? Was?
Er fragte sich, ob es Hoffnung war, die ihn zur Gottmaschine gebracht hatte, oder Verzweiflung. Vierzehn Tage Fußmarsch hatte er hinter sich, vierzehn Tage, in denen er immer wieder fortgejagt worden war, wenn er um Essen gebeten hatte. Man hatte ihn für einen Vagabunden gehalten, für einen Dieb, für einen Bettler. Vierzehn Tage hatte er sich von dem ernährt, was er in den Abfällen gefunden hatte, und von den Beeren und Wurzeln im Wald. Zwei Tage war er danach angestanden, um Einlass in die Maschine zu erhalten. Zwei Tage, in denen er mit keinem der übrigen Wartenden gesprochen hatte. Wir sind gleich, hatte Hillalum gedacht, doch es hilft nicht, ich bin getrennt von ihnen. Das Leid verbindet uns nicht.
Als er schließlich die Gottmaschine betrat, sank er auf die Knie.
Zunächst sollen die Menschen es Bibelwerkstatt genannt haben, doch heute hieß das Ladenlokal nur noch Gottmaschine. Vor der Bibelwerkstatt soll ein Schuster darin gewesen sein, doch das ist so lange her, dass niemand mehr lebt, dessen Eltern sich daran hätten erinnern können. Nach dem Tod des Schusters hatte ein Schreiber, dessen Name nicht erhalten ist, den Laden übernommen. So wie Luther die Bibel in die Sprache des Volkes übersetzt hatte, übersetzte dieser Bibelschreiber sie in die Sprache seiner Kunden.
Der Bibelschreiber hatte einen Blick für das feine Spitzenwerk der Seele, hieß es. Er setzte sich mit seinem Kunden hin und plauderte. Niemand kam sich ausgefragt vor, niemand hatte das Gefühl, der Bibelschreiber fühle ihm auf den Zahn oder trachte nach seinen Geheimnissen.
Der Bibelschreiber hörte die Sehnsucht der Menschen, die Sehnsucht nach Gott, nach Sinn, nach Frieden, nach Gerechtigkeit. Er hörte in ihren Worten das Leid, den Tod, den Verlust, die Verzweiflung, die Angst. Er hörte ihre Verlorenheit in diesem Tunnel aus Zeit, in dem sie kein Licht erkennen konnten. Er hörte, wie sie glaubten, alles würde sich fügen, wenn sie nur Gott fänden, wenn der Mann nicht mehr trinken würde und anfinge zu arbeiten, wenn die Kinder aufhörten, ins Verderben zu rennen, und der Hunger keinen Platz mehr hätte im Heim.
Er hörte, wie sie von einer Stimme gerufen wurden. Sie wurden gerufen, deswegen kamen sie zu ihm, aber sie kamen auch, weil sie sich mehr erhofften als nur diese Stimme.
Sie wollten dieses Leben meistern, als wäre es ein Handwerk, das man erlernen könnte. Er hörte sie alle, wenn sie auf der Holzbank saßen: breitbeinig, zurückgelehnt, gestikulierend, schüchtern, verängstigt, wütend. Anklagend, erschöpft, bewegungslos, herausfordernd, weinend, lachend, fluchend, Trost suchend. Er hörte sie alle, als sei er das Ohr Gottes.
Und wenn sie gegangen waren, setzte er sich an den Tisch und schrieb. Er schrieb das heilige Buch in einer Sprache, die jene Saite im Menschen zum Klingen brachte, die ihn mit Gott verband. Er fand die geheime Melodie in den Wörtern und Sätzen, die auch den größten Zweifler unter ihnen berührte und ihn die Gegenwart einer Kraft spüren ließ, die schon immer da gewesen war.
Die Bibel konnte das Chaos nicht entwirren, denn dann hätte sich die Welt geändert. Sie lieferte keine Antworten, und sie erlaubte nicht, sich in ihr vor der Welt zu verstecken. Wer es versuchte, wurde Wort für Wort gefunden.
Der Bibelschreiber bot keine Lösung, sondern Licht. Ein Licht aus Worten, die so fein gewählt waren, deren Klang so genau auf den Hörer abgestimmt war, dass sie ihren Weg ins Herz fanden.
Über siebzig Jahre lang soll der Bibelschreiber dort gearbeitet haben, seine Augen und Ohren sollen schlechter geworden sein, er soll immer länger für die Bücher gebraucht haben. Alle, die sich an ihn erinnern können aus einer Zeit, in der sie kleine Kinder waren, sagen, dass er damals über hundert gewesen sein muss.
Nachdem man den Bibelschreiber eines Morgens tot auf seiner Holzbank sitzend gefunden hatte, wurde die Schreibstube zu einem Ort, der die Menschen berührte, wie die Bücher sie berührt hatten. Wer eine halbe Stunde dort blieb, spürte die Melodie Gottes in seinem Blut, spürte, wie seine Widerstände sich auflösten und er Vertrauen fand, sich den Gezeiten des Lebens auszuliefern.
Wie bei den Büchern auch, schien es Menschen zu geben, die diese Melodie besser hören konnten als andere. So wie manche schneller liefen, höher sprangen oder rascher rechneten, so gab es wohl Menschen, die begabter waren, das Lied Gottes zu hören.
Manche behaupteten, wenn es diese Melodie wirklich gäbe, müssten alle sie gleich gut hören können. Die Gottmaschine, wie die Bibelwerkstatt jetzt genannt wurde, sei nichts als Blendwerk. Und selbst wenn sie kein Blendwerk sei, dann hieße das immer noch nicht, dass die Melodie wirklich von Gott kam. Die Gottmaschine, sie nannten es so, weil es die eigene Kraft verstärkte, so kümmerlich sie auch sein mochte.
Hillalum wartete. Er hoffte, dass irgendetwas in ihm sich aufrichten würde. Er dachte an seinen Sohn. An dieses winzige Wesen, das er in seinen Armen gehalten hatte. Er dachte an das Gefühl, als hätten seine Grenzen sich aufgelöst. Als hätte er nicht nur einen Sohn bekommen, sondern als wäre die ganze Welt zu seiner Familie geworden. Drei Wochen hielt dieses Gefühl an. Drei Wochen, dann hörte Enki einfach auf zu atmen.
Zunächst schien es, als würde sein Tod Rahel und Hillalum fester zusammenschweißen. Ein Jahr lang lehnte sich jeder am anderen an, und gemeinsam fielen sie nicht um.
Hillalum konnte nicht sagen, wann sie angefangen hatten, sich voneinander zu entfernen, wann die Gespräche über ein zweites Kind begonnen hatten, wann die Ängste, Hoffnungen und Wünsche sich zwischen sie gedrängt hatten. Bis Rahel schließlich ging.
Auf den Tag genau elf Monate nachdem Rahel gegangen war, war Hillalums Vater aufgetaucht, der Mann, der seine Mutter noch vor seiner Geburt verlassen hatte, weil er sie für untreu hielt. Nach 26 Jahren war sein Vater aufgetaucht, mit einer Axt in der Hand, und hatte Hillalums Mutter erschlagen, war dann in den Wald gelaufen und hatte sich erhängt.
Hillalum betrat also die Gottmaschine und sank auf die Knie.
– Warum?, schrie Hillalum. Warum ich?
Wem?
– Was?
Wem ist das passiert?
– Mir. Mir. Warum mir? Warum hast du mir alles genommen?
Wem?
– Mir.
Wer bist du?
– Hillalum. Dein Diener. Vielleicht. Ich weiß es nicht mehr. Was habe ich getan? Wo habe ich mich schuldig gemacht? Wo habe ich gesündigt?
Ich kenne keinen Hillalum. Es gibt niemanden, der gesündigt haben könnte.
Hillalum schrie, er schrie so laut, dass er dachte, seine Lungen würden bersten. Er wollte gesehen werden, gehört, verstanden. Er schrie und weinte. Er schlug auf den Holzboden. Er füllte den ganzen Raum mit seinem Leid, doch niemand sah ihn.
Wann soll dieser Hillalum denn entschieden haben, geboren zu werden? Wann soll er sich entschieden haben zu wachsen? Wann soll er sich entschieden haben, zu einem Mann zu werden und seine Lenden mit Kraft zu gürten? Wann soll er sich entschieden haben zu träumen, und wann soll er entschieden haben, was ihm im Traum erscheint?
– Herr, habe ich nicht immer zu Dir gebetet?
Wer soll das gewesen sein, der zu mir gebetet hat?
– Hillalum, krächzte Hillalum.
Sein Hals brannte, er fühlte sich, als hielte ihn nichts mehr zusammen, als könnte er jeden Moment auseinanderfallen. Und vielleicht fiel er auseinander. In einen Teil, der ein Kind war, das mit brombeerverschmiertem Mund in die Arme seiner Mutter lief. Einen Teil, der Rahel sah und sofort wusste, dass er sein Leben mit ihr teilen wollte, teilen und weitergeben. Einen Teil, der in der Schule saß und das Gefühl hatte, die Lehrer würden ihm seine Zeit stehlen und sein Leben nehmen. Einen Teil, der stolz und hochmütig war. Einen Teil, der mahnend und vorsichtig war. Einen Teil, der mutig und vertrauensvoll war. Einen Teil, der an Gott glaubte, und einen, der zweifelte. Einen Teil, der Zuflucht suchte, und einen Teil, der fluchte.
Hillalum zerbrach. Er schrie noch einmal seinen Namen, doch er wusste nicht mehr, wer das sein sollte. Hillalum. Nur dieses Fleisch und diese Knochen, die sich auf dem Boden hin- und herwarfen?
Was hatte ihn zusammengehalten?
Wem ist das widerfahren?
Im Traum ist man meist man selbst, aber man ist gleichzeitig auch all die anderen. Man ist die anderen, erlebt sie aber als getrennt von sich selbst. Man ist das Theater, die Bühne, die Ausstattung, der Regisseur und alle Schauspieler gleichzeitig. Hillalum. Ich bin hier.
Wenn man am Ende der Zeit angekommen ist, am Ende der Zeit Hillalums, wird es ein Erwachen geben für jemanden, der nie Hillalum gewesen ist.
Ein König mag glauben, dass er ein Reich hat. Doch vielleicht ist es das Reich, das einen König hat.
Hillalum mag daran zweifeln, dass er eine Seele hat.
Die Seele zweifelt nicht daran, dass sie einen Körper hat.
Du bist nicht dieser Körper. Was wäre anders, wenn man dir eine Hand abhacken würde? Du würdest dich immer noch Hillalum nennen. Du bist auch nicht deine Gedanken. Deine Gedanken haben sich geändert, immer wieder. Du bist nicht, was du siehst, denn auch das hat sich stets geändert. Du bist nicht, was du hörst. Und du bist auch nicht, was du fühlst. Nicht die Freude und nicht der Schmerz. Du bist. Ein Teil. Ich bin. Ein Teil.
Auch dort, wo du Schatten siehst, ist Licht. Licht, das woanders hinfällt.
Du bist. Der Atem. Die Zeit. Das Licht.
Es hat nie einen Hillalum gegeben. Es gibt keine Tropfen im Ozean.
Ich bin. Die Schöpfung. Das Licht. Das Leben.
Der Tod des Todes.
Du bist.
Ich bin.
Das Licht und der Atem und der Schatten.
Du weißt.
Jeder weiß.
Alles weiß.
Alles hört.
Alles.
Nichts.
Alles.
Eins.
DREI SEITEN
Vergiss es, hatte ich gedacht, als er mir die drei Seiten zeigte, vergiss es, das wird nie was. Das Bild, wie er eine der Ecken des Teppichs hochhob und diese drei Seiten Papier hervorholte, habe ich lange Zeit nicht vergessen, bis sich dann dieses andere davorschob.
Wenn du schreibst und veröffentlicht wirst, finden sich Menschen, die auch schreiben. Du ziehst sie an. Die Leute kommen zu dir, zeigen dir ihre Texte. Sie erwarten etwas von dir, Kritik, Lob, Aufmunterung, Mut, Hoffnung, Licht, Liebe, Kontakte zu Agenten und Verlagen oder auch nur das Gefühl, dass da jemand ist, der versteht. In jedem Fall wollen sie deine Aufmerksamkeit.
Ich habe in den Jahren seit meinem ersten Buch viele Menschen kennengelernt, die schrieben oder schreiben wollten. Ich habe Kurzgeschichten, Gedichte, Romananfänge gelesen. Bei den meisten Texten wusste ich nach zehn Zeilen: Das wird nichts. Kein Feuer, kein Mut, keine eigene Sprache, keine Tiefe, kein Vertrauen.
Nicht alle Autoren lesen, was sie da aufgedrängt bekommen, und ich habe ein paar Jahre gebraucht, um einen Umgang mit diesen Texten und Menschen zu finden, der weder anstrengend noch verletzend ist.
In den 90ern habe ich gesehen, wie ein Fan Henry Rollins bei einer Spoken-Word-Show unterbrochen hat und ihm eine Kassette geben wollte. Rollins lehnte kurz und bestimmt ab. Der Fan versuchte es noch einmal. Rollins riss ihm die Kassette aus der Hand, warf sie wütend weg und sagte irgendetwas Beleidigendes. Danach machte er weiter, als wäre nichts geschehen. Das Publikum brauchte ein, zwei Minuten, bis es sich wieder auf die Show konzentrieren konnte. Der Fan fühlte sich sicher länger schlecht.
Ich bewundere Rollins bis zum heutigen Tag und ich habe ihm viel zu verdanken. Er hat mein Verständnis davon, was da auf der Bühne mit den Worten passiert, deutlich stärker geprägt als jeder Schriftsteller, den ich gehört habe.
Aber ich wollte nie so sein mit den Menschen, die zu mir kamen. Er vielleicht auch nicht. In einem seiner frühen Bücher schreibt er, wie er Fanpost beantwortet, beantworten muss, weil er sieht, wie das Blut aus den Umschlägen tropft.
Die Menschen kommen zu dir, weil sie dich bewundern, weil sie glauben, du wüsstest etwas, das sie nicht wissen. Ich wollte nicht abweisend sein, nicht kränkend, aber ich wollte mir auch keine Arbeit aufhalsen und mich länger mit diesen Texten befassen als notwendig.
Schick es mir, sagte ich immer, wenn mich einer nach einer Lesung ansprach, schick es mir, doch das beinhaltet die Gefahr, dass ich es lese und es meinen Geschmack nicht trifft. Mein Geschmack ist natürlich kein Qualitätsurteil, und ich begründe ihn auch nicht weiter. Doch wenn es mir gefällt, tue ich, was immer ich für dich tun kann.
Das war nicht gelogen. Es passierte nur so selten, dass mir ein Text gefiel. Doch wenn mir der Text gefiel, tat ich alles, was in meiner Macht stand, damit er mehr Leser fand. Was in der Regel nicht viel war. Aber immerhin hat es einem Kollegen seinen ersten Buchvertrag eingebracht. Einem anderen den Abdruck einer Kurzgeschichte in einer Anthologie. Was ein Start hätte sein können in eine Schriftstellerlaufbahn, doch er hat es vorgezogen, Lehrer zu werden, weil es ihm zum Schreiben zu gut ging, wie er sagte.
Ich habe etwas gelernt. Ich kann diese Leute von Weitem erkennen, an ihrer Körperhaltung, an ihrem Gesichtsausdruck, an ihrer Nervosität oder spätestens daran, dass sie warten, bis die anderen verschwunden sind, bis alle Bücher signiert sind, alle Gespräche beendet, und sie mich einen Augenblick lang ganz für sich allein haben. Und meistens konnte ich auch sehen, dass der Text mir nicht gefallen würde.
Ich glaubte, ich wüsste was. Ich hätte etwas verstanden.
Arbër kannte ich nicht, weil er schrieb, sondern weil er sich viel herumtrieb. Jeder im Viertel kannte Arbër. Er stand im Kiosk und redete, er stand im Imbiss und redete, er stand vor dem Handyladen, vor der Eisdiele, meist erst ab Mittag. Abends trieb er sich noch viel mehr herum, aber das bekam ich nicht mit, weil ich nur noch selten abends wegging.
Arbër war Ende zwanzig, er hatte gekellnert, Pakete ausgefahren, Regale aufgefüllt, hatte an einer Supermarktkasse gesessen, hatte beim angesagten Biobäcker im Viertel bedient, weil die ihn charmant fanden. Aber sie konnten nicht damit umgehen, dass er häufig fünf Minuten zu spät kam.
Irgendeine Arbeit fand sich immer, aber er blieb nie lange. Er mochte es, draußen zu sein und mit Menschen zu reden. Wenn ihm zwei, drei, vier Leute zuhörten, während er in einen Monolog verfiel, war das Glück für ihn. Wie schön, dass wir hier stehen und reden können.
Er war auch ein guter Zuhörer, ein verdammt guter. Vielleicht noch viel besser als ich, der sich immer Stoff für eine Geschichte erhofft. Er konnte sich stets an Details erinnern, die man ihm vor Monaten erzählt hatte.
Meistens war Arbër gut gelaunt und er hatte ein Talent, seine Laune auch auf andere zu übertragen. Wenn man zehn Minuten mit ihm an einer Straßenecke gestanden hatte, erschien das Leben hinterher meist leichter.
– Wie machst du das eigentlich?, fragte er einmal. Du sitzt jeden Tag allein da und schreibst?
– Ja.
Er schüttelte den Kopf.
– Respekt, sagte er. Ich habe noch nie was von dir gelesen, aber Respekt, abi. Wenn meine Mutter nicht da ist, mache ich immer den Fernseher an, damit ich mich nicht allein fühle.
Er wohnte mit seiner Mutter in einer Dreizimmerwohnung in einer Straße, in der die Mieten noch nicht gestiegen waren. In seinem Zimmer standen immer leere Bier- und Weinflaschen und auf dem Couchtisch lag immer alles, was man brauchte, um einen Joint zu drehen. Manchmal gab es auch Schnelles daneben.
Seine Mutter freute sich, wenn jemand kam, nie schien es ihr zu viel zu werden und immer gab es Gebäck oder Süßkram, oft presste sie Orangensaft für uns. Sie konnte wenig Deutsch, aber sie kannte alle Namen von denen, die öfter als einmal bei ihr gewesen waren. Auch Jahre später noch.
Es war dann nicht mal Arbër selbst, der mir erzählte, dass er einen Roman schrieb. Es war der Betreiber vom Kiosk gegenüber der Zoo-Bar.
– Hast du schon gehört, Arbër schreibt ein Buch.
– Echt? Worüber denn?
– Über Gott und die Welt, kennst ihn doch.
Ich kannte ihn, ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er keinen Roman schreiben würde.
Doch ab diesem Tag erzählten mir die unterschiedlichsten Leute, dass Arbër an einem Roman arbeitete. Der wird schon wissen, warum er ausgerechnet mir nichts davon erzählt, dachte ich.
Ich kannte das von Romananfängen, die mir Menschen zum Lesen gaben und die mir sogar gefielen, aber dann war der Mensch nicht in der Lage, den Roman auch zu Ende zu bringen. Es mangelte ihm an Durchhaltevermögen, an Kraft, an Konzentration, an Disziplin, was auch immer.
Als ich an einem Nachmittag eine Szene zum fünften Mal umgeschrieben hatte und sie mir immer noch nicht gefiel, gab ich auf, ging raus, eine Runde drehen. Arbër stand vor Aris Kiosk, und ich konnte eine Portion gute Laune gebrauchen.
Eine halbe Stunde später saßen wir bei ihm, er hatte kein Gras einstecken gehabt und wir hatten beide Lust zu rauchen.
– Arbër, die Leute erzählen, du würdest an einem Roman arbeiten, sagte ich, während er baute. Vielleicht, weil ich immer noch schlechte Laune hatte und ihn ein wenig in Verlegenheit bringen wollte.
– Das stimmt, abi, sagte er. Es war Stolz in seiner Stimme. Nicht, dass ich dir Konkurrenz machen möchte, abi, schob er hinterher.
Er sagte immer abi zu mir, was auf Türkisch großer Bruder heißt. Immerhin war ich über zwanzig Jahre älter als er.
– Worüber schreibst du denn?
– Über das Viertel, über die Leute hier, über mein Leben.
– Hast du denn schon etwas, was man lesen kann?
– Ja.
– Darf ich mal sehen?
– Klar.
Er drehte inside out. Die Klebekante lag außen, er leckte an der Stelle, an der er das Blättchen über die Klebekante gelegt hatte, und verbrannte dann den überstehenden Teil, legte den Joint auf den Tisch, stand auf und stellte sich neben den Teppich, auf dem der Couchtisch stand. Er bückte sich runter, hob eine Ecke des Teppichs und zog drei Blätter hervor, die er mir grinsend gab.
Drei Blätter, weiß, unliniert und beidseitig eng mit Kuli beschrieben. Also bestenfalls sieben oder acht Buchseiten. Und ich kannte ihn. Vergiss es, dachte ich, vergiss es, das wird nie was. Aber ist ja nicht schlimm, muss ja nicht jeder ein Schriftsteller werden.
Dieses Bild, wie er vom Teppich runtergeht, wie er sich bückt, wie er diese drei Blätter hervorholt. Ich habe es oft vor mir gesehen, wenn ich an Arbër gedacht habe.
Ich überflog die Seiten, sie schienen mir gut geschrieben, aber ich glaubte nicht, dass daraus ein Buch werden würde.
Es war nicht so, dass ich Arbër in nächster Zeit weniger häufig in den Straßen des Viertels gesehen hätte. Monatelang dachte ich nicht mehr an diese drei Seiten. Ich fragte Arbër auch nie, wie es mit dem Schreiben lief, weil ich ihm ersparen wollte, mir zu erzählen, dass es immer noch nicht mehr war als diese drei Seiten.
Es war etwas mehr als ein Jahr später, als er mir erzählte, dass er jetzt einen Vertrag unterschrieben hatte, bei einem angesehenen Verlag, dessen Programmleiterin er eines Abends im Rosenfeld beim Cocktail kennengelernt hatte.
Ich beglückwünschte ihn und bot ihm Hilfe an, falls er welche brauchen sollte. Ein Angebot, auf das er nie zurückkam und das mir peinlich wurde, während die Dinge sich weiterentwickelten.