Fremdenlegionär Kirsch - Eine abenteuerliche Fahrt von Kamerun in die deutschen Schützengräben in den Kriegsjahren 1914/15

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Ich beschäftigte mich auch viel mit den Pflanzen und Tieren, die rundum zu sehen waren. Es war da eine besondere Art Eidechsen. Der Kopf war rot, der mittlere Teil gelb und der Schwanz schwarz. Das Weibchen schillerte grün. Diese drolligen Tiere trieben sich in der Sonne umher, und die Männchen stritten sich um die Weibchen. Wenn man langsam auf eine Eidechse zuging, »pumpte« sie; sie richtete sich auf den Vorderbeinen auf, hob und senkte den Kopf und blähte sich auf. Wenn zwei Männchen kämpften, schlugen sie sich mit den Hinterteilen. Hunderte von Ameisenlöwen hatten ihre Trichter im Sand. Ich war von klein auf ein großer Tierfreund gewesen und kann viel Zeit damit zubringen, Tiere zu beobachten.
Wir hörten von den Ereignissen des Krieges nur das, was uns der »Commissioner« mitzuteilen für gut fand. Es ist möglich, daß er selber den Krieg so sah, wahrscheinlicher aber ist, daß er log, wenn er uns mit geheucheltem Bedauern mitteilte, daß es für Deutschland sehr schlecht stehe. Die englischen Zeitungen, die wir zu lesen bekamen, wußten nur von Niederlagen der Deutschen zu berichten, von Unzufriedenheit und Uneinigkeit im deutschen Volk und von dem einmütigen Willen der ganzen Welt, Deutschland zu vernichten. Mitunter aber bekamen wir von der Baseler Mission Schweizer Zeitungen, nach denen die Lage Deutschlands ganz anders aussah. Als der Beamte merkte, daß wir diese Zeitungen bekamen, verbot er das. So kam es, daß die Sorge um unser Vaterland immer als Gespenst bei uns stand, obwohl wir genug mutige und erfahrene Männer unter uns hatten.
Es war aber auch besonders schwer, an deutsches Waffenglück zu glauben, wo wir sehen mußten, daß Togo von der Übermacht erdrückt wurde. Vielleicht dachte es sich der Herr Commissioner ebenso leicht, Deutschland zu überwinden. In seinem Gehirn ging das so vor: Togo; rechts Französisch-Dahome, links die britische Goldküste: Togo kaputt. Deutschland; rechts Rußland, links Frankreich und England, also Deutschland kaputt. Ich möchte sein Gesicht jetzt einmal sehen, wenn er die deutschen, österreichischen, bulgarischen und türkischen Fähnchen auf seiner Landkarte weit nach rechts und links stecken muß. Aber vielleicht muß er das gar nicht, und die englischen Zeitungen verschonen ihn mit Nachrichten über die Waffenerfolge der Deutschen und ihrer Verbündeten.
Eine Beruhigung war es für uns, daß wir Briefe nach Hause schreiben durften. Ich schrieb meinen Eltern, daß ich gesund in Accra sei.
Getrennt von den andern hielt sich der Rechtsanwalt. Er saß meist auf seiner Koje und grübelte. Aber auch ich hielt mich viel allein und spazierte stundenlang im Hof umher, wobei ich überlegte, wie ich wohl von hier wegkommen könnte.
Meine Kameraden merkten bald, daß ich an Flucht dachte, und erklärten mich für verrückt: »Wo willst du denn hin?« sagten sie, von ihrem Skatspiel aufsehend. »Es geht dir nur schlechter, wenn du irgend etwas versuchst.« »Bis dieser Krieg aus ist,« sagte einer scherzhaft, »müssen wir Skat spielen, nachher werden wir's den Engländern schon zeigen.« Wir dachten damals noch nicht daran, daß der Krieg eine Zeit dauern würde, die kein Mensch mit Skatspielen ausfüllen möchte.
Eines Tages ging der Rechtsanwalt auf mich zu, sagte, auch er wolle weg, und teilte mir einen absonderlichen Plan mit: Er wollte sich in einem Reisekorb auf ein Schiff bringen lassen. Ich sagte ihm, daß das Unsinn sei, da jetzt alle Dampfer englische seien und er dann doch gefaßt werden würde. – Ich verriet ihm meine Pläne nicht, weil ich ihn nicht gut genug kannte. Schon wenn die Möglichkeit meiner Pläne bekannt war, konnte man mir auf die Spur kommen, und an eine gemeinsame Flucht durfte ich nur denken, wenn ich einen Menschen fand, der gut zu mir paßte und großen Anstrengungen gewachsen war.
Es gab zwei Wege zur Flucht: an der Küste entlang nach Osten oder Westen oder ins Innere. An der Küste wäre man wahrscheinlich sofort aufgebracht worden, denn die Küste war gut von der Eingeborenenpolizei bewacht. Nach dem Innern aber schien mir eine Möglichkeit zu sein, weil kein Mensch darauf gefaßt war, daß ein Weißer ohne Hilfsmittel in den Busch und in afrikanische Steppen hineinlaufen könnte. Ich aber gewöhnte mich gerade an diese Gedanken, erinnerte mich an meine Wandertage im Hinterlande von Kamerun, nahm mir Thoreaus Bedürfnislosigkeit zum Vorbild und dachte daran, daß Livingstone und viele andere Missionare jahrelang ohne Gepäck durch Afrika gezogen sind. Ich mußte eben wie ein Eingeborener leben, mußte bedürfnislos sein. Das schreckte mich nicht; denn ich war von keiner Gewohnheit abhängig. Schon daß ich Nichtraucher bin, machte mich freier. Alkoholische Getränke waren mir längst verdächtig, und ich hatte in Kamerun beobachtet, daß völlige Enthaltung von Bier, Wein und Whisky zu ungeahnten Anstrengungen befähigt. Was aber das Essen angeht, da hatte ich schon in Deutschland gelernt, daß für den Wanderer nichts erfrischender ist als gute Früchte, Körner und Knollen. Was brauchte ich Kaffee, wenn Bananen am Wege standen, Zucker, wenn mir ein Stengel Zuckerrohr oder wilder Honig geboten wurde! Mixed Pickles, Kaviar, Wurst, Schinken, Sardinen, Neunaugen und all die anderen toten Dinge, die dem Europäer in die Wildnis folgen, mußte ich entbehren und wollte dafür Reis, Negerkorn und Mais, Bataten und Bananen essen, Mangofrüchte und Ananas lutschen, Apfelsinen und Kokosnüsse genießen. Ich mußte jetzt beinahe lachen, wenn ich an den Reichtum von Früchten dachte, den dies Land bot, und an die Umstände, die der Europäer mit seiner Ernährung macht!
Erst wollte ich sehen, ob ich nicht in Togo noch Deutsche träfe, die dem Feinde noch standhielten. Nach Togo konnte es nicht weit sein; denn von Accra konnte man der Küste entlang nach Kidda, von da nach Lome, das waren nur 100 Kilometer. Diese Entfernung mußte man auch im Innern in einigen Tagen zurücklegen können, selbst wenn der Weg Sümpfe und Gebirge umging. Ein »Unmöglich«, wie es meine Landsleute mir entgegenhielten, konnte es für mich nicht geben, obwohl sich bei einem Ausblick aus der Festung dem Auge nur ödes Steppenland bot.
Die einzige Sorge war, einen Ausweg zu finden, wenn in Togo keine unbesiegten Deutschen mehr wären! Das wollte ich mir überlegen, wenn es so weit war, und der erste Schritt schien mir der wichtigste zu sein.
Der deutsche Ingenieur sagte immer wieder: »Im Norden müssen wir uns noch halten.«
Also dachte ich, sollte mein Weg erst nach Nordosten gehen, um den Engländern zu entgehen, und dann nach Osten, zu den Deutschen. Die Wildnis reizte mich mehr, als sie mich schreckte.
Der Kapitän war der einzige Mann, dem ich mich anvertraute. Ich sagte ihm: »Mich sieht der Commissioner nicht mehr lange.« Der alte Herr warnte mich, so wie die andern es taten; aber das schien er nicht ganz aus Überzeugung zu tun, denn er hörte mich stets so nachdenklich und aufmerksam an, und als ich eines Abends mit ihm allein war, sagte er mir mit einer Wärme, die mir noch lange wohl tat: »Kirsch, Sie sind ein wackrer Kerl, ich kann Sie nicht nur warnen und muß Ihnen mal Mut zusprechen. Es ist doch fein, daß Sie an solchem Plan festhalten, und wenn's Ihnen gelingen sollte, alle Ehre, und ich möchte Sie später mal wiedersehen. Ich bin ein alter Mann, aber ich war früher ebenso wie Sie.« Ich fühlte, daß seine Wünsche mich fortan begleiteten.
Eines Tages kam ein Zwischenfall. Der schwarze Koch wurde einem unserer Landsleute frech, und der warf ihn hinaus. Der Kontrolleur aber hatte die Stirn, meinen Landsmann zur Strafe dafür zu verurteilen und ihn acht Tage mit Schwarzen zusammen einzusperren. Wir waren außer uns vor Wut.
Auch ich kam bald mit diesem unverschämten Engländer zusammen. Ich hatte eine Bitte, die er mir in häßlicher Weise ablehnte, wobei er sagte: » Go to hell« … (Fahre zur Hölle). In meinem Ärger entfuhr mir die Äußerung: »Sie sind ja ein feiner Kerl.«
Am nächsten Morgen kamen zwei Aschantisoldaten mit aufgepflanztem Bajonett und brachten mir ein Schreiben, in dem mit höhnischer Höflichkeit geschrieben stand:
»With the Commissioners of Police compliments. Will you kindly call here this morning at nine o'clock. (9 a.m.)
D. Hamilton Venow
A.C.P. «
(Eine Empfehlung vom Polizeivorstand! – Habt die Güte, hier heute früh um neun Uhr vorzusprechen – – –)
Das war die Rache des Beamten.
Ich mußte mich also aufmachen.
Meine Sachen wurden mitgenommen. Ich brauchte aber nicht zu gehen, denn als mich die Neger bis zum Tor gebracht hatten, kam ein Offizier mit einem Auto und rief » Come here«. (Kommt hierher.) Ich mußte neben dem Lenker Platz nehmen und wurde entführt.
Ich wußte nicht, was mit mir geschehen sollte, und meine Kameraden wußten es auch nicht. Zum Glück hatte ich allen noch die Hand gegeben, weil ich eine Ahnung hatte, daß ich sie nicht wiedersehen sollte, und sie halten mich seitdem für verschollen.
Ich saß vorn auf dem Auto, das mich bis zu dem Usher-Fort brachte. Hier wurde ich einem höheren Beamten vorgeführt, der mich in einem unverständlichen Englisch anfuhr, so daß ich nur heraushörte, daß jetzt » war time« (Kriegszeit) sei und Kriegsrecht herrsche. Dann wurde ich zwei schwarzen Soldaten übergeben und wußte nicht, wohin mich die bringen würden. Wie einen Verbrecher nahmen sie mich in die Mitte, und ich mußte zu Fuß durch die Straßen von Accra gehen, wo sich der Neger-Pöbel so benahm, wie Pöbel das überall tut.
Der Weg war weit, und die Sonne brannte heiß, als ich zwischen den beiden Soldaten auf dem Wege entlangschritt. der der Meeresküste nach Osten folgte. Der Staub pulverte, verkrüppelte Bäume standen zu beiden Seiten der Landstraße und streckten, vom Seewind gepeitscht, ihre Äste nach Land zu. Unterhalb brandete der Ozean. Sehnsüchtig sah ich nach einem Dampfer hinaus, der weit draußen auf dem Meere fuhr.
In der Ferne sah ich das Fort Christiansborg, ein altes Schloß, das auf einem Felsenvorsprung liegt. Dorthin sollte ich also gebracht werden. Ich fühlte mich in meinem Recht und war im Innern sehr ruhig.
Ich schritt durch das große Tor an alten Bronzegeschützen vorbei, die noch aus der Portugiesenzeit stammen mochten. Da saßen schwarze Soldaten. Es ging in den Hof hinab und durch eine Umfassungsmauer in einen anderen Hof, der von einem hohen Pfahlzaun umgeben war. In einem Gefängnis mit vergitterten Fenstern wurde ich eingesperrt.
In dem engen Raum, der mich umgab, fand ich eine neue Beschäftigung: Ich sah Spinnen, die in großen Spinngeweben Fliegen fingen, und beobachtete viele kleine, metallisch glänzende Eidechsen, die an der Wand kletterten. Ich fing eine und ließ sie ruhig auf der Hand liegen, band sie mit einem Bindfaden schonend fest und betrachtete sie als meinen Pflegling, für den ich sorgen mußte, indem ich Fliegen fing.
Ich bekam hier kein Bett und mußte auf dem Fußboden auf Stroh schlafen. Alle Entbehrungen aber trug ich gern; denn seltsam: Es war ein erhebendes Gefühl für mich, gegen die Engländer heftig aufgetreten zu sein. So lernte ich, daß Strafe keine Strafe zu sein braucht, und daß Unrecht leiden den Menschen innerlich heben kann.
Nur über die schwarzen Soldaten mußte ich mich ärgern. Wenn sie das Essen brachten, benahmen sie sich gegen den » prisoner of war« (Kriegsgefangenen) so verächtlich wie nur irgend möglich.
Am zweiten Tage kam der höhere Beamte wieder und fragte mich in seiner unverständlichen Sprache: »Ist Ihnen die Lust nun vergangen?« Ich antwortete: »Macht mit mir, was ihr wollt, ich bin in eurer Gewalt.« Es schien mir aber, als ob dieser Mann mir nicht viel Schlechtes zutraute. Vielleicht fühlte er, daß der andere im Zorn gehandelt hatte, als er mich anklagte, vielleicht kannte er den Kontrolleur selbst und wußte, wes Geistes Kind der war.
Am Nachmittag kam ein Weißer, der sehr freundlich war und mir den Hof zeigte, in dem ich spazierengehen durfte.
Ich besah mir nun die Zelle von außen und sah, daß außen an der Tür ein schwerer Riegel angebracht war, der nachts vorgeschoben wurde.
Gleich in der kommenden Nacht versuchte ich, ob ich diesen Riegel von innen zur Seite schieben könne, führte mein Messer in den Türspalt und bemerkte zu meiner Freude, daß der Riegel folgte, wenn ich die Messerspitze fest gegen das Metall setzte und von der Türkante einen Hebeldruck gab.
Am folgenden Tage benutzte ich die Zeit, in der ich unbewacht außerhalb der Zelle war, den Riegel gut gangbar zu machen, so daß ich ihn von innen leicht hin und her schieben konnte.
Der Hof war mit Gras bewachsen; an dem Pfahlzaun standen einige Sträucher. Dort fand ich große, grüne Raupen. Als ich mich mit denen beschäftigte, trat ein eingeborener Soldat an mich heran und wunderte sich, daß ich mich mit solch »häßlichen« Tieren abgab. Die Raupen hatten einen Sporn und breite Haftfüße. Ich wollte sehen, ob sich in der Zeit meiner Gefangenschaft Schmetterlinge daraus entwickelten und bettete die Tiere in einer Blechbüchse auf Blätter, wie ich das oft als Schuljunge getan hatte. Der Neger wollte mir nicht glauben, daß aus diesen Tieren später solch schöne Schmetterlinge werden würden, wie sie in großer Zahl hier umherflogen.
An einer Stelle des Hofes war das Gras auffallend grün. Dort staute sich das abfließende Wasser, und eine Rinne ging unter der äußeren Mauer durch. Hier beobachtete ich eine Salamanderart und war auch eines Tages damit beschäftigt, als ein Weißer auf mich zukam und fragte: »Sind Sie auch ein Deutscher, auch hier in diesem engen Loch eingesperrt?« Er sah sehr klapprig aus, hatte dunkle Ringe um die Augen und trug einen struppigen, ungepflegten Stoppelbart. Die Begegnung überraschte mich, ich sagte aber gelassen: »Ich habe das Vergnügen, hier eingesperrt zu sein.« Der kranke Mann war ein Schiffsheizer und hieß Bracht. Er war bei Kriegsausbruch zufällig im Krankenhaus und wurde als Kriegsgefangener festgehalten. Er litt offenbar an alkoholischen Anfällen und hatte in Erregung um sich gehauen; deshalb war er hier eingesperrt worden.
Als ich ihm beiläufig sagte, ich hätte schon an Flucht gedacht, sagte er: »Fliehen? Das ist von hier aus ein Klax, das ist leicht zu machen.«
Die Flucht durch den afrikanischen Busch
Ich hatte keine Bedenken, mit meinem Leidensgenossen zusammen zu gehen, weil er sogleich zu allem entschlossen war, wie so viele der armen Menschen, die nichts zu verlieren haben und im Leben verlernt haben, Leid schwer zu tragen. Der Plan gemeinsamer Flucht belebte und beschäftigte uns. Wir sahen uns die Umgebung genauer an: Hinter dem Pfahlzaun fing die Steppe an. Nur einige Negerhütten waren da in der Nähe. Die Schwierigkeit war, aus dem Zaun hinauszukommen. Über den Zaun durfte man nicht hinüber, das wäre gesehen worden, denn draußen ging ein Posten auf und ab.
An der Stelle, an der die Wasserrinne unter dem Zaun hindurchführte, war ein morscher Balken, den wir leicht wegstießen. Ich hatte schon früher gesehen, daß die Ziegelsteine sich hier leicht lösten und dann draußen in den Graben fielen. Der Posten aber konnte nicht bemerken, wenn die Steine in das hohe Gras hinunterfielen. Bald hatten wir das Loch so vergrößert, daß wir hindurchsehen und den Posten beobachten konnten. Er ging mit seinem roten Fes, seiner kurzen Affenjacke, roten Weste und Khakikniehose, mit Gewehr und aufgepflanztem Bajonett stumpfsinnig auf und ab.
Wir fanden in einer Ecke des Hofes einige alte Brottaschen, die die schwarzen Soldaten liegen gelassen hatten, und die wir auf der Flucht brauchen konnten. Wir legten in diesen Tagen von Nahrungsmitteln, besonders von halbreifen Bananen, etwas zurück, weil wir nicht wußten, wie die ersten Tage in der Steppe werden würden und ob wir darauf rechnen könnten, Nahrung zu bekommen. Am dritten Abend waren wir zur Flucht bereit.
Wir verabredeten, ich sollte warten, bis Bracht drei Stunden nach Anfang der Nacht käme. Es war Anfang September, also nicht Regenzeit, denn die ist hier im Juni, aber nach der Schwüle des Nachmittags verdunkelte sich heute der Himmel. Das Heulen und Pfeifen eines Gewittersturmes begann. Ich versah mich mit meiner Brottasche und schob den Riegel zur Seite, schloß die Tür leise von außen, horchte, ob meine Wächter sich rührten, und drückte mich hinaus.
Mein Freund war, gegen die Verabredung schon da. Ich steckte als erster meinen Kopf durch die Öffnung und sah zu meinem Ärger, daß der Posten in kurzem Hin und Her immer gerade vor dem Schlupfloch auf und ab ging. Wir waren in steter Angst, unser Fehlen könnte vor der Zeit entdeckt werden, und jetzt bekam mein Genosse, der unter Fieber litt, einen starken Anfall von Schüttelfrost; er sagte aber: »Das ist gleich, wir gehen.«
Einmal sprach der Posten mit einer Frau, und der Augenblick der Flucht schien gekommen. Ich kroch halb durch die Öffnung, mußte aber schnell wieder zurück, weil der Soldat sich gerade umdrehte.
Endlich gab's doch eine Gelegenheit. Die Ablösung des Postens kam, und während die militärischen Gebräuche erledigt wurden, ließ ich mich durch die Öffnung gleiten, kletterte auf der anderen Seite des Grabens wieder hoch, huschte über den Weg, der von den nackten Füßen der Posten glattgetreten war, und sprang in das hohe Gras.
Ich konnte nicht vermeiden, daß es raschelte. Der Posten aber hatte nichts gehört; er stand jetzt allein, zupfte an Gräsern und döste. Ich legte mich nieder und wartete auf Bracht. Ich sah gespannt nach dem Zaun hinüber, aber dort regte sich nichts. Bracht hatte entweder den Mut verloren oder war von einem neuen, stärkeren Fieberanfall überrascht worden. Ich durfte nicht daran denken, mich unter den Augen des Postens zurückzuschleichen und noch einmal nach ihm zu sehen. Ich wartete etwa eine halbe Stunde, dann schlich ich leise davon.
Als ich in einiger Entfernung war, blieb ich stehen und horchte noch einmal zurück. Es war nichts zu hören als das Branden des Meeres in der Ferne. Das Gewitter hatte sich verzogen, die Mauern der Christiansborg waren von hellem Mondlicht beschienen, und Sterne standen am Himmel. So konnte ich mich zurechtfinden. Wenn ich dem Meere den Rücken zuwandte, sah ich nach Norden. Ich sah das Sternbild des Orion, das Kreuz des Südens, die Plejaden. Ich wußte aus vielen Tropennächten, wie sich das Bild verschieben mußte, welche Sternenbilder gegen Morgen untergingen und wo der Himmel zuerst heller werden würde.
Jetzt begann ich zu laufen. Die Nacht war noch lang, und während der Zeit konnte ich Wege benutzen und ein gutes Stück vorwärtskommen. Oft stutzte ich: Hohe Termitenhügel und einzelne Baumstämme sahen aus wie Gestalten von Menschen oder Tieren.
Nach langen Stunden begann der Himmel zu meiner Rechten heller zu werden. Die Sterne verblaßten. Büsche und Gräser nahmen festere Umrisse an, Hügelreihen schimmerten bläulich in der Ferne. Ich hielt die Richtung nach Nordosten und benutzte einen Negerpfad, der einmal nach rechts, einmal nach links von der Richtung abwich, die Hauptrichtung aber innehielt.
Als es hell geworden war, kletterte ich auf einen abseits vom Wege stehenden Mangobaum und sah, daß ich mich in völliger Einsamkeit befand. Zu meiner Linken sah ich zwischen Büschen einen Eisenbahndamm.
Der Weg näherte sich der Bahnlinie. Ich wollte jetzt den offenen Weg meiden, um keinem Menschen zu begegnen, und versuchte, durch den Busch zu gehen. Das ging aber nicht, und ich mußte dem Bahndamm folgen. Als da, am Vormittag, einige Weiber mit Körben gingen, drückte ich mich nicht in den Busch, sondern wagte es, den Leuten in aller Ruhe zu begegnen. Sie sagten freundlich »Guten Tag«, und ich erwiderte den Gruß. Gegen Abend legte ich mich abseits unter einen Baum und schlief sofort ein.
Ich muß lange geschlafen haben. Als ich erwachte, war ich ganz verdutzt. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Meine Glieder waren steif und kalt; ich war aber ausgeruht und in bester Stimmung. Ich reckte mich, ging auf den Weg, schnitt mir einen Stock und schritt kräftig aus.
Ich konnte nun die Dörfer nicht immer vermeiden, weil die Umgehungen durch den Busch mir zu viel Zeit kosteten.
Eine unbändige Wanderlust erfaßte mich. Lange Tage war ich gefangen gewesen und hatte mich nicht richtig ausarbeiten können. Jetzt fühlte ich die ganze Freude der Freiheit. Alle Sorgen waren vergessen, wenn ich zwischen wechselnden Pflanzenbildern in das schöne Land dahinschritt.
Am zweiten Abend getraute ich mich schon, in einem Dorfe zu übernachten. Ich sah die Neger auf dem Platze mitten zwischen den Hütten sitzen. Als ich mich näherte, standen sie ehrerbietig auf, ich setzte mich aber mitten zwischen sie. Die Leute freuten sich, daß ich hier schlafen wollte.
Der Häuptling gab mir Apfelsinen, Bananen und eine Art Gebäck zu essen. Ich sättigte mich und würzte das Mahl durch freundliche Scherzworte an die liebenswürdigen Menschen. Ich schlief auf einer Matte, nachdem ich einen Lehmtopf hinausgetragen hatte, in dem glühende Holzkohlen zu viel Rauch entwickelten.
Am Morgen gab ich meinem Gastgeber ein Zweischillingstück, das einzige Stück, das ich von dieser Art bei mir hatte. Ich wollte den Schwarzen hier nicht durch Armut auffallen, damit sie nicht irgendeinen Verdacht bekämen.
Ich verließ das Dorf und folgte einem breiten Wege nach Nordosten. An Nahrung fehlte es mir nicht. In der Nähe der Dörfer waren viele Bananenstauden. Ich lebte von dem, was die Natur bot, und ging, wenn ich Hunger hatte, an Büsche und Bäume der bebauten Felder hinan. Daß ich nichts bezahlte, brauchte mich nicht zu bedrücken; die Früchte haben hier ja kaum Geldwert.
Ich ging, fast ohne auszuruhen, wieder einen ganzen Tag lang und fühlte mich frisch und gesund. Gegen Abend hörte ich Negergesang und näherte mich einigen Hütten. Auf dem freien Platz saßen viele Menschen, einige tanzten in der Mitte. Die Aufmerksamkeit der Neger richtete sich ganz auf die Tänzer, so kam ich unbemerkt näher. Ich beobachtete die Gruppen einige Zeit und freute mich über die harmlose Freude dieser Wilden. Endlich trat ich in den Feuerschein. Die Neger erschraken, und mehrere Mädchen entflohen. Einige freundliche Worte genügten aber, die fröhliche Gesellschaft wiederherzustellen.
Ich mußte meinen Besuch erklären und sagte dem Häuptling, es folgten mir noch andere Weiße. Die Neger hatten bald Vertrauen zu mir, als ich mich scherzend unter sie mengte und ihnen zeigte, wie man in Europa tanze. Ich bekam auch hier eine gute Hütte angewiesen und schlief bis in den Tag hinein.
Am Morgen ging ich weiter. Der Häuptling begleitete mich aus Neugierde. Er wollte die anderen Weißen, von denen ich erzählt hatte, sehen. Die Begleitung war mir aber auf die Dauer lästig, und ich bewog den Mann nach einigen Stunden, mich allein zu lassen.
Der Weg ging in ein Gebirge hinein und folgte fruchtbaren Tälern. Ich ging wieder bis zum Abend. Als es dunkel wurde, konnte ich nirgends Ansiedelungen finden und mußte mich im Freien nach einer Schlafstelle umsehen. Da fand ich eine Stelle mit weichem, warmem Flußsand. Dort bot ein Felsvorsprung mir guten Schutz gegen den Tau, und ich legte mich nieder. Als ich einschlief, merkte ich die Kälte der Nacht.
Ich wußte nicht, wie lange ich geschlafen hatte, als ich eine Bewegung an meinem Fuße spürte und auffuhr. Ich stieß mit dem Kopf gegen die Steinplatte über mir und sah ein Tier fauchend zurückspringen. Ich sprang auf die Füße und erkannte die Gestalten zweier Hyänen. Die Tiere wichen erst, als ich einige Steine warf und das eine der Tiere traf. Ich hörte ein schauriges Knurren in der Nähe.
Ich hatte mich sehr erschrocken, und alle Müdigkeit war auf einmal dahin. Deshalb ging ich weiter. Der Weg war hell beschienen, die Richtung höher ins Gebirge war nicht zu verfehlen, so schritt ich munter aus und setzte mich erst nach einigen Stunden nieder, wo trockenes Gras in Menge neben einem Wall lag und zur Ruhe einlud. Hier schlief ich ein, erwachte aber schon vor Sonnenaufgang und brachte Bewegung in die steifen Glieder.
Jetzt ging es wieder bergab. Eine große Ebene mit Steppenwald lag unter mir. Ich kam in ein Negerdorf, das mit Fischreusen ausgerüstet war, was auf die Nähe von Wasser schließen ließ.
Als ich mir Essen kaufen wollte und nach Geld in die Tasche griff, hielt ich in der Hand eine kleine Karte mit Uniformknöpfen der Wörmannlinie. Die Frau, die bei mir stand, verlangte gleich danach, und ich kaufte mir für zwei Knöpfe ein Gericht zubereiteter Fische.
Während ich unter einer Hütte saß und frühstückte, kam ein Zug Haussa an, die sich durch Hörnerblasen schon von weitem bemerkbar machten. Die Aufmerksamkeit der Neger richtete sich gleich auf die herannahenden Händler, die malerisch gekleidet waren.
Einer der Händler, ein großer Mensch mit edlen Zügen, kam auf mich zu und grüßte mich nach Mohammedanerart mit erhobenem Arm. Der Mann wunderte sich, mich hier zu sehen, war aber nicht zudringlich. Ich konnte mich gut mit ihm unterhalten.