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„Angst?“, fragt er, obwohl dieser Ausdruck definitiv nicht in meinen Augen zu lesen ist.
„Sollte ich Angst haben?“
„Solltest du.“
„Hm … wieso?“ Meine Angst befindet sich eindeutig in Abwesenheit. Ich habe mich schon lange nicht mehr so selbstsicher gefühlt.
„Ich könnte dir wieder die Luft abschnüren. Oder …“ Er spricht nicht weiter.
„Oder?“, hake ich nach, ohne den Augenkontakt abzubrechen.
„Ich könnte von dir verlangen, nackt in den Teich zu springen.“
Mir gefällt unser Spiel. Endlich spüre ich Emotionen, die meine Lust füttern. Ich lasse Liam in meinen Augen sehen, was er sehen will. Furcht. Unsicherheit. Respekt ihm gegenüber.
„Wie ich sehe, gefällt dir der Gedanke ganz und gar nicht“, springt er direkt darauf an.
Ich schüttle ganz unschuldig mit meinem Kopf.
Das, was ich gerade am intensivsten spüre, ist Überlegenheit. Liam hängt an meiner Angel. Von der selbstsicheren Frau zur hingebungsvollen Sub binnen weniger Sekunden und er kauft es mir ab.
Ob ich unauthentisch bin? Eine Schauspielerin? Möglicherweise bin ich das.
Liam bekommt das, was er braucht und mir gibt es ein gutes Gefühl, dass ich diejenige bin, die es ihm bewusst gibt. Er bekommt es nicht, weil er es sich nimmt oder weil er eine Macht über mich ausübt, die dafür sorgt, dass ich es ihm freiwillig geben will. Es ist meine freie, eigene Entscheidung. Ich hätte genauso den anderen Weg gehen können …
Die Kontrolle, die ich über die Situation und mich ausübe und die in mir herrschende Ambivalenz, sorgen dafür, dass ich mich nicht fallen lassen kann.
Somit sind meiner Lust Grenzen gesetzt, obwohl ich spüre, dass da noch mehr geht.
Plötzlich löst Liam meine Arme, die ich in der Zwischenzeit um seinen Hals gelegt habe.
„Zeig mal, was du kannst. Zwanzig Sit-ups. Lass dich nach hinten fallen und dann kommst du wieder hoch.“ Doofe Idee.
„Ich traue mich nicht. Was ist, wenn ich nicht mehr hochkomme oder mit dem Kopf auf den Boden aufkomme?“
„Dann lass ich dich halt los. Und du wirst dir den Kopf schon nicht aufschlagen. Mel, sei nicht so ein Angsthase. Du hast doch vor ein paar Tagen auf Instagram ein Bild von deinem Sixpack hochgeladen … dann kannst du auch zeigen, was deine Muskeln so können“, provoziert er mich.
Durch meine Erkältung bin ich noch nicht fit. Der Schleim hängt mir zwischen Nase und Rachen. Als Liam mir vorhin die Luft abgeschnürt hat, war ich froh, dass ich keinen Hustenanfall bekommen habe …
Dass er meine Bilder auf Instagram wahrnimmt, überrascht mich. Ich bin stark davon ausgegangen, dass er sich nicht dafür interessiert. Mit dem Foto hab ich mir wohl selbst ins Knie geschossen.
Da meinte er letztens noch, dass ihm meine Gesundheit wichtig ist und jetzt verlangt er, dass ich mich sportlich betätige. Leider siegt mein Ehrgeiz und nicht die Vernunft.
„Geht doch! Geh aber nicht ganz so weit runter, sonst verlierst du die Spannung“, korrigiert er mich.
Nach fünf Stück spüre ich schon das Brennen in meinen Bauchmuskeln und mein Kopf beginnt zu pochen.
„Ich kann nicht mehr! Ich bin noch erkältet“, jammere ich.
„Noch mal fünf Stück. Los, für mich.“
Und wieder soll ich ihm zeigen, dass ich für ihn über meine Grenzen gehe …
Ich bemühe mich und werde im Gegenzug von ihm belohnt. Jedes Mal, wenn ich oben ankomme, schenkt er mir einen Kuss.
Nach dem letzten Sit-up komme ich nicht mehr hoch und lasse mich sanft auf den Boden fallen. Da liege ich nun, wie ein Lappen. Liam lässt meine Beine los.
„Und jetzt noch Liegestütze.“
„Du spinnst!“, sage ich und lache dabei.
„Willst du direkt eine Abkühlung im Teich nehmen?“, äußert er streng.
„Nein … ich dachte, meine Gesundheit sei dir wichtig …“ Er geht nicht darauf ein.
„In zwei Wochen wirst du fünfzig Sit-ups können und Squats mindestens mit deinem eigenen Körpergewicht ausführen.“
„Ja, ist gut.“ Die Bauchaufzüge schaffe ich. Innerhalb von zwei Wochen zwanzig Kilo mehr zu drücken, wohl eher nicht.
„Zieh dein Oberteil aus. Und auch deine Schuhe. Inklusive Socken.“ Ich gucke ihn verdutzt an.
„Hier können Menschen vorbeikommen …“, gebe ich zu bedenken.
„Na und? Du sonnst dich eben. Los, ausziehen und dann legst du dich mit dem Rücken auf die Bank, Beine zu mir.“
„Darf ich meinen Kopf nicht bequem in deinen Schoß legen?“ Ich lege dabei meinen unschuldigen und bedürftigen Blick auf, in der Hoffnung, dass er sieht, dass ich ihm nah sein möchte, er sich dadurch geschmeichelt fühlt und mir deshalb den Wunsch erfüllt. Aber er bleibt hart.
„Nein. Du legst dich so hin, wie ich sage.“
Ich ziehe mein Oberteil aus und fühle mich plötzlich wirklich nackt. Obwohl ein BH sich grundsätzlich nicht sonderlich von einem Bikinioberteil unterscheidet.
Nur ähneln meine Bikinioberteile keinem Schalen-BH. Ich trage diese nicht, weil man meine Brüste sehen kann, wenn ich liege oder mich nach vorne beuge.
Wohl fühle ich mich nicht, aber auf der anderen Seite ist es mir auch egal, was andere Menschen von mir denken könnten. Es sind und bleiben ihre Gedanken. Die nackten Füße sollen wohl den Eindruck verstärken, dass ich mich bloß sonne, falls jemand vorbeikommen sollte.
Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals so unbequem gelegen zu haben.
Da war selbst mein Zimmerfußboden gemütlicher. Eine falsche Bewegung zur linken Seite und ich falle ins Wasser.
„Schließe deine Augen“, gibt Liam in einem flüsternden Ton von sich.
Die Sonne wärmt meine Haut. Ich spüre, wie mein Körper die Energie aufsaugt. Wirklich genießen kann ich es nicht, da mein Rücken schmerzt und ich mich frage, was Liam für einen Plan schmiedet. Soll ich mich jetzt wirklich nur halbnackt sonnen? Vor allem ist es wenig erniedrigend, mich vor den Besuchern des Parks bloßzustellen – falls das seine Intention ist –, wenn ich die Augen geschlossen halte. Ohne die Reaktion der anderen Leute zu sehen, ist es mir noch egaler, halbnackt hier zu liegen …
Plötzlich ergreift er jedoch meine Hand und ich merke, wie er meinen Hosenknopf öffnet. Er schiebt meine rechte Hand langsam in meinen Schritt. Mit meinem Oberteil versteckt er die Hand, die zwischen meinen Schenkeln liegt.
„Mach es dir selbst. Aber nur, während du die Luft anhältst. In dem Moment, in dem du beginnst zu atmen, hörst du auf.“
Ich habe eine kleine Lunge. Lange werde ich nicht anhalten können. Was das soll, verstehe ich nicht.
Ich atme tief ein, höre auf zu atmen und beginne, meinen Kitzler zu massieren. Obwohl ich vorhin übermäßig erregt war, spüre ich meine Berührung kaum. Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, die Kontrolle zu behalten. Über meine Atmung, über die gesamte Situation … Mein Gehör ist geschärft. Sollte ich jemanden kommen hören, breche ich diese Aufgabe ab. Hier sind einige Kinder unterwegs …
Nach wenigen Sekunden stoppt meine Hand das Reiben, weil der Sauerstoff in meinen Lungen knapp wird.
„Versuche, länger anzuhalten.“
Ich huste und stütze mich mit den Ellenbogen auf, um Liam besser sehen zu können.
„Ich habe kein großes Lungenvolumen und mein Hals wird langsam trocken. Ich möchte mir ungern meine Lungenflügel aushusten müssen …“, rechtfertige ich mich und hoffe, dass Liam mich erlöst.
„Dann mache kurz eine Pause.“ Nicht die Antwort, die ich hören wollte …
Ich lege mich wieder hin. Die Sonnenstrahlen bringen meine Haut zum Glühen, was man von der Aktivität meiner Finger im unteren Bereich meines Körpers nicht behaupten kann. Abermals halte ich die Luft an, berühre mich an einer meiner intimsten Stellen in der Öffentlichkeit und dennoch fühle ich nichts.
Die Kontrolle in mir lässt nicht zu, dass ich loslasse und mich entspanne.
Bedauerlich, da dies ein weiterer unvergesslicher Moment sein könnte. Einen Orgasmus am helllichten Tag in der Öffentlichkeit zu bekommen, wäre eine Premiere. Würde er an mir spielen, wäre klar, dass es unmöglich ist, einen Höhepunkt zu erlangen. Doch jetzt fasse ich mich selbst an und schaffe es einfach nicht, mich in die Lust hineinfallen zu lassen.
Dieser Ärger, der in mir hochkommt, macht die Situation nicht besser. Spiele ich ihm einfach einen Orgasmus vor oder warte ich, bis er das Ganze abbricht?
Das Schicksal nimmt mir diese Entscheidung ab.
„Hör auf“, warnt Liam mich. Ich ziehe sofort meine Hand aus meiner Hose zurück und lege sie mir auf den Bauch. Tue so, als wäre nichts gewesen und würde mich ganz entspannt sonnen. Im nächsten Augenblick kommt eine Mutter mit ihren beiden kleinen Kindern an uns vorbei. Liam grüßt höflich, die Kinder grüßen grinsend zurück, die Mutter lächelt uns bloß zu.
Liam erwartet glücklicherweise nicht, dass ich da weitermache, wo ich aufgehört habe, nachdem die kleine Familie aus unserem Blickfeld verschwunden ist.
Die Stimmung ist endgültig erloschen.
„Wollen wir weitergehen?“, fragt er, obwohl es klar ist, dass ich ihm nicht widersprechen werde.
„Gerne“, antworte ich knapp. Als ich mich aufsetze und nach meinem Oberteil greifen will, zieht er es an sich.
„Nein, du wirst so gehen. Das Top bekommst du später wieder.“
„Darf ich wenigstens meine Schuhe anziehen?“
„Natürlich nicht.“ Er schüttelt den Kopf.
„Aber hier könnten Scherben liegen“, versuche ich ihn umzustimmen.
„Dann richtest du deinen Blick besser auf den Boden. So, wie es sich gehört.“ Er grinst mich frech an.
Wir gehen los; er greift nach meiner freien Hand. In der anderen halte ich meine Schuhe. Mein Top behält er. Die Blicke der Leute stören mich überhaupt nicht, da Liam an meiner Seite ist. Bei seinen bisherigen Aufgaben, die etwas mit Nacktheit in der Öffentlichkeit zu tun hatten, habe ich ihn immer vermisst. Seine Anwesenheit schenkt mir Sicherheit.
„Autsch!“, fluche ich. Die kleinen, spitzen Steinchen des Schotterbodens bohren sich in meine Fußsohlen.
Ich bin dankbar, dass Liam sich meiner Geh-Geschwindigkeit anpasst. Die Menschen um uns herum nehme ich kaum noch wahr, da mein Blick auf den Boden fokussiert ist. Ich möchte mir auf keinen Fall die Haut aufschneiden oder in irgendetwas Widerliches treten; wie zum Beispiel in heruntergefallenes Dönerfleisch. Allein die Vorstellung, wie es sich anfühlen würde, lässt mein Gesicht zu einer angeekelten Grimasse verziehen.
Die Sonne versteckt sich hinter einer großen grauen Wolke. Ich bin kurz davor, das Frieren anzufangen.
„Hast du Lust, über den Dom mit mir zu gehen?“
„Total gerne!“, strahle ich den Mann an, dem ich meine nächste Erkältung zu verdanken haben werde. Aber die Kälte, die gerade dabei war sich auf meiner Haut auszubreiten, ist schlagartig vergessen.
Die Freude wird jedoch getrübt, als kleine kühle Tropfen auf meine nackte Haut treffen.
„Oh nein! Es regnet“, stelle ich enttäuscht fest.
„Ist bestimmt nur ein kurzer Schauer. Ziehe deine Schuhe an und das Top“, gibt Liam optimistisch und fürsorglich von sich.
Schön zu wissen, dass ihm meine Gesundheit wohl doch ein wenig am Herzen liegt.
Als wir kurz vor dem Ausgang des Parks sind, bleibt er stehen und beginnt, mein Top hochzuschieben.
„Was tust du da?“, frage ich irritiert nach.
„Ich kremple dir das Top hoch. Du hast zu viel an.“
Seiner Vorstellung nach …
Er klemmt den überschüssigen Stoff unter meinen BH fest. Es hält und sieht gar nicht so scheiße aus, wie ich erst gedacht habe.
Er nimmt wieder meine Hand, als er weitergeht.
„In Zukunft wirst du dich aufreizender anziehen. Turnschuhe sind tabu. Nur noch hohe Schuhe“, sagt er in einem trockenen Ton.
„Ich habe aber nur ein paar Stiefeletten“, entgegne ich und hoffe, dieser Regel zu entkommen.
„Dann ziehst du eben die an oder kaufst dir was Neues.“ Ausreden funktionieren bei Liam einfach nicht.
„Hättest du dich bei diesem sommerlichen Wetter weiblicher angezogen, ein Kleid oder einen Rock, hätte ich dich schon längst gefickt. Irgendwo im Gebüsch. Also … in Zukunft keine Hosen mehr. Kleider, Röcke und hohe Schuhe. Verstanden?“
Da ich keine Lust auf eine Diskussion habe, stimme ich mit dem Wissen, dass ich dem eh nicht gerecht werde, zu. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er es sowieso vergessen wird. Von daher muss ich die Stimmung nicht vermiesen.
Liam hat recht behalten. Der Regen hört auf und die Sonne kommt wieder hinter den Wolken hervor.
Es fühlt sich unglaublich gut an, mit ihm Hand in Hand über den Dom zu schlendern. Allein wegen der Gerüche gehe ich schon gerne die Runde übers Heiligengeistfeld. Es ist noch kaum etwas los, sodass wir niemandem ausweichen müssen und die Eindrücke gelassen auf uns wirken lassen können.
Die verschiedene Musik aus den etlichen Fahrgeschäften gibt sich einen endlosen Kampf.
An den Ständen mit den Losen brüllen Männer aus ihrer Kehle, was es alles Tolles zu gewinnen gibt.
An den Bratwurstständen schleicht sich der Duft von Fleisch, Champignons und Pommes in meine Nase.
Von Stand zu Stand kommen mehr Duftnoten hinzu.
Gebrannte Mandeln, Zuckerwatte, Schmalzgebäck, Pizza und Crêpes. Dort bleibt Liam stehen.
„Möchtest du einen Crêpe?“
„Sehr gerne! Mit Apfelmus, bitte.“ Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. „Alles klar.“
Heute scheint er die Spendierhosen anzuhaben. Finanziell geht es ihm anscheinend nicht so schlecht …
„Danke schön!“ Er reicht mir die heiße Teigware.
„Nicht dafür, Süße.“
Genüsslich verspeisen wir unser Essen; wobei er es eher verschlingt. Ich klimpere nur einmal mit den Augen und zack, ist Liam bereits fertig.
Wir gehen langsam weiter. Während ich esse, erzählt er mir von Österreich.
„Ich habe zehn Kilo zugenommen. Hab mein Ziel erreicht. Lars war ganz neidisch auf mich. Am meisten habe ich am Bizeps und an der Brust zugelegt. Fabian ist auch beeindruckt. Als er mich gesehen hat, ist ihm das direkt aufgefallen“, prahlt er.
Mir ist es tatsächlich nicht entgangen, dass er ordentlich an Muskelmasse zugelegt hat. Steht ihm. Er wirkt erwachsener und männlicher. Seine Kinnpartie ist kantiger als vor seinem Österreichaufenthalt. Seine Haut strahlt in einem gold-braunen Ton.
Ja, er ist in der Zeit definitiv attraktiver geworden. Jedoch tue ich mich immer noch schwer damit, Komplimente zu machen. Sein Ego will wohl gestreichelt werden. Würde er keine Bestätigung von mir brauchen, würde er nicht ausgiebig über seinen Erfolg reden.
„Ja, ist auf jeden Fall nicht zu übersehen. Sieht gut aus“, zwinkere ich ihm zu.
„Danke.“ Süß lächelt er mich an.
„Du bist echt krass braun geworden in deinem Urlaub. Gefällt mir gut.“
„Ja, aber neben dir fühle ich mich immer noch wie ein Käse“, sage ich lachend.
„Ich habe Glück. Werde schnell braun. In einem schönen goldenen Ton.“
„Dem ist wohl so.“ Ich würde ihm gerne widersprechen, weil ich es nicht leiden kann, wenn man dermaßen selbstüberzeugt von sich spricht, aber ich kann es nicht. Es trifft nun mal zu.
Komisch, dass Liam es nötig hat, sich so aufzuplustern. Ein Außenstehender würde wahrscheinlich denken, dass er total selbstsicher ist. Jedoch ist das „fishing for compliments“, was er hier macht und jemand, der wirklich im Reinen mit sich ist, hat das nicht nötig.
Er ist stark von der Meinung von außen abhängig. Eine Sache, die dafür sorgt, dass ich ihn weniger als Mann und mehr als Jungen wahrnehme.
Nachdem meine Süßspeise vollständig in meinem Magen gelandet ist, habe ich das Bedürfnis, mir die Hände zu waschen. Dank des Apfelmus sind sie ziemlich klebrig. Liam stört das nicht, denn er greift nach meiner Hand und lässt sie nicht direkt wieder los. Er macht vor einer Geisterbahn halt und schaut mich erwartungsvoll an. Ich schüttle instinktiv mit dem Kopf. Ich hasse es, erschreckt zu werden!
„Komm schon, Mel. Seine keine Spielverderberin“, überredet er mich.
„Hm. Na gut. Aber ich warne dich vor. Ich bin schreckhaft!“
„Ach, so schlimm wird das schon nicht sein. Da fahren immerhin Kinder mit.“
„Das hat nichts zu sagen …“
Er zieht mich zum Schalter mit, um dort zwei Tickets für uns zu kaufen. Eine Fahrt kostet sage und schreibe fünf Euro! Eigentlich ist das der perfekte Pärchentag; so fühlt es sich jedenfalls an. Na ja, fast perfekt. Die Sache, dass er versucht, mich optisch so hinzubiegen, wie er mich gerne hätte, geht mir gegen den Strich. Klar, er hat mich in Rock und Stiefeln kennengelernt, aber es war wohl offensichtlich, dass das nicht mein Alltagskleidungsstil ist. Vor Österreich war es ihm egal, was ich trage.
Er hat sich noch nicht mal über meine schlichte Unterwäsche beschwert …
Ich werde mich auf jeden Fall nicht für ihn verstellen. Ich kann mich sexy kleiden, aber dann mache ich das für mich und weil ich darauf Lust habe; ansonsten fühle ich mich nicht wohl. Ach, man kann sich auch mal für einen Mann sexy kleiden, bringt sich mein Teufelchen ein. Der Versuch, mir das einzureden, gelingt nicht. In der Hinsicht bin ich stur.
Entweder ein Mann findet mich aufgrund meines Wesens sexy oder eben nicht. Ich will meine Weiblichkeit nicht provokant nach außen hin präsentieren, um den Mann zu manipulieren und so von mir zu überzeugen. Es fühlt sich falsch an, mit reiner Oberflächlichkeit zu punkten und zu blenden … Diese Fassade aufrechtzuerhalten, wäre mir viel zu anstrengend. Wenn man mit mir auf entsprechende Veranstaltungen geht, kann ich mich wie eine Lady kleiden und verhalten, aber privat mag ich es gemütlich und locker. Wenn man nicht mal vor seinem Partner rülpsen oder mal pupsen kann, weil das ja nicht ladylike ist, würde ich verrückt werden. Damit würde ich mir mein eigenes Gefängnis erbauen. Nein. Ein Mann muss mich für das lieben, was er in mir sieht und fühlt und nicht für das, was er oberflächlich mit seinen Augen erfasst. Schön, wenn er das dann auch tut, aber es sollte zweitrangig sein.
Liam sieht mich nicht. Dabei habe ich ihm schon einige Möglichkeiten gegeben, hinter meine Maske zu blicken.
Aber was erwarte ich von jemandem, der sich selbst über die Meinung anderer definiert. Obwohl er dem total widersprechen würde … Er tut auch krampfhaft das Gegenteil von dem, was man von ihm erwarten würde. Damit er sich als etwas Besonderes fühlt. Damit er anders ist als andere. Dafür will er anerkannt werden. Er spielt eigentlich in einer Tour eine Rolle.
Noch habe ich die Hoffnung aber nicht aufgegeben, dass er sich mir zeigt und ich sein wahres Ich kennenlernen darf.
Ohne diese ganze Show. Ohne diese widersprüchlichen Aussagen zu seiner Person.
Er hasst es angeblich im Mittelpunkt zu stehen, strippt aber und legt viel Wert darauf, wie er aussieht. Ich kann mich noch genau an seine Worte erinnern, als ich im Freibad war und ihm schrieb, dass dort alle Augen auf ihn gerichtet wären.
Vielleicht werde ich es aber auch nie zu sehen bekommen, weil er selbst nicht weiß, wer er in Wahrheit ist. Ein Mensch, der sein Leben von außen nach innen richtet und nicht von innen nach außen lebt, kann nur unbewusst sein. Er definiert seine Persönlichkeit über das, was er glaubt, sein zu müssen, um von anderen anerkannt, geschätzt und im besten Fall geliebt zu werden.
Wir setzen uns in den Achterbahnwagen. Die Vorkehrungen zu unserer Sicherheit werden getroffen. Von Sekunde zu Sekunde finde ich diese Idee immer schlechter. Ich umklammere die Stange, die fest in unseren Schoß gedrückt wird und schmiege mich mit meiner rechten Schulter an Liam an.
„Angst?“, fragt er cool.
„Jetzt definitiv!“, gebe ich zu.
Liam lächelt. Er sieht zufrieden aus. Seinem Lächeln schließe ich mich für einen kurzen Moment an, bis sich unser Wagen in Bewegung setzt und auch noch beginnt, sich nach links und rechts zu drehen. Am liebsten würde ich wieder aussteigen.
Die erste Tür öffnet sich. Wir fahren nach oben, Richtung Tageslicht. Noch ist nichts zum Gruseln. Ein paar Puppen stehen zur Dekoration an den Seiten und werden mit rotem Licht angeleuchtet. Als wir um die Kurve fahren, erschrecke ich mich aber beinahe zu Tode!
„Ahhh!“, kreische ich Liam laut ins Ohr und kralle mich an seinem Arm fest.
Einer der Darsteller hielt sich dort versteckt und kam genau in dem Moment hervor, als wir die Kurve passierten … Mit einem Schläger in der Hand. Er hat noch nicht mal einen Ton von sich gegeben …
„Musst du so schreien?“, fragt Liam, der versucht, weiterhin cool zu wirken, aber ich sehe ihm an, dass er sich über mich amüsiert.
„Das ist ein Reflex. Ich kann da nichts für“, rechtfertige ich mein Geschrei.
„Dann versuch den zu unterdrücken. Ich möchte am Ende dieser Fahrt nicht gehörlos sein.“ Ich muss lachen.
„Ich gebe mir Mühe, in die andere Richtung zu schreien.“
Vor jeder Kurve habe ich Angst, wieder erschreckt zu werden.
Ich löse meinen Griff von Liams Arm, als wir oben angekommen sind, um eine kurze Strecke den Ausblick genießen zu können, obwohl dieser nicht sonderlich besonders ist.
„Wuahhh!!!“, schreie ich und fahre zusammen. Natürlich musste direkt hinter der Tür, die wieder ins Dunkle führt, eine Frau stehen, die auf mich zukommt und mich anschreit.
Liam schüttelt mit dem Kopf, aber kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Ich habe gespürt, dass er gezuckt hat. Aber wahrscheinlich hat ihn mein Losschreien mehr erschreckt als der Schrei der Schauspielerin. Auf jeden Fall scheint er Spaß mit mir zu haben.
Den Weg hoch fahren wir nun wieder herunter. Dass ich nichts sehen kann, macht mich fertig. Ich mag Dunkelheit nicht. Es nimmt mir die Kontrolle. Und alles, was ich nicht kontrollieren kann, finde ich doof. Na ja. Fast alles …
Links und rechts springen Puppen laut aus ihren Kästen oder fallen von der Decke; werden begleitet von Licht- und Soundeffekten. Ein paar lautere Töne verliere ich auf der restlichen Fahrt noch, aber nicht in dem Frequenzbereich, in dem Liams Gehör einen Schaden davon tragen könnte.
„Das war doch ganz witzig“, sage ich, als wir das Fahrgeschäft verlassen und er wieder meine Hand ergreift.
„War es, du Schreihals.“ Er festigt dabei impulsartig seinen Griff. Ich grinse ihn an.
„So, ich muss mir jetzt noch etwas zu essen kaufen. Muss genügend futtern, damit die Muskeln weiter wachsen.“
Am nächsten Stand kauft er sich ein Burgunder Brötchen.
„Wie viel willst du denn noch zulegen? Dachte, du hättest dein Ziel jetzt erreicht …“, hake ich nach.
„Da kann noch gut was drauf. Das war ja bloß mein Ziel für Österreich.“
„Oh. Okay. Aber verlierst du dadurch nicht deine Beweglichkeit?“
„Ja, das schon. Daher werde ich es nicht übertreiben. Aber in dem Business bekommt man mehr Angebote, wenn man ordentlich Muskeln hat. Und so lange werde ich diesen Job bestimmt nicht mehr machen können. Seitdem ich wieder hier bin, hab ich Schmerzen im Knie.“
„Das ist nicht gut …“, sage ich besorgt.
„Nein. Kommt wohl daher, dass ich von Österreich nach Hamburg durchgefahren bin und nur Tank- und Klopausen gemacht habe.“
„Du bist ja verrückt!“
„Ich wollte halt nach Hause.“
„Das kann ich natürlich verstehen.“
Nachdem er aufgegessen hat, nimmt er erneut meine Hand und wir verlassen schlendernd den Hamburger Dom. Ich weiß nicht, wo er als nächstes hin möchte, frage aber auch nicht nach. Wir überqueren die Ampel, die zum Kiez führt. Die entgegengesetzte Richtung zu seinem Auto. Ich bin doch zu neugierig …
„Was machen wir jetzt?“
„Wir gehen in die Alm, in der Lars und ich arbeiten. Ich hole den Wohnungsschlüssel ab“, zwinkert er mir zu.
„Okay. Warum wohnst du eigentlich nicht bei Fabian?“
„Fabian wohnt zu weit weg. Das mit Lars geht aber auch nicht auf längere Sicht. Das Zimmer ist für uns zwei zu klein und er selbst muss demnächst eine neue Wohnung finden, da sein WG-Kollege keine Lust mehr auf ihn hat. Für mich ist das auch kein Zustand. Die haben nicht mal eine anständige Küche. Kaum Geschirr. Lars erhofft sich leider, dass ich mit ihm zusammen eine WG gründe, aber darauf habe ich gar keinen Bock. Der ist wirklich sehr anhänglich. Bin froh, dass er arbeiten muss und ich jetzt Zeit mit dir verbringen kann. Nachher hab ich ihn dann nur ein paar Stunden an der Backe.“