Seewölfe Paket 15

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„Weiter!“ stieß der Alte hervor und hatte wieder dieses Glitzern in den Augen.
„Es ist vorstellbar“, sagte Burton langsam und mit Betonung, „daß die Killigrew-Bande dort geräubert und geplündert hat. Dieses Ungeheuer von Profos – Carberry heißt der Kerl – hat zum Beispiel die Schäden, die er und seine Bande in der ‚Bloody Mary‘ angerichtet haben, unter anderem mit einer sehr seltenen Perle bezahlt. Einer meiner Gewährsleute erfuhr das von Mister Plymson.“ Burton hüstelte dezent. „Es ist dies übrigens ein sehr merkwürdiges Verhalten der Killigrew-Bande. Erst wird alles demoliert, und dann bezahlt man mehr als großzügig …“
„Idioten!“ unterbrach ihn der Alte.
Burton schüttelte den Kopf. „Nein, Sir, ich möchte das anders interpretieren. Erstens haben sie genug an Beute, und zweitens können sie bei einer möglichen Anklage wegen mutwilliger Zerstörung einer Schenke immer erklären, sie hätten den Schaden ja wieder ersetzt, also Sühne geleistet. Für Mister Plymson ist das sogar ein Geschäft, da er, wie gesagt, mehr Entschädigung erhält, als zu Bruch gegangen ist.“
„Ah, verstehe“, murmelte der Alte und quetschte an seiner Knollennase herum. Sie hatte eine rot-bläuliche Färbung, Zeugnis vom vielen Suff. „Dennoch würde ich Plymson keinen Nickel zahlen, sondern mich rausreden.“
„Sehr wohl, Sir, das ist völlig richtig. Da werden im wahrsten Sinne des Wortes Perlen vor die Säue geworfen.“ Und der dicke Burton gestattete sich ein Lachen, das wie das Quaken eines Frosches klang. Dann hüstelte er erneut und fuhr fort: „Aber zurück zu den Tatsachen, von denen ich sprach. Diese Killigrew-Bande muß also über erhebliche Geldmittel verfügen, besitzt zur Zeit zwei Schiffe – dieses merkwürdige Fahrzeug aus dem Mittelmeer sowie die ‚Pride of Galway‘ – und läßt sich außerdem auf der Werft von Ramsgate ein neues Schiff bauen, eine Galeone, die man keineswegs als klein bezeichnen kann. Die Vermutung, die Mister Bromley vorhin aussprach, könnte durchaus stimmen. Man hat – natürlich gegen Bezahlung – die ‚Isabella VIII.‘ den Spaniern zum Nachbauen überlassen, also ein solides, gutes englisches Schiff, an dem die Spanier unseren hervorragenden Schiffbau studieren können. Und man hat sich den Spaniern – natürlich auch gegen Entgelt – angedient, um eine Invasion vorbereiten zu helfen. Zu diesem Zweck hat Killigrew Kontakte mit den Iren aufgenommen – Beweis: die ‚Pride of Galway‘. Wahrscheinlich plant man einen Zangenangriff auf unser Land, die Spanier landen an unseren südlichen Küsten, die Iren an der Nordwestküste.“ Burton hob drohend den rechten Zeigefinger. „Und dem muß Einhalt geboten werden!“
„Ausrotten, vernichten, zusammenschießen, köpfen …“ gurgelte Mark Bromley mit zuckendem Gesicht. Er sprang auf, reckte die Rechte wie zum Schwur, stierte den Alten an und stieß hervor: „Sir, Sie müssen uns beistehen im Kampf gegen das ekle Gewürm! Gemeinsam werden wir es zertreten wie – wie …“
„Gewürm“, sagte der dicke Burton.
„Jawohl, wie Gewürm!“ Der Ex-Hauptmann keuchte, als sei er zehntausend Yards in einem Stück gerannt. „Und uns gebührt der Lorbeer des Sieges …“
„Samt aller Schätze der Killigrew-Bande“, ergänzte der dicke Burton sachlich. „Und die Königin wird uns adeln, Landgüter schenken und eine Jahrespension aussetzen. Aber wir brauchen Ihre Hilfe, Sir John, Ihre Energie, Ihren brillanten strategischen und taktischen Überblick, Ihre Tapferkeit, Ihr Durchsetzungsvermögen!“
Das war eine Menge Honig um den Bart des alten Schlitzohrs. Er glukkerte einen aus der Flasche und verschluckte sich dieses Mal nicht.
„Hm-hm“, sagte er geschmeichelt, „hm-hm, mal sehen, hm-hm, mal sehen, wie wir diesem Hurensohn einen überbraten können. Wird überhaupt Zeit, daß er mal was vor die Schnauze kriegt, dieser Lümmel.“
Seine Söhne glotzten.
Dann ermannte sich Simon Llewellyn, reckte die Ferkelbrust, die nur fett, aber nicht breit war, und erklärte: „Ich mach ihn hin, den Bastard!“
„Ich auch!“ verkündete Thomas Lionel. „Ich zeig ihm, was ein echter Killigrew …“
„Maul halten!“ donnerte der Alte, soff wieder und erklärte: „Ich muß nachdenken.“
Der dicke Burton blickte den hageren Bromley mit seinen tückischen Augen an, was bedeutete, er möge sich wieder hinsetzen. Der gehorchte. Er hatte jetzt rote Flecken auf den hageren Wangen und wieder seinen flackernden Blick. Dann trank er hastig seinen Humpen leer, und Thomas Lionel schenkte ihm unaufgefordert nach. Sich selbst vergaß er dabei auch nicht, seinen Bruder ebenfalls nicht.
Man trank, und der Alte grübelte. Er stierte ins Feuer, nahm gedankenlos einen Schluck aus der Flasche und stierte weiter. Allmählich schwollen auf seiner Stirn zwei Adern, ebenfalls rotbläulich gefärbt wie die Knollennase.
Die beiden Ferkelsöhne kannten das und rutschten aus der Reichweite des Alten. Vorsicht ist immer der bessere Teil der Tapferkeit. Wenn die beiden Adern auf der Stirn des Alten erschienen, dann stand er unter Druck. Und wenn er explodierte, dann schepperte es, daß die Wände wackelten. Eben noch hatten sie den Bastard „hinmachen“ wollen, aber wenn bei dem Alten die beiden Adern anschwollen, dann kniffen sie den Schwanz ein und gingen in Dekkung, wobei ihnen offenbar entfallen war, daß der Bastard im knappen Mannesalter den Alten mal so eben ins Hirschgeweih gehängt und sie derart verdroschen hatte, daß sie noch Tage später nur so herumgekrochen waren.
Der Alte zuckte jäh hoch. Sekundenbruchteile später zerbarst die Whiskyflasche im Kamin, und er brüllte nach einer neuen Flasche.
Thomas Lionel empfing von seinem Bruder Simon Llewellyn einen Tritt, der besagte, daß er den Alten zu bedienen habe. Thomas Lionel sprang hastig auf, eilte zu dem Tisch, an dem sie getafelt hatten, grabschte dort nach einer angebrochenen Whiskyflasche, trank daraus, wischte den Flaschenhals ab und brachte dem Alten die Flasche.
Das Probieren hätte er sich dieses Mal sparen können. Der Alte beachtete es überhaupt nicht. Er hing sofort an der Flasche und trank den Whisky wie Wasser.
Ja, es wurde sehr viel getrunken – als sei der Alkohol geeignet, eine siegreiche Schlacht zu schlagen oder im Gehirn des Sir John präzise Gedanken über Strategie und Taktik zu entwickeln.
Der dicke Burton begann zu schwitzen. Was der Burgherr da in sich hineinsoff, war nicht mehr normal. Oder brauchte er das, um brillante Ideen auszubrüten? So was sollte es ja geben. Dennoch schwitzte der Dicke. Sein Kumpan war ihm zur Zeit auch keine Hilfe. Dessen Blick war jetzt etwas glasig geworden.
„Ich lösch ihn aus!“ brüllte plötzlich Sir John und stierte wild zu dem Hirschgeweih über dem Kamin hoch. „Mit einer Breitseite fege ich ihn weg!“
Burton zuckte zusammen und starrte den Alten entsetzt an.
„Das – das haben wir auch schon versucht, Sir“, sagte er verzweifelt.
Sir John kniff die Augen zusammen und fixierte den ehemaligen Friedensrichter. Sein jäh aufgeflammter Jähzorn schien wie weggewischt.
„Was habt ihr versucht?“ fragte er. Seine Stimme war wieder völlig normal.
„Wir – wir ließen von einer – äh – gecharterten Galeone aus die im Bau befindliche neue ‚Isabella‘ beschießen.“
„Und?“ Das klang knapp und scharf.
„Es – es wurde eine andere Galeone getroffen, die auf der Werft lag.“
„Schwachsinn“, erklärte der Alte rigoros. „Komplett verrückt! Dilettantisch! Da muß man ganz anders vorgehen, mein lieber Burton.“
„Darum haben wir uns ja an Sie gewandt, Sir“, sagte der Dicke eifrig und verbeugte sich im Sitzen. „Was schlagen Sie vor? Sie haben in solchen Dingen die größere Erfahrung.“
„Wo liegen die beiden Schiffe der Kerle?“
„An der Pier in Plymouth“, erwiderte Burton – ohne zu ahnen, daß die Sambuke, mit der die Ben-Brighton-Gruppe bis nach England gesegelt war, und die „Pride of Galway“ von den Seewölfen nach Rame Head verholt worden waren, um den Zugang zur Werft des alten Ramsgate abzusichern und einen zweiten Überfall zu verhindern.
„Dieses Schiff aus dem Mittelmeer – ist es größer als die ‚Pride of Galway‘?“
„Nein, viel kleiner.“
„Hm.“ Der Alte zwiebelte wieder seine Knollennase. „Wie ist es bewaffnet?“
„Überhaupt nicht, Sir.“
Der Alte riß die Augen auf. „Überhaupt nicht? Die Kerle sind mit einem nicht armierten Schiff gesegelt?“
„So scheint es“, erwiderte der dicke Burton. Die Fragen des Alten verwirrten ihn etwas.
Der klatschte plötzlich die rechte Hand auf den Schenkel und lachte dröhnend.
„Das ist es!“ röhrte er. „Diese Roßtäuscher! Sie segeln mit einem unbewaffneten Schiff, weil sie sich einbilden, niemand würde sich für einen solchen Kahn interessieren! Ein ganz harmloses Schiff nach außen! Aber was haben sie im Laderaum? Die Schatzbeute, jawohl, dort, und nicht auf der armierten irischen Galeone!“
Der dicke Burton starrte den Alten verblüfft an. Dann grinste er verstehend. Die Logik Sir Johns leuchtete ihm ein. Richtig, niemand würde einem solchen Schiff besondere Beachtung schenken – oder nur insofern, daß es etwas fremdartig wirkte. Aber das war kein Grund, eine wertvolle Ladung in dem Schiff zu vermuten. Über einen Torfkahn sah man ja auch hinweg, nicht wahr? Da war eine Galeone vom Typ der „Pride of Galway“ schon viel interessanter. Wenn man auf Beute aus war, würde man die Galeone angreifen, aber nie dieses Fahrzeug, das nur hinten gedeckt war. O ja, dieser Sir John war schon ein gerissener Kerl, alle Achtung!
„Sir“, sagte der Dicke schmalzig, „ich bewundere Ihren Scharfsinn. Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Dieses Schiff aus dem Mittelmeer ist ein Trick, das haben Sie völlig richtig erkannt.“
Der Ex-Hauptmann konnte dem Gespräch nicht mehr so richtig folgen. Lallend sagte er: „Wir – wir werden dieses Schiff zerschmettern …“
„Werden wir nicht!“ fuhr ihn der Alte an. „Man schlachtet keine Kuh, von der man Milch haben will, verstanden?“
Bromley wackelte mit dem Kopf, stierte den Burgherrn an und sah ihn doppelt.
„W-welche Kuh, Sir?“ fragte er. Dabei schielte er erschreckend.
„Mark, Sie haben zuviel getrunken“, sagte der Dicke verärgert. „Sir John hat Ihnen nur mit einem Vergleich geantwortet, den Sie offenbar nicht begriffen haben, weil Sie bereits betrunken sind. Mäßigen Sie sich mit dem Wein.“ Fast entschuldigend sagte er zu dem Alten: „Er hat zu lange im Kerker gesessen, Sir. Da darf man ihm nicht verübeln, daß er das Maß verliert. Aber auch daran hat dieser verdammte Killigrew schuld. Mister Bromley hatte eine glänzende Karriere als Offizier vor sich …“
„Schon gut, schon gut“, unterbrach ihn der Alte, den die Karriere des Mark Bromley nicht im geringsten interessierte. Und daß der Kerl sich die Hucke vollsoff, kratzte ihn auch nicht weiter. Einer, der soff, imponierte ihm sogar mehr als einer, der auf eine Karriere aus war. „Also“, fuhr er fort, „dieses Schiff aus dem Mittelmeer werden wir unangetastet lassen. Dafür aber werden wir die ‚Pride of Galway‘ in Grund und Boden schießen.“ Er grinste wie ein Faun. „Wenn wir diese Galeone unter Wasser getreten haben, fällt uns der Mittelmeerkahn wie eine reife Pflaume in den Schoß!“
„Genial!“ rief der dicke Burton begeistert, und dieses Mal heuchelte er keineswegs, obwohl er sich im nächsten Moment darüber ärgerte, daß Bromley und er nicht selbst auf diese Möglichkeit verfallen waren. Sie hätten sich gleich auf dieses Schiff aus dem Mittelmeer konzentrieren sollen, statt diesen unsinnigen Angriff auf den Neubau in Szene zu setzen, mit dem sie überhaupt nichts erreicht hatten – im Gegenteil, diese Seewölfe-Bande war gewarnt worden und wußte bereits, wer hinter der mißglückten Gefangennahme des Hesekiel Ramsgate und dem Anschlag auf seine Werft steckte.
Der Dicke schalt sich selbst einen Narren. Da waren sie nun zu dem alten, schlitzohrigen Sir John geritten, und der hatte im Handumdrehen einen Plan entwickelt, den sie auch selbst hätten fassen können. Und jetzt mußten sie noch mit dem alten Halunken die Beute teilen!
Dieser Gedankengang war richtig, wie der Dicke im nächsten Moment zu hören kriegte.
Der Alte hatte die Augen zusammengekniffen und sagte lauernd: „Das wäre ja dann soweit alles klar, mein lieber Burton – bis auf eins. Sie nehmen doch wohl nicht an, daß ich mit leeren Händen ausgehen möchte, nicht wahr? Schließlich habe ich den richtigen Plan entwickelt, setze für das Unternehmen meine Karavelle und meine Leute ein und riskiere Kopf und Kragen.“ Er zwinkerte dem Dicken zu und rieb Daumen und Zeigefinger der rechten Hand wie ein ausgebuffter Pferdehändler aneinander. „Na, wie steht’s denn damit, mein Guter? Haben Sie mir da was vorzuschlagen?“
„Ä-hem“, sagte der Dicke und räusperte sich die Kehle frei, denn da hatte sich so etwas wie ein Kloß festgesetzt, „darüber hatte ich gerade mit Ihnen sprechen wollen, Sir.“ Das klang ziemlich gequält.
„Immer frei von der Leber weg!“ röhrte der Alte und soff aus der Flasche.
„Ja, Sir“, sagte der Dicke, „ich dachte, daß wir die Beute teilen, nicht wahr?“
Sir John setzte die Flasche ab und schob den Kopf vor, als habe er sich verhört. „Teilen? Sie meinen, fünfzig zu fünfzig?“
Samuel Taylor nickte stumm.
Des Alten Stimme war jetzt sehr leise und bösartig: „Wollen Sie mich betrügen, mein Guter?“
„Aber Sir, ich muß doch sehr bitten …“
„Papperlapapp!“ unterbrach ihn der Alte ruppig. „Dreiviertel der Beute für mich, ein Viertel für Sie und Bromley. Sonst läuft nichts, gar nichts. Das Viertel ist schon happig genug. Denn, daß der Bastard wieder im Lande ist, hätte ich sowieso erfahren. Wenn ich Ihnen und Bromley ein Viertel zugestehe, dann ist das schon mehr als großzügig, ein Geschenk ist das, ein Geschenk für nichts und wieder nichts!“
So wurde Samuel Taylor Burton einfach überrollt und kriegte kein Bein auf die Erde, ja, ihm wurde auch noch gesagt, daß es eine Gnade sei, wenn er und Bromley an der Beute beteiligt würden. Eine Gnade!
Der Dicke hätte den schlitzohrigen Sir John am liebsten erwürgt, aber dazu war er nicht Manns genug, und sein Kumpan Bromley konnte ihm auch nicht beistehen, denn der schnarchte bereits in dem hölzernen Lehnstuhl. Den Rest Rotwein aus seinem Humpen hatte er sich dabei in den rechten Stiefel gegossen. Aber davon war er auch nicht aufgewacht.
So mußte der ehemalige Friedensrichter allein ganz kleine Brötchen backen und durfte allenfalls unbemerkt mit den Zähnen knirschen.
Das war’s also.
Und Sir John hatte mal wieder eine Beute zu seinen Gunsten verteilt, über die er noch gar nicht verfügte.
Ein feines Geschäftchen, dachte er, und lachte dröhnend, der alte Halunke.
3.
Vor lauter Gram über das miese Geschäft hatte der dicke Burton mit dem Alten und seinen beiden Ferkelsöhnen einen Humpen nach dem anderen geleert und war lange nach Mitternacht volltrunken und mit Hilfe von zwei Dienern in eine Turmkammer gewankt, wo man ihm ein Bett bereitet hatte. Dorthin war auch schon der schnarchende Bromley befördert worden, ohne daß er aufgewacht wäre.
Der Alte hatte noch eine Weile herumrandaliert, war dann aber in seinem Sessel vor dem Kamin eingeschlafen.
Das Ferkel Thomas Lionel, das zwischenzeitlich aus dem Keller Wein hatte heraufholen sollen, war im Suff nicht dort gelandet, wo die Weinfässer standen, sondern hatte sich in den Rübenkeller verirrt. Die Kerze war ihm bei seiner Torkelei ausgegangen, so daß er sich nicht mehr zurechtgefunden hatte. Er ruhte also auf schmutzigen Rüben, und Edwin Carberry hätte mit Recht von einem Rübenschwein sprechen können.
Dann hatte der Alte Simon Llewellyn losgejagt, um für Nachschub zu sorgen, aber der war auch nicht zurückgekehrt. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Alte bereits vergessen, daß er seine Söhne in den Keller geschickt hatte. Er war nämlich selbst damit beschäftigt gewesen, daß Hirschgeweih über dem Kamin anzuspringen, um es herunterzureißen.
Das Hirschgeweih!
Scheißgehörn, hatte er in seinem umnebelten Gehirn gedacht, da hängst du mich nicht mehr rein, du Krücke von einem Bastard! Nach dem Ansprung war er am Rand des glosenden Kaminfeuers gelandet und hatte sich die Finger versengt. Von da ab hatte er randaliert und mit allem, was er zu fassen kriegte, nach dem Hirschgeweih geworfen. Immer daneben.
Darum hatte er sich in den Sessel zurückfallen lassen, um das Gehörn vor der nächsten Attacke noch einmal genau anzupeilen. Als er mehrere Geweihe sah, war er eingeschlafen.
Eingeschlafen war indessen auch das Ferkel Simon Llewellyn, das in eine Kiste gestiegen war – mit einer Kruke Wein in der Hand. Die hatte er noch abgezapft, während in seinem Kopf das Weinfaß und das Gewölbe auf und ab geschwankt waren wie der Atlantik bei Sturm. Umnebelt war er dann in die Kiste gestiegen, die er für die Treppe gehalten hatte. Es war eine leere Kiste, die irgend jemand in der Nähe der Steintreppe irgendwann abgestellt hatte, und seitdem stand sie dort.
Aus dieser Kiste hatte er nicht mehr herausgefunden – das war ein grausames Schicksal. Die Kruke lag längst auf dem Kistenboden, und der Wein war ausgelaufen. Bis zur Brust ging ihm die Kiste, aber darüber tasteten seine suchenden Finger in der Luft herum, links war auch Luft, rechts ebenfalls. Wo feste Wände hätten sein müssen, war Luft.
In seinem schwer beduselten Kopf wähnte Simon Llewellyn, er werde von den Geistern der Finsternis in die Hölle entführt und schwebe durch die Nacht der Verdammnis. Und da hatte er sehr geweint, der Ferkelsohn, war in der Kiste in sich zusammengesackt und vom Schlaf aus seinem Höllenflug erlöst worden. Mit dem dicken Hintern hatte er sich in den ausgeflossenen Rotwein gesetzt, der noch nicht ganz durch die Fugen der Kistenbretter gesickert war.
Da hätte Edwin Carberry, der Profos der Seewölfe-Crew, von einem Rübenschwein mit rotem Affenarsch sprechen können. Es war wirklich schade, daß er das nicht sah – das eine Rübenschwein im Rübenkeller, das andere in der Kiste.
Im Morgengrauen ruckte Sir John aus seinem Holzsessel hoch und hatte ein schiefes Genick, eingeschlafene Füße, ein krummes Kreuz und einen Geschmack im Mund, der eine reine Ferkelei war.
Seine Laune war dementsprechend.
Als er sich aus dem Sessel hochquälte – man war ja nicht mehr der Jüngste –, trat er mit den Stiefeln in die Scherben seiner nachmitternächtlichen Wurfübungen. Es knirschte mächtig, und er zuckte zusammen, weil er dachte, dieses Knirschen deute darauf hin, daß seine Knöchel aus dem Leim gingen. Manchmal, vor allem in den letzten Jahren, war das schon so gewesen, daß er meinte, das Knarren seiner Knochen gehört zu haben.
Und jetzt? Er ächzte und schaute nach unten. Auch das war schon schwierig, weil er das Gefühl hatte, sein Kopf säße verkehrt auf dem Hals. Er spähte also schief geneigt zu den Stiefeln hinunter – wie ein Hahn, der einäugig auf einen fetten Wurm stiert –, aber er entdeckte eben nur seine Stiefel, deren Leder seine Waden, Knöchel und Füße verbargen, natürlich, durch Leder hat man keinen Durchblick.
Er brauchte eine Weile, um das zu begreifen. In dieser Weile begann es in seinen eingeschlafenen Füßen zu kribbeln und zu krabbeln, und darum brüllte er um Hilfe, wobei er wie ein müder Brummbär auf den Scherben herumtappte.
Es erschien niemand. Das waren so die Zustände auf Arwenack. Lady Anne lebte seit Jahren in einem anderen Flügel der Feste, zurückgezogen von ihrem unflätigen Mann und ihren ebenso unflätigen Söhnen. Sie hatte es aufgegeben, diese versoffene und vulgäre Männer-Sippschaft noch zu ertragen. Und von der Dienerschaft zeigte sich niemand, weil man es gewohnt war, daß der Burgherr nach durchzechten Nächten erst gegen Mittag aus den Federn kroch. Und auch da hielt man sich zurück, weil man seine stinkige Laune kannte und keine Lust hatte, sich von diesem Wüterich anbrüllen oder verprügeln zu lassen. Außerdem hatte die Erfahrung ergeben, daß der Burgherr seine Brüllerei meist einstellte, wenn keiner da war, der ihm zuhörte.
So auch jetzt. Im übrigen brummte dem Alten der Schädel, und mit der Brüllerei tat er sich überhaupt keinen Gefallen, weil das Schädelbrummen davon nur schlimmer wurde.
Er fand einen Rest Whisky, kippte ihn hinunter, sackte wieder in den Holzsessel mit der hohen Lehne und schnarchte bereits nach ein paar Minuten.
Aufgeweckt mit seiner Brüllerei hatte er nur die drei Bestien, die in der Nähe des Kamins geschlafen hatten. Die hatten auch so ihre Erfahrungen. Sie lauerten noch ein Weilchen, und als sie die Schnarchtöne vernahmen, wußten sie, daß der Weg frei war. Sie tigerten zu dem Bohlentisch, an dem das Freß- und Zechgelage stattgefunden hatte, und räumten ab. Sie hielten also gewissermaßen Nachlese und sorgten dafür, daß nichts verdarb. Im gewissen Sinne ging es den Hunden auf Arwenack eigentlich besser als dem Gesinde und der Dienerschaft.
Daß beim Abräumen ein paar Tonkrüge und Tonschüsseln zu Bruch gingen, besagte nichts weiter. Auch das gehörte dazu. Es bleibt nur noch hinzuzufügen, daß die Wohnhalle mal wieder chaotisch aussah, ganz abgesehen von den Gerüchen, mit denen die Halle geschwängert war. Von einem Saustall zu sprechen, wäre noch untertrieben.
Erst gegen Mittag erwachte die Feste über Falmouth allmählich zum Leben – jedenfalls jener Teil, den Lady Anne wie gesagt seit Jahren nicht mehr betreten hatte. Sie selbst war natürlich längst aus den Federn und das für sie zuständige Gesinde auch. Dort, im Flügel der Lady Anne ging man mit den Hühnern schlafen und stand beim ersten Hahnenschrei wieder auf, dafür sorgte schon die Burgherrin. In ihrem Haushalt klappte auch alles, im Gegensatz zu der Lotterwirtschaft des Burgherrn.
An diesem Mittag nun begab sich Lady Anne ganz gegen ihre sonstigen Gewohnheiten in den Trakt der Feste, den Sir John bewohnte.
Es war nämlich folgendes passiert: Die Hühnermamsell von Lady Anne hatte am Vormittag festgestellt, daß aus dem Volk ihres Federviehs ganze zehn Hühner fehlten, darunter zwei der besten Leghennen. Da sie einen bestimmten Verdacht hegte, war sie zu den Küchenräumen Sir Johns hinübergegangen und hatte sie durchsucht. Zu diesem Zeitpunkt war dort noch niemand bei der Arbeit, so daß sie ungestört war.
Sie hatte mit ihrer Suche Erfolg gehabt: Erstens hatte sie in einem Abfallkübel braune Federn gefunden, was eindeutig bewies, daß dies Federn aus ihrem Hühnervolk sein mußten, denn Sir Johns Hühnervolk bestand aus weißen Hühnern, die nach Lady Annes Ansicht schlechter legten als die braunen. Zweitens fand die Mamsell in demselben Abfallkübel unter anderem das Gebeinpaar der beiden Leghennen, und dieser Beweis war noch eindeutiger, weil der rechte Lauf der beiden Leghennen mit einem bestimmten Markierungsring aus Eisenzinn umgeben war.
Die braunen Federn und die beiden Markierungsringe bewiesen also, daß jemand aus dem Gesinde des Sir John ein Langfinger gewesen war, der zehn Hühner aus dem Federvolk Lady Annes gemaust hatte, die dann als Bratvögel auf der gestrigen Abendtafel des Burgherrn gelandet waren.
Die Mamsell meldete ihrer Herrin den Vorfall, und da war das Maß voll. Lady Anne hatte sich vieles von ihren Mannskerlen bieten lassen, aber wenn man jetzt auch noch hinging und ihr die eigenen Hühner klaute – nur um der eigenen Freßsucht zu frönen –, dann war das Mundraub und im übrigen eine Unverschämtheit, die sie sich nicht gefallen ließ.
Lady Anne war noch so resolut und voller Energien wie eh und je. Bewaffnet mit ihrem Krückstock aus harter Eiche, der unten in einer Zwinge mündete, marschierte sie hinüber in den Wirtschaftstrakt Sir Johns. Dort befand sich auch die Küche, in der die Fressereien für Sir Johns Gelage zubereitet wurden.
Anwesend dort zu diesem Zeitpunkt waren der Küchenchef, ein schmutziger Kerl namens Baxter, ein Gehilfe von ihm namens Haig sowie zwei Küchenmädchen, die alle vier zusammenzuckten, als Lady Anne in der Küche erschien – stämmig, mit drohender Miene und funkelnden blauen Augen, die sich jetzt auf Baxter richteten.
Der grinste frech, aber das Grinsen verging ihm, als Lady Anne auf ihn zurückte, den Krückstock wie einen schweren Säbel in der Faust.
„Baxter!“ fauchte Lady Anne. „Wer hat veranlaßt, daß zehn meiner Hühner geklaut wurden? Heraus mit der Sprache!“
„Ich – ich weiß nicht, von was Sie sprechen …“
Weiter gelangte Baxter nicht, denn der Krückstock trat in Aktion, und Lady Anne wußte ihn bestens zu handhaben. Die beiden Küchenmädchen flohen kreischend aus der Küche, und als sich Haig, der Gehilfe Baxters, ebenfalls verziehen wollte, nahm Lady Anne einen Zielwechsel vor und ließ den Krückstock auf dem Buckel Haigs herumtanzen.