Seewölfe Paket 15

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„Bitte“, sagte der Kutscher mit einer großzügigen Handbewegung, „du bist der Profos und für das Deck zuständig sowie für die Ordnung. Ich glaube, ich gehe nicht fehl in der Annahme, daß du auch künftig auf Spinnus orientalis gewürzikus verzichten willst. Und nichts liegt mir näher am Herzen als dein leibliches Wohl, Mister Carberry.“
Bei diesen Worten drehte er lächelnd die Kruke um, die er über die Bordwand hielt, und ließ den Inhalt herausgluckern. Acht oder neun echte irische Kakerlaken, getarnt als orientalische Gewürzspinnen, platschten in den Hafen von Plymouth und sanken auf den Grund.
Damit war der Kutscher aus dem Schneider, und Carberry sah ziemlich betreten drein. In den Gesichtern seiner Kameraden las er nicht gerade Begeisterung. Verdammt, er hatte sich um diese Art von Gewürzen noch nie gekümmert. Vielleicht nahmen die anderen ihm jetzt krumm, daß sie keine mehr hatten.
Sie nahmen es ihm krumm. Am selben Tag noch, gegen Abend, denn der Kutscher wollte jetzt vor Ed nicht sein Gesicht verlieren.
Es gab Kohl mit Fleisch, aber dieser Kohl schmeckte fade, da fehlten die Gewürze, dachte Ed. Er sah auch, daß die anderen mit geradezu verbissenen Gesichtern kräftig nachsalzten oder Pfeffer an den Kohl gaben. Aber er traute sich nicht so recht, ebenfalls nachzuwürzen.
„Schmeckt es dir nicht?“ fragte der Kutscher besorgt. „Du kaust ja mit richtig langen Zähnen. Man sagt immer: ‚Wenn die Maus satt ist, schmeckt das Korn bitter.‘ Bist du schon satt?“
„Äh – nein, aber ein wenig lau schmeckt es. Da fehlen Gewürze.“
Eds Stimme klang fast kläglich und entschuldigend.
„Tjaa, Gewürze“, murmelte der Kutscher. „Werden wir wohl besorgen müssen, obwohl das hier schwerfällt. Deshalb nahm ich ja auch die Gewürzspinnen mit. Schade drum, aber nicht zu ändern. Aber du wirst dich schon daran gewöhnen, mein Lieber. Ich will nicht als der Mann gelten, der anderen Kakerlaken ins Essen schmuggelt, denn die Dinger sahen wirklich so aus, da muß ich dir recht geben.“
Der Profos räusperte sich verlegen und mampfte weiter.
„Eigentlich bist du ein feiner Kerl, Kutscher“, sagte er dann, was man wohl als so eine Art Entschuldigung auffassen konnte.
Der Kutscher seufzte tief.
„Eigentlich“, sagte er, „bin ich manchmal ein richtiger Sauhund. Aber ich muß das mit Köpfchen wieder ausgleichen, was die anderen mit roher Kraft tun, wenn du verstehst, was ich meine.“
„Ja, ich verstehe“, sagte Ed spontan, obwohl er gar nichts verstand, denn er wußte nicht genau, was der Kutscher überhaupt meinte.
„Äh – entschuldige, wenn ich dich vorhin so angebrüllt habe, Kutscher.“ „Mistbock hast du mich genannt“, sagte der Kutscher schwer. „Entschuldige, alter Junge.“
„Und Kombüsenwanze.“
„War nicht so gemeint, Kutscher.“
„Und mickriger Seewurm.“
„Das sind so meine Ausdrücke“, murmelte Ed.
„Und geteerte Kanalratte.“
„Geteerte Kanalratten gibt’s gar nicht“, sagte Ed. „Das brauchst du nicht auf dich zu beziehen.“
„Jedenfalls war ich ziemlich traurig, als ich das hörte. Dabei habe ich es doch nur gut gemeint“, sagte der Kutscher leicht schluchzend.
Das wiederum rührte den Profos, und sein weiches Herz kam zum Vorschein. Er legte dem Kutscher den Arm um die Schultern und nickte ihm beruhigend zu.
„Nun kotz mal hier keine Knochen“, sagte er burschikos. „Ein Kerl wie du, der nimmt doch mir nichts übel.“
„Dann nimmst du mir auch nichts übel?“
„Kein bißchen“, versicherte Ed. „Und von nun an hast du jede Woche eine Kakerlake bei mir gut. Sollte dir also mal eine ins Essen fallen, dann werde ich nicht einmal husten. Und wirklich, Kutscher: Es ist schade, daß wir diese ägyptischen Gewürzkaker …, äh, -spinnen über Bord gekippt haben.“
Der Kutscher zwinkerte dem Profos zu.
„Ich habe noch ein paar“, sagte er vertraulich. „In der Kombüse sieht noch eine andere Kruke.“
„Dann ist ja alles in Ordnung, du verdammtes Schlitzohr.“
Das mit dem Schlitzohr hörte der Kutscher gern, es ging ihm runter wie Honig mit Milch. Aber ein schlechtes Gewissen hatte er doch, wenn auch nur ein ganz klein wenig.
Aber hätte er sich wegen dieser lausigen, tiefäugigen irischen Kakerlake vom Profos verprügeln lassen sollen? No, Sir! Da mußte man schon ein wenig mit kühler Intelligenz nachhelfen, damit man nicht zu Schaden kam.
Der Profos fragte sich nur beklommen, warum die Kerle alle so merkwürdig starre Gesichter hatten. Bestimmt hatten sie die orientalische Gewürzspinne im Essen vermißt.
Ja, so war das wohl. Zum Glück satte der Kutscher ja noch welche.
2.
Auf dem staubigen Absackboden der alten Mühle, weit draußen vor der Stadt herrschte stickige, dumpfe Hitze. Die Sonne heizte die alte Mühle wie einen Backofen auf.
Hesekiel Ramsgate lag auf dem Absackboden, in Schweiß gebadet, nach Luft schnappend.
Der alte Schiffbaumeister war zäh, hart und ausgemergelt, und in seinen langen Jahren hatte er so manches erdulden müssen. Aber das hier schaffte ihn fast. Die staubige Hitze, der Durst, der Hunger und dann die vielen Schläge und Tritte der üblen Kerle, die es darauf anlegten, die Pläne der neuen „Isabella“ in ihren Besitz zu bringen.
Die Mühle war nicht mehr in Betrieb, schon lange nicht mehr. Innen hatten sich Schaben und Mäuse eingenistet und fraßen die letzten Reste Kleie aus den Ritzen. In einer der Schütten raschelte es wieder, obwohl da kaum noch etwas zu holen war.
Ramsgate war an einen Eichenbalken gekettet und konnte sich nur ein wenig bewegen.
Immer wieder sah er sich in seinem Gefängnis um, obwohl er es nun schon zur Genüge kannte. Er war noch nie hier gewesen, auch dann nicht, als die Mühle noch in Betrieb war. Weil ihn die Langeweile plagte, sah er sich jedoch immer wieder um. Staub, Spreu und verpappte Kleie bedeckten den Absackboden bis zur Schroterei. Die geriffelten Schrotwalzen waren verkleistert. Der Sichter war zusammengebrochen oder zerstört worden, und auch der Teil, wo der Grieß einstmals durch die Glattwalzen gelaufen war, war nur noch Schrott.
Sein Blick wanderte weiter über den Absackboden zur Sichterei und Putzerei mit dem Separator, wo Dreck und Spreu entfernt worden waren, wenn das Getreide hier eintraf. Nein, nirgendwo lag etwas herum, womit er sich aus seiner üblen Lage befreien konnte. Schon gar nicht in seiner Nähe.
Er lehnte sich wieder zurück und schloß die Augen. Durch das Binsendach fiel Sonnenlicht herein. Mäuse raschelten, und ein leichter Wind ließ die alte Mühle leise ächzen und stöhnen, als besänne sie sich auf alte, bessere Zeiten, wo sich das Mühlrad noch im Wind gedreht und die schweren Mahlsteine in Bewegung gesetzt hatte. Mitunter knarrte auch das alte Holz, dann hörten die Mäuse auf zu rascheln, und minutenlang kehrte absolute Stille ein.
Nach einer endlos langen Zeit hörte er ferne Stimmen und schrak hoch.
Die Halunken kehrten wieder zurück, um ihn zu piesacken, um ihn auszuhorchen, denn bisher hatte er sein Geheimnis noch nicht preisgegeben. Er schätzte den Seewolf und seine Männer und wollte nicht, daß ihnen Schaden entstand. Es war schon bedauerlich genug, daß die Arbeiten an dem neuen Schiff nicht vorangingen.
Er versuchte, auch die Stimmen zu unterscheiden, doch er vernahm nichts weiter als ein undeutliches Murmeln und Raunen, das aus allen Ecken zu ertönen schien.
Draußen unterhielten sich tatsächlich zwei Männer. Sie hatten sich lange und ausgiebig umgesehen, ob ihnen auch niemand gefolgt war.
Der eine der beiden Kerle war Samuel Taylor Burton, ein Todfeind des Seewolfs, der vor zwölf Jahren einen Schlaganfall erlitten hatte. Burton war ehemals Friedensrichter von Plymouth gewesen, bis Hasard seine Machenschaften aufgedeckt hatte. Er hatte sich an dem Kronschatz bereichern wollen, an der unermeßlichen Beute der Seewölfe, und war gescheitert. Lange Jahre siechte er dahin, doch er genas wieder, ging nach Plymouth zurück und nahm ein undurchsichtiges Leben auf. Man sagte ihm nach, daß er die Hände in allerlei dunklen Geschäften habe und auf irgendwelchen miesen Wegen Rüstungsgüter und Ausrüstungen der britischen Flotte verschiebe. Wie, das war ihm nicht nachzuweisen, Burton hing jedenfalls in dem Geschäft mit drin.
Der andere war der ehemalige Tower-Hauptmann Mark Bromley, der damals ebenfalls klebrige Finger gehabt hatte. Er wurde erwischt und zu zehn Jahren schweren Kerkers verurteilt. Bis auf den letzten Tag hatte er sie absitzen müssen.
Seitdem hatte der ehrenwerte Exhauptmann einen leichten Knacks weg, denn die zehn Jahre Tower hatten sein Leben geprägt. Er sah ständig Gespenster, hörte Ratten in seiner Nähe umherhuschen und litt ewig unter Hunger, selbst wenn er übersättigt war. Das war auch so eine Marotte von ihm, sich ständig vollzufressen, bis nichts mehr in ihn hineinging. Doch selbst dann noch plagte ihn die Vorstellung eines leeren Magens. Er nahm auch nicht zu, er blieb so dürr und mager wie eh und je.
Mark Bromley hatte auch noch einen anderen Fimmel, ebenfalls eine Auswirkung von damals. In seinem Haus in Falmouth hortete er Lebensmittel, und zwar in solchen Mengen, daß er damit eine ganze Kriegsgaleone hätte ausrüsten können. Vieles von dem gehorteten Proviant war verschimmelt und stank entsetzlich, doch das störte Bromley nicht. Die Hauptsache, das Zeug war da und er brauchte nie mehr Hunger zu leiden, denn das war eine seiner übelsten Erfahrungen im Tower gewesen.
Seit er vor zwei Jahren entlassen worden war, hegte er nur noch fiebrige und wirre Rachegedanken gegen die Seewölfe. Jahrelang hatte er sich ausgemalt, was er alles mit jedem einzelnen tun würde, sollte er ihnen jemals wieder begegnen. Bromley war also ein Wirrkopf, vom Haß zerfressen, von unglaublichen Vorstellungen geplagt und gepeinigt und von Gespenstern erschreckt, die ständig hämisch kichernd um ihn herum waren. Er hatte unsägliche Angst vor totaler Finsternis, und er scheute andererseits aber auch das grelle Sonnenlicht, das er so lange vermißt hatte.
Die beiden Halunken hatten sich gesucht und gefunden, obwohl sie sich nicht richtig ergänzten, und Burton mußte den Übereifer und die Phantasie des ehemaligen Hauptmanns manchmal gewaltsam zügeln, denn der rückte mit den unglaublichsten Vorschlägen heraus.
Burton hatte ihn auch vor einer sehr „grandiosen“ Idee bewahrt. Bromley hatte vor, das Schiff der Seewölfe nachts anzubohren, alle Ausgänge schnell mit Brettern zu vernageln, damit keiner mehr herauskonnte, und dann zuzusehen, wie sie absoffen. Das war nur einer seiner merkwürdigen Einfälle. Ein anderer war der, in Plymsons Kneipe Löcher in die Wände bohren zu lassen, Musketen hindurchzustecken und die Seewölfe durch eine Handvoll ausgebildeter, guter Schützen abzuknallen. Samuel Taylor Burton hatte ziemlich lange gebraucht, um ihm diesen Unsinn auszureden.
Auch die Idee mit den tausend halbverhungerten Ratten, die er auf das Schiff schmuggeln wollte, hatte er abgelehnt.
„Wenn er heute nicht redet“, sagte Bromley eifrig, „dann erkläre ich ihm, wir hätten seine Frau geschnappt und würden sie umbringen.“
„Er hat doch gar keine Frau, Mark.“
„Ach ja, richtig. Er hatte aber mal eine.“
„Das nützt uns doch jetzt nichts mehr, sie ist längst tot“, sagte Burton geduldig und kratzte seinen grauen Bart.
„Ich weiß gar nicht, warum du auf die Pläne so versessen bist, Sam. Wir könnten ganz anders vorgehen, das dauert alles viel zu lange.“
„Es geht nicht nur um die Pläne, Mark, das habe ich schon hundertmal gesagt. Es geht auch um die Beute, die die Kerle mitgebracht haben. Sie besitzen Gold, Silber und Edelsteine, das ist sicher, sonst wären sie gar nicht in der Lage, ein solch großes Schiff zu finanzieren. Also sind sie reich. Und ich will nicht nur meine Rache, ich möchte mir für meine restlichen Tage in diesem Jammertal etwas zurücklegen, um nicht zu hungern. Du willst doch auch nicht hungern, oder? Mit dem Gold hättest du für alle Zeiten ausgesorgt.“
Damit hatte er Bromleys empfindlichsten Punkt getroffen.
„Hungern?“ sagte der entsetzt und mit flackerndem Blick. „Nein, ich will nie mehr hungern. Zwanzig Jahre habe ich gehungert.“
„Zehn waren es genau.“
„Mir kam es länger vor. Nein, du hast ganz recht, Sam. Ich habe mir soeben überlegt, daß ich mir mit dem Geld einen riesigen Bunker bauen könnte, in dem ich Lebensmittel einlagere, so viel, daß es bis an mein Lebensende reicht.“
Burton kannte diesen Spleen und konnte ihn Bromley nicht einmal verübeln. In gewisser Weise verstand er das.
„Die Pläne sind ebenso wertvoll“, erklärte er dem spinnerten Exhauptmann geduldig. „Einen Gegner, den man genau kennt, besiegt man besser als einen anderen. So ist es auch mit dem neuen Schiff, wenn es ihnen gelingt, es zu bauen. Dieses Schiff wird viele unbekannte Verstecke haben, aber sicher auch einige schwache Stellen, und es wird nach seiner Rückkehr wieder mit Gold und Edelsteinen beladen sein. Kennt man aber alle geheimen Gänge, Kammern oder Fallen, so kann man eine andere wohlüberlegte Strategie entwikkeln. Das ist so wie bei dem Einäugigen, der unter den Blinden König ist. Auf einem Schiff aber, das wir nur von außen sehen, können wir nichts ausrichten. Schon gar nicht bei dieser Mannschaft von lebenden Feuerteufeln.“
„Ja, Feuerteufel, das sind sie“, sagte Bromley voller Haß. „Denen habe ich das alles zu verdanken. Den Hunger, die Krankheiten, die Ratten, das schlechte Wasser. Sie sind an allem schuld.“
Auch das war Bromleys Philosophie. Natürlich waren die anderen schuld. Hätten sie ihn mit der Beute ziehen lassen, wäre seiner Meinung nach alles in Ordnung gewesen. Weshalb waren sie auch so knickrig, sie hatten ja genug von dem Zeug. Also trugen sie die Schuld an seinem Unglück.
„Gehen wir“, sagte Burton jetzt ungeduldig.
Diesen letzten Satz hörte auch Ramsgate, und die Angst stieg wieder in ihm hoch. Dann befanden sich die beiden Kerle vor ihm und glichen Riesen, die auf ihn niederschauten.
„Hoffentlich hast du heute deine Sprache wiedergefunden, Alter“, sagte Burton anstelle einer Begrüßung. Er ging in die Hocke und sah Ramsgate in die Augen. Bromley stand mit verkniffenem Gesicht daneben und wartete ungeduldig.
„Durst“, sagte der alte Schiffbauer mit schwacher Stimme, und diesmal brauchte er sich wirklich nicht zu verstellen, denn er hatte Durst.
„Durst“, wiederholte Burton höhnisch. „Du wirst noch viel mehr Durst haben, viel mehr. Der Durst wird dich auffressen und in deinen Eingeweiden wühlen. Aber ich kann dir frisches Wasser bringen, kühles, gutes Brunnenwasser. Du brauchst nur das zu erzählen, was wir gern wissen möchten. Willst du klares, kaltes Wasser?“
Ramsgate wußte, daß er wirklich nur dann etwas zu trinken erhielt, wenn er den Kerlen alles verriet. Er fragte sich nur, was dann anschließend wohl mit ihm geschehen würde.
Vor seinem geistigen Auge tauchte die sehnige Gestalt des Seewolfs auf, der Mann mit den langen schwarzen Haaren, der Narbe über der Stirn, den weißen Zähnen, dem verwegenen Lächeln. Ein Mann, der weiträumig dachte, grundanständig und ehrlich war, nicht wie diese abgetakelten Halunken, gar kein Vergleich. Den sollte er wegen einer Muck voll Brunnenwasser verraten?
Er lächelte abwesend, schloß die Augen und lehnte sich an den Eichenbalken zurück.
„Wo bin ich eigentlich?“ fragte er heiser. „Seid ihr die Teufel aus der Hölle? Und wer ist die alte Frau dort?“ Er kicherte laut und öffnete die Augen. „Satans Großmutter!“ schrie er, so daß Bromley entsetzt zurückzuckte.
„Der ist ja verrückt“, sagte Bromley gepreßt. „Der hat wirklich nicht mehr alle da oben drin.“
„Oder er tut nur so“, meinte Burton und gab dem Alten einen Tritt.
Ramsgate ließ auch das über sich ergehen. Er hatte schon so viele Tritte erhalten, daß er sie nicht mehr zählen konnte.
„Die Teufel aus der Hölle piesakken mich!“ rief er laut mit schriller Stimme und begann hämisch zu lachen.
Diesmal zuckte auch Burton zurück und betrachtete Ramsgate voller Entsetzen. Vielleicht hat sich doch der Geist des Alten verwirrt, dachte er. Ein Schlag zuviel nur, das brachte mitunter einiges im Oberstübchen durcheinander.
„Hör zu, Alter!“ brüllte er den Gefangenen an. „Überlege dir das alles lieber genau. Du kannst hier krepieren, und du bleibst so lange in dieser – äh – Ecke, bis dich die Ratten fressen. Und nachher schicke ich deinen rothaarigen Freund, der wird dich ein bißchen mit einer glühenden Zange zwicken, bis dein Geist wieder klar wird.“
„Lieber Gott, steh mir bei!“ kreischte Ramsgate. „Ich habe viel gesündigt in meinem Leben, aber nimm diese Teufel weg. Und fort mit dem alten, fürchterlichen Weib da!“
Sein Gekreische fuhr Mark Bromley so in die Knochen, daß er sich zitternd an einen Balken lehnte und Ramsgate aus weit aufgerissenen Augen voller Entsetzen anstarrte.
Vor Leuten, deren Geist umnebelt war, fürchtete er sich auch, denn alle, die nicht ganz richtig im Kopf waren, standen auf geheimnisvolle Weise mit dem Satan im Bunde. So jedenfalls hatte er es damals im Kerker immer gehört. Diese Leute verstanden es auch, sich mitunter in Luft aufzulösen oder durch die Luft zu fliegen.
Burton war zwar auch durch das Geschrei etwas beeindruckt, aber er behielt wenigstens die Übersicht.
„Kreisch nur, du alter Kerl“, drohte er, „das wird dir bald vergehen. Spätestens morgen wirst du winseln und dir wünschen, nie geboren zu sein.“
Dann wandte er sich verärgert an Bromley.
„Aus dem kriegen wir heute nichts mehr heraus. Das soll John übernehmen. Gehen wir.“
„Er – er hat den bösen Blick“, stammelte Bromley. „Vielleicht verhext uns der Kerl.“
„Quatsch!“ sagte Burton grob, aber so ganz sicher war er sich seiner Sache auch nicht. Er warf einen Blick auf Ramsgate und schluckte. Zum Fürchten sieht der Kerl wirklich aus, dachte er. Unrasiert, schmal, mit verkniffenem Gesicht und keifender Stimme saß der Mann vor dem Balken und rollte mit den Augen. Dazwischen lachte er schrill, daß es Burton kalt über den Rücken rann.
„Wo sind die Pläne?“ brüllte er noch einmal wütend. „Und wo hat der Hundesohn von einem Killigrew das Gold versteckt?“
Hesekiel Ramsgate begann nun schrecklich zu lachen. Er klirrte mit seinen Fesseln und rollte mit den Augen.
„Hölle, Teufel!“ kreischte er. „Der Satan ist los. Er holt uns jetzt mit Feuer und Schwefel!“
„Der ist tatsächlich verrückt“, murmelte Burton betroffen und tastete sich, langsam rückwärts gehend, an den Balken vorbei, bis er die große Tür erreichte. Bromley schlich neben ihm her, den Blick starr und voller Furcht auf Ramsgate gerichtet.
Als sie draußen waren, begann Bromley zu rennen, denn aus der Mühle drang immer noch das keifende Gelächter des Mannes, von dem sie annahmen, sein Geist sei umnachtet.
Ramsgate aber lehnte sich erschöpft und keuchend zurück, als die beiden Halunken verschwunden waren. Er litt entsetzlich unter dem Durst, und das Spektakel hatte ihn ebenfalls angestrengt. Aber es hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Schweiß stand in dicken Tropfen auf seiner Stirn. Er überlegte immer, noch angestrengt, ob er die beiden nicht schon einmal gesehen hatte. Der Kerl mit dem grauen Bart war ihm irgendwie bekannt, aber er konnte ihn nicht einordnen. Den anderen kannte er nicht, außer von den gestrigen Besuchen, aber er entsann sich nicht, ihm vorher schon mal begegnet zu sein. Sie faselten ständig von irgendwelchen Schätzen, von denen er selbst nichts wußte, und dann waren sie aus einem ihm ebenfalls unbekannten Grund hinter den Bauplänen des neuen Schiffes her.
Nein, dachte er, er würde das Geheimnis nicht preisgeben, und wenn sie ihn erschlugen. Er war ein alter Mann und hatte den größten Teil des Lebens hinter sich. Verriet er den Halunken die Pläne, dann mußten jüngere sterben, der Seewolf und einige seiner Männer vielleicht. Und an denen hing er wie ein Vater an seinen Söhnen.
Er versank wieder in Grübeleien. Dann, nach einer Ewigkeit, wie ihm schien, hörte er erneut Schritte. Einer seiner Bewacher war da, einer der Kerle, die aufpaßten, daß er nicht verlorenging.
Hesekiel Ramsgate spielte seine Rolle weiter als alter Mann, dem die Schläge auf den Kopf leicht geschadet hatten und dessen Geist ein wenig verwirrt war. Vor Verrückten hatten fast alle ein bißchen Angst, ganz besonders aber jene, die so abergläubisch waren.
3.
Immer noch gab es trotz der hohen Belohnung keinen einzigen Hinweis auf Hesekiel Ramsgate. Beim dicken Plymson, dem Wirt der „Bloody Mary“, war ebenfalls noch kein Tip eingegangen.
In der Kneipe stand nur ein mürrischer Sargtischler, der zwar auf die Belohnung scharf war, aber leider auch nichts wußte oder gehört hatte.
Philip Hasard Killigrew und Dan O’Flynn verließen den Laden wieder. Auf ein Getränk hatten sie verzichtet.
„Jetzt weiß ich mir bald keinen Rat mehr“, sagte Hasard, als sie wieder draußen im Sonnenschein an der Ekke Millbay Road standen. „Fast glaube ich, man hat den armen alten Mann umgebracht.“
„Aber wer, zum Teufel, hat denn ein Interesse daran?“ fragte Dan.
Hasard zuckte mit den Achseln.
„Ich weiß es nicht, Dan. Es ist nur so ein Gedanke.“
„Ob das mit der Belohnung schon in ganz Plymouth durch ist?“ fragte Dan.
„Sicher, ganz bestimmt. Fünfzig Golddublonen sprechen sich herum. Da wird jeder Augen und Ohren offenhalten.“
„Trotzdem sollten wir uns noch ein wenig in weiteren Kneipen umhören“, meinte Dan. „Wir haben ja Zeit und können eine nach der anderen abklappern.“
„Kein schlechter Gedanke“, sagte der Seewolf. Er blieb noch einen Augenblick stehen, sah die Millbay Road entlang und blickte dann in die St. Mary Street. Ein kleines Lächeln erschien zuerst in seinen Augenfalten, dann setzte es sich fort und erreichte die schmalen Lippen.
Dan O’Flynn war dem Blick Hasards gefolgt, sah das leicht wehmütige Grinsen und grinste dann auch.
Beide blickten sich erst wortlos an, dann lachten sie.
„Junge, Junge“, sagte Dan fast andächtig. „Hier hat alles einmal angefangen, hier haben wir uns bei einer Mordsprügelei kennengelernt und sind bei Francis Drake auf der ‚Marygold‘ gelandet.“
„Fünfzehnhundertsechsundsiebzig war das“, sagte Hasard.
„Im Oktober“, setzte Dan gedankenverloren hinzu. „In einer kalten, rauhen Nacht. Da bin ich von zu Hause ausgekniffen, weil ich Sargtischler werden sollte. Und da oben hinein“, sagte er lachend, „hast du einen Mann in ein Schlafzimmer gefeuert. Du hieltest ihn bei den Stiefeln und hast ihn rumgeschlenkert. Und auf einmal war er weg und landete genau in jenem Zimmer dort.“
Ja, damals hatte es einigen Aufruhr gegeben. Der Kerl, der ihm aus den Stiefeln gerutscht war, landete bei einer Witwe im Schlafzimmer, und von dieser Nacht sprachen die Leute von Plymouth sogar noch heute und konnten sich eines leichten Schauers nicht erwehren.
Allerdings waren Hasard und Dan anschließend kämpfend untergegangen und auf der „Marygold“ gelandet, als Gepreßte! Ein Witz war das gewesen, denn dort wollten sie freiwillig hin.
Hasard nickte lächelnd.
„Eine lange Zeit ist das her“, sagte er. „Gut, sehen wir uns einmal in Plymouth um, vielleicht haben wir Glück.“
Hinter ihnen blieb der Hafen zurück. Die Masten der „Pride of Galway“ wurden kleiner, dann winzig, schließlich verschwanden sie in dem Gewirr der Häuser. Die beiden Männer gingen weiter.
Es war heller Vormittag, die Sonne schien, Pferdefuhrwerke begegneten ihnen auf dem Katzenkopfpflaster. Die Bauern waren längst auf den Feldern. Die Atmosphäre war friedlich und beschaulich.
Hinter dem Marktplatz kamen sie an dem dreibalkigen Galgen vorbei, den man schon vor über dreißig Jahren errichtet und hin und wieder auch benutzt hatte. Aber heute hing niemand daran.
In der ersten Schenke hielt sich niemand auf. Den Wirt fanden sie draußen auf dem Hof, wo er kraftvoll Holz hackte.
„Das mit den Golddublonen hab ich schon gehört“, sagte er auf Hasards Frage. „Ich weiß auch, wer Sie sind, Sir. In Plymouth erzählt man ja laufend von Ihnen. Aber wenn ich was wüßte, dann hätte ich mir schon die Hacken abgerannt, können Sie mir glauben, Sir.“
Die nächste Kneipe war ebenfalls nicht ergiebig. Alle beteuerten, daß sie von der Belohnung wußten und die Augen offenhalten würden, aber leider – leider.