Seewölfe Paket 18

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Hasard stieg zu diesem Zeitpunkt in den Felsen der Insel auf, die sich im nördlichen Bereich des Westufers erhoben. Er hatte das Geschrei an der Flußmündung recht deutlich vernommen und einzelne Worte verstehen können. Kein Schuß war gefallen – das war für ihn die Hauptsache.
Mardengo hatte Carberry, Roger und Sam als Geiseln genommen, soviel schien inzwischen festzustehen. Er nutzte sie als Faustpfand aus – und Ferris, Ben und die anderen hatten sich an die Anweisungen gehalten. Die Gefangennahme aller Seewölfe, der Marsch zum Lager – all das mußte Mardengo täuschen und von Hasards eigentlichem Vorhaben ablenken.
Hasard hielt im abklingenden Licht des Tages von den Felsen aus Umschau. Im Norden konnte er das Riff mit der „San Carmelo“ und den beiden Einmastern sehen, weiter die Flußmündung und das schmale, tiefblaue Band des Flusses, der sich durch das Grün des Dschungels zu ihm heraufschlängelte. Praktisch war er dem Verlauf des Gewässers gefolgt, um es an einer geeigneten Stelle zu überqueren.
Die „Isabella“ lag nach wie vor in der Flußmündung – jetzt wieder vor Anker, wie er sie verlassen hatte. Einen Kieker hatte er nicht mitgenommen, weil er ihn nur behindert hätte, die beiden Waffen waren bereits genug Ballast. Doch mit dem bloßen Auge konnte er verfolgen, wie ein Boot der Piraten auf die „Isabella“ zuhielt und bei ihr längsseits ging.
Die Seewölfe waren gefangengenommen worden. Auch durch die Verzögerungstaktik, die Hasard Ben, Ferris, Shane und allen anderen empfohlen hatte, hatten sich Mardengo oder seine Kerle nicht lange hinhalten lassen. Jetzt war die „Isabella“ herrenlos geworden, und die Piraten, die als Wachtposten an der Mündung des Flusses zurückgeblieben waren, verließen ihre Deckung im Dickicht und gingen an Bord.
Hasard preßte die Lippen zusammen. Er mußte sich beeilen, wenn er noch etwas ausrichten wollte. Sein Blick wanderte weiter. Er sah die Bucht im Osten, erspähte Skull-Eiland, dessen kahler Felsen einem liegenden Totenschädel ähnelte, und erkannte auch, daß am Ufer der Bucht eine Werft liegen mußte. Auf der Werft befand sich ein Schiff im Bau, das Spantengerüst des Rumpfes war fertiggestellt.
Im Zentrum der Insel, das konnte der Seewolf jetzt ebenfalls sehen, gähnte mitten im Dschungel – am Fuß der Felsen – ein kreisrunder Kahlschlag. Die Dächer von Hütten bildeten einen Ring, Gestalten bewegten sich auf und ab.
Er hatte das Lager der Piraten entdeckt und wußte jetzt, wohin Mardengo aller Wahrscheinlichkeit nach seine Gefangenen bringen würde. So schnell wie möglich mußte er wieder in den Dschungel hinuntersteigen.
Er hatte Fallgruben, Schlingen, spitze Gatter und Giftfallen geschickt orten und umgehen können, aber er wußte, daß er es im Dunkeln schwerer haben würde. Lange dauerte es nicht mehr, und die Dämmerung setzte ein. Es folgte rasch die Finsternis – und wenn er in eine Falle stolperte, war alles verloren.
Er vernahm das Rauschen von Wasser, nicht weit entfernt. Warum war er nicht schon vorher darauf aufmerksam geworden? Plötzlich grinste er. Der Wind hatte gedreht – und er bemerkte es erst jetzt. Er wehte nicht mehr aus Norden, sondern aus Westen. Unberechenbar war die See, das Wechseln von Wind und Wetter konnte von einem Augenblick zum anderen erfolgen. Falls der Wind aus Westen andauerte, würde er ihnen bei der Flucht – falls alles klappte – dienlich sein, denn sie brauchten nicht mehr zu kreuzen, um die Mündung des Flusses zu verlassen.
Er kletterte noch ein Stück höher und sah sich plötzlich einem Wasserfall gegenüber, der aus einer Höhe von etwa zweieinhalb Yards herabrauschte. Einem unbestimmten Gefühl folgend, watete er durch das flache Wasser des Flusses, der hier oben nur noch ein Bach war.
Er wußte nicht, was es war, das ihn wie eine magische Kraft anzog. Aber wenig später begriff er, daß es der nahezu untrügliche Instinkt des erfahrenen Korsaren war. Er trat unter den Wasserfall, schritt hindurch und blieb abrupt stehen.
Hinter dem Wasserfall war der Eingang einer Höhle verborgen. Hasard betrat sie, ohne zu zögern. Nirgends war ein Wächter zu sehen, alle Posten, die die Bande über die Insel verteilt hatte, schienen für den Kampf gegen die „Isabella“ abgezogen worden zu sein. Jedenfalls war er bisher nicht behelligt worden, und auch jetzt trat keine unerfreuliche Überraschung ein, die ihn in seinen Nachforschungen behinderte. Er war ungestört.
Etwa zehn Yards weit schritt er voran. Es wurde fast stockdunkel. Er stolperte um ein Haar über einen halbhohen, harten Widerstand, verharrte und betastete ihn mit beiden Händen.
Eine Truhe. Ihr Deckel ließ sich öffnen. Hasard war kaum noch erstaunt, als er in leise klirrenden Schmuck griff, mit dem die Truhe bis zum Rand gefüllt war. Er hatte keinen Zweifel daran, daß es sich um Gold, Silber und kostbare Juwelen handelte.
Er arbeitete sich weiter voran und entdeckte immer mehr Truhen und Kisten. Da hatte er also Mardengos geheimes Schatzversteck gefunden – und Little Ross hatte recht gehabt. Ein Abstecher zu diesem Schlupfwinkel lohnte sich, sie gingen nicht leer aus, sondern würden die Stauräume der „Isabella“ bis unter die Luken vollstopfen.
Das aber nur, wenn es ihm wirklich gelang, die Kameraden zu befreien. Er pirschte vorsichtig weiter, und wenig später stieß er auf einen natürlichen Stollen, der in die Tiefe führte. Gebückt konnte er sich darin bewegen, und wieder scheute er sich nicht, auch diesen Weg zu nehmen.
Der Boden wurde abschüssiger, er mußte jetzt aufpassen, nicht auszugleiten. Stockfinster war es, er konnte nicht mehr die Hand vor Augen erkennen. Es hätte ihm aber auch nichts genutzt, wenn er eine Fackel gehabt hätte. Er hätte sie nicht entfacht, denn irgendwo mußte der Tunnel zu Ende sein, und dort, am Ausgang, würde ihn die Flamme sofort verraten haben.
Er war sicher, daß der Stollen eine zweite Mündung hatte, denn ein leichter Luftzug umfächelte sein Gesicht. Hätte es sich um einen geschlossenen Schacht gehandelt, wäre dieser feine Durchzug nicht möglich gewesen.
Tatsächlich – plötzlich sah er vor sich, nicht weit entfernt, einen blassen Lichtschimmer. Er huschte weiter und hatte etwas später den Auslaß erreicht. Vorsichtig schlüpfte er in die Büsche, die das Loch im Felsen vollständig zudeckten. Er konnte sich jetzt wieder zu seiner vollständigen Größe aufrichten, kauerte sich aber hin, weil er damit rechnen mußte, entdeckt zu werden.
Er hörte leise Stimmen. Regungslos hockte er da und wagte nicht, sich zu rühren. Erst nach und nach wurde ihm bewußt, daß die Männerstimmen nicht ihm galten, obwohl sie sich nicht weit entfernt befanden.
Der Stollen hatte ihn zum Fuß der Felsen hinuntergeführt, und er konnte, wenn ihn sein Orientierungsvermögen nicht täuschte, nicht mehr weit vom Lager der Piraten entfernt sein. Mardengos Schatzversteck hatte also zwei Zugänge, und beide waren hervorragend durch die Natur getarnt.
Hasard wagte sich aus seiner Deckung hervor. Er robbte ein Stück auf dem Boden entlang und war weiterhin auf der Hut. Bisher waren keine tödlichen Fallen mehr aufgetaucht, doch das wollte nichts heißen. Er mußte auch weiterhin damit rechnen.
Seine Vorsicht zahlte sich aus. Er war nur wenige Yards in die Richtung gekrochen, in der sich nach seinen Schätzungen das Lager befand, da entdeckte er ein dünnes Tau, das in Knöchelhöhe über dem Boden gespannt war. Er verharrte und war versucht, das Tau mit der Hand zu berühren, vermied es aber.
Wieder schaute er sich nach allen Seiten um. Kein Gegner war zu entdecken, niemand schien im Hinterhalt zu lauern. Behutsam erhob er sich und folgte dem Verlauf des Taus mit dem Blick. Es führte bis zu einem Baum mit dickem Stamm, von dort nach oben weiter und endete in einer Astgabel, die sich gut vier Yards über dem Boden ausstreckte. Steine baumelten von dem Ast herab. Wer gegen die Schnur trat, löste einen simplen Mechanismus aus, der die Halterungen der Steine lockerte. Sie stürzten dann zu Boden – dicke Brocken, die einen ausgewachsenen Mann ohne weiteres erschlagen konnten.
Hasard stieg über den Fallstrick und schlich weiter. Trotz des nachlassenden Lichtes sah er eine Fallgrube, die auf die übliche Weise zugedeckt und getarnt worden war. Er tauchte seitlich im Dickicht unter und brachte auch dieses Hindernis hinter sich. Weitere Fallen fand er nicht, und er war dem Lager jetzt sehr, sehr nahe, wie er der zunehmenden Lautstärke der Stimmen entnahm.
Mardengo hatte die Fallen nicht nur geschaffen, um sich gegen etwaige Angreifer der Insel zu sichern. Er wußte sich auf diese Weise auch gegen seine eigenen Kumpane zu schützen, denen früher oder später durchaus einfallen konnte, sich den Schatz anzueignen und damit zu verschwinden – spurlos und auf Nimmerwiedersehen.
Hasard kannte die Mentalität von Piraten dieser Sorte zur Genüge. Sie hielten zusammen wie Pech und Schwefel, gewiß, aber sie benahmen sich untereinander auch wie wilde Tiere, die ohne erkennbaren Anlaß zu den gefährlichsten Ausbrüchen fähig waren. Unberechenbar waren sie, eiskalt und skrupellos. Das wußte auch Mardengo. Er hatte sich auf jeden Eventualfall vorbereitet und eingerichtet. Er würde nicht zulassen, daß man ihn hinterging und betrog.
Hasard tat Schritt um Schritt auf die Lichtung zu und konnte jetzt das rauhe Lachen eines Mannes vernehmen. Das Dickicht wurde undurchdringlich, er mußte sich mit dem Entermesser einen Weg bahnen. Mangroven und Lianen schienen ihm den Zutritt zum Lager verweigern zu wollen, und er durfte nicht zu heftig zuschlagen, um sich nicht zu verraten.
Endlich hatte er es geschafft. Er blieb stehen, steckte das Entermesser weg und duckte sich. Dann teilten seine Hände vorsichtig Zweige und Blätter, und er konnte einen Blick auf die Lichtung werfen.
Zwischen zwei Hütten hindurch sah er zu Mardengo und Oka Mama, die soeben mit ihren Gefangenen eingetroffen waren.
Mardengo war es, der gelacht hatte. Er schien sich kaum beruhigen zu können und kostete seinen Triumph voll aus, als er die betretenen Gesichter seiner geschlagenen Gegner sah.
Hasard mußte sich bezwingen. Er hätte das Überraschungsmoment ausnutzen und sich in einer blitzschnellen Attacke auf Mardengo werfen können, doch das hätte ihm wenig genutzt. Oka Mama, der Korse und acht andere Piraten bewachten die Gefangenen. Er hätte den Kampf gegen sie allein bestreiten müssen, denn die Arwenacks waren gefesselt. Ehe er auch nur einen von ihnen befreit hatte, würden sich die Piraten auf ihn werfen. Nein, es hatte keinen Zweck. Er mußte einen günstigeren Zeitpunkt für seine Aktion abwarten.
Ferris, der vermeintliche Seewolf, trat dicht vor Mardengo hin. Mardengo hatte den Schwindel nicht erkannt, und jetzt, im Dunkelwerden, würde er erst recht nicht begreifen, daß man ihn getäuscht hatte. Darauf baute Ferris. Er mußte jetzt wissen, wo Roger und Sam waren. Waren sie wohlauf – oder waren sie verletzt wie Carberry?
Carberrys Schulterwunde hatte aufgehört zu bluten. Dem Kutscher und Mac Pellew war es gelungen, während des Marsches durch den Inseldschungel neben ihm zu gehen und ihn notdürftig zu untersuchen.
„Du hast Glück gehabt, Ed“, sagte der Kutscher leise. „Wenn der Schnitt nur etwas tiefer ausgefallen wäre, hätte ich dich operieren müssen.“
„Der Henker bewahre mich davor“, brummte der Profos. „Das hätte mir gerade noch gefehlt. Such dir ein anderes Opfer.“
„Keine Angst, das wächst sich wieder zurecht, Ed“, sagte Mac Pellew mit tieftrauriger Miene. „Aber selbst wenn wir den Arm amputieren müßten, wäre das nicht so schlimm. Sieh dir Donegal an, wie glücklich der mit seinem Holzbein lebt.“
„Halt’s Maul!“ zischte Carberry. „Dein Gequatsche hat mir gerade noch gefehlt.“ Immer wieder suchte er mit seinem Blick nach Roger und Sam, aber sie tauchten nirgends auf.
Es war der reine Galgenhumor, der die Seewölfe aufrecht hielt. Sie wußten gut genug, was sie erwartete, wenn Hasard nicht rechtzeitig genug auftauchte und eingriff. Mardengo würde sein Wort nicht halten. Er und seine Kerle würden sich einen grausamen Spaß daraus bereiten, ihre Gefangenen zu quälen. Sie würden sie töten, einen nach dem anderen.
„Wo sind Roger Brighton und Sam Roskill?“ fragte Ferris laut. „Wir haben ein Recht darauf, es zu erfahren!“
„Ein was?“ Mardengo lachte wieder. „Ein Mann in deiner Lage hat kein Recht mehr, Killigrew, auf nichts! Du hast lediglich meine Fragen zu beantworten. Soll ich sie dir gleich stellen oder noch ein bißchen warten?“
„Frag, was du willst“, sagte Ferris. „Du kriegst von mir keine Antwort, bevor ich nicht weiß, wo Roger und Sam sind.“
„Sag’s ihm!“ zischte Oka Mama. „Na los, verrate es ihm doch, mein Sohn.“
Mardengo richtete seine Pistole auf Ferris. „Geh vor mir her. Ich führe dich zu deinen Freunden. Dann quetsche ich dich aus, verlaß dich drauf. Du wirst noch darum betteln, mir alles verraten zu dürfen, zum Beispiel, wo eure Schätze liegen.“
„Schätze?“ Ferris’ Verblüffung schien echt zu sein. „Wir haben keine Schätze. Wir sind arm wie Kirchenmäuse.“
„Noch viel ärmer“, fügte Ben Brighton hinzu.
Der Musketenkolbenhieb eines Piraten brachte ihn zum Verstummen. Mardengo trat Ferris mit voller Wucht in die Seite, Ferris taumelte, stürzte aber nicht.
„Lauf!“ brüllte Mardengo. „Siehst du die Hütten? Vor der kleinsten bleibst du stehen! Du willst deine Freunde sehen? Ich zeige sie dir!“
Ferris stolperte zu der Hütte und blieb vor der niedrigen Tür, die aus Schiffsplanken zusammengezimmert war, stehen. Eine saumäßige Arbeit, dachte er wütend, jeder Anfänger hätte das besser gekonnt.
Mardengo gab einem seiner Kumpane einen Wink, und der Kerl riß die Tür auf. Mardengo, trat erneut nach Ferris, und Ferris vollführte einen Satz in die Hütte hinein. Seine Fußstricke brachten ihn zu Fall, er blieb keuchend zwischen den beiden Männern liegen, die sich im Dunkel der Behausung aufrichteten.
„Da hast du sie!“ schrie Mardengo. „Bist du jetzt zufrieden?“
„Seid ihr’s wirklich?“ fragte Ferris.
„Ich bin Roger“, gab Bens Bruder gedämpft zurück. „Und hier liegt Sam. Sie haben uns ein bißchen vermöbelt, sonst sind wir aber ganz munter. Aber wer bist du? Ferris? Du siehst aus wie Hasard.“
„Halt den Mund“, sagte der rothaarige Riese grob. „Die Hunde scheinen zwar kein Wort Englisch zu verstehen, aber wir dürfen nicht riskieren, daß alles auffliegt. Für euch bin ich Hasard, kapiert?“
„Aye, Sir!“ sagte Sam Roskill grimmig. „Verstanden, Sir!“
Mardengos Gestalt erschien in der Öffnung der Tür. „Wo liegen eure Schätze?“ fragte er wild. „Ich werde sie heben. Ich bringe euch zum Sprechen, ich habe schon ganz andere Kerle weichgeklopft. Oder soll ich euch lieber Okachobee überlassen?“
„Du kannst dich von mir aus selbst weichklopfen“, entgegnete Ferris, nachdem er sich auf den Rücken gedreht hatte. „Wir haben keine Schätze, dabei bleibt es. Sonst noch Fragen?“
„Dich schlitze ich auf“, drohte Mardengo.
„Tu, was du nicht lassen kannst“, sagte Roger gelassen. „An uns hast du keinen Spaß.“
Mardengos Züge hatten sich zu einer Fratze verzerrt. „Ich habe eine bessere Idee, Killigrew. Ich bringe zwei deiner liebsten Kumpane zum Schreien – den Kerl mit den Narben und den rothaarigen Hurensohn, der vor St. Augustine an Bord eures Kahnes das Katapult bedient hat. Warte, diesen Bastard schnappe ich mir als ersten. Wo steckt er?“
„Keine Ahnung“, erwiderte Ferris.
Aber er biß sich doch auf die Unterlippe, als sich Mardengo umdrehte und zurück zu den Gefangenen lief. Plötzlich drohte der ganze schöne Plan doch aufzufliegen, denn nach Ferris Tucker konnte der Pirat lange suchen.
5.
Gato hatte das Kommando über die Schiffe der Piraten übernommen. Vom Riff aus hatte er alles verfolgen können – die Kapitulation des Gegners, das Abrücken des kompletten Zuges von Piraten und Gefangenen und das An-Bord-Gehen der Kumpane, die im Dickicht am Fluß gewartet hatten.
Er schob sein Spektiv zusammen und steckte es weg. Die Kerle an Bord der „Isabella“ lachten und winkten ihm zu. Er zögerte nicht mehr.
„Wir verlassen das Riff und segeln in die Mündung“, sagte er.
Die Männer an Bord der „San Carmelo“ atmeten auf. Sie waren heilfroh, daß der Kampf vorbei war. Sie waren zum Umfallen müde, ihre Energiereserven waren aufgebraucht. Sie hatten lange, schlaflose Tage hinter sich. Zuletzt hatten sie in der Bucht Ponce de León gegen die Seewölfe und die Seminolen kämpfen müssen. Anschließend waren sie geflohen und hatten das Schiff nur mit Mühe vor dem Untergang bewahrt.
All das hatte an ihren Kräften gezehrt, und auch der stärkste Kerl war jetzt kaum noch in der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Mit Mühe setzten sie erneut die Segel und steuerten aus dem Riff heraus, während Gato und die anderen Kumpane an Bord der beiden Einmaster bereits die Hälfte der Distanz von der Korallenbarriere zur Flußmündung überbrückt hatten.
Schwerfällig legte sich die „San Carmelo“ mit Steuerbordhalsen an den Westwind und lief träge auf die Insel zu. Die Gefechte hatten ihr schwer zugesetzt, wieder hatte sich im Laderaum Leckwasser gesammelt, doch die Lenzpumpen wurden nicht mehr bedient.
Warum auch? Gato warf einen Blick zu der Galeone zurück, dann drehte er sich wieder zu seinen Leuten um und sagte: „Sobald wir den Kahn der Engländer durchsucht und festgestellt haben, daß sich keiner der Hunde mehr an Bord befindet, kann die ‚San Carmelo‘ die Insel runden und die Werft anlaufen. Bis dahin schafft sie es noch, ohne abzusaufen.“
„Aber auch nicht weiter“, sagte ein Pirat. „Wir werden sie aufslippen müssen, um sie gründlich überholen zu können.“
Gato nickte. „Aber wir können das in Ruhe erledigen, wir haben Zeit. Die Hauptsache ist, daß wir die englischen Hurensöhne endlich erledigt haben. Wie ich Mardengo und Oka Mama kenne, werden sie sie einen nach dem anderen hinrichten.“
„Auf welche Art?“ fragte ein anderer Pirat.
Gato grinste. „Das kannst du dir doch denken. Oka Mamas Erfindungsreichtum ist in der Beziehung unerschöpflich.“
Die Kerle lachten. Keiner von ihnen hatte auch nur das geringste Mitleid mit den Seewölfen. Sie gönnten ihnen, was sie nun erwartete, denn lange genug hatten sie Mardengos Bande zugesetzt und viele Männer getötet.
Die Einmaster gingen bei der „Isabella“ längsseits, die „San Carmelo“ drehte knappe zehn Yards von ihr entfernt bei und warf den Anker.
„He!“ rief Gato dem Kerl zu, den er auf dem Hauptdeck stehen sah. „Wo sind die anderen?“ Er enterte, während er sprach, an der Jakobsleiter auf.
„Sie durchsuchen das Schiff!“ entgegnete der Posten. „Ich bin hier oben allein.“
Gato lachte und kletterte über das Schanzkleid. „Das wird jetzt anders. Wir stellen eine Mannschaft zusammen, dann verholen wir mit dem Kahn in die Skull-Bucht und gehen dort vor Anker.“ Er blieb mitten auf dem Hauptdeck stehen, stemmte die Fäuste in die Seiten und ließ seinen Blick schweifen.
Ein prächtiges Schiff, das mußte man den englischen Bastarden lassen! Nach dem Gefecht in der Ponce-de-León-Bucht war alles wieder instand gesetzt und aufgeklart worden. Das Rigg war tadellos in Schuß, die Decks waren aufgeräumt, die Taue sauber aufgeschossen.
Gato konnte sich eines Gefühls des Neides nicht erwehren. Weder Mardengo noch er waren jemals auf einem so schönen Schiff auch nur für kurze Zeit gefahren.
Aber die Galeone gehörte jetzt ihnen. Sie würden sie zu ihrem Flaggschiff machen, mit ihr zu neuen Raids auslaufen und wahrscheinlich noch einmal Fort St. Augustine angreifen, wo die Spanier bereits eine Niederlage hatten einstecken müssen.
Gato konnte sich ausrechnen, daß Mardengo dieser Gedanke gefallen würde. Auch Oka Mama würde derselben Ansicht sein. Wenn auch das Schiff fertiggestellt war, das auf der Werft lag, und wenn die „San Carmelo“ überholt war, konnten sie mit einem ansehnlichen Verband Pirates’ Cove verlassen.
Er schritt langsam nach achtern und begutachtete die Kanonen. Hervorragende Stücke, dachte er, Zwanzigpfünder und Culverinen, alles bestens in Schuß.
Er enterte das Quarterdeck, dann das Achterdeck, inspizierte alles und warf auch einen interessierten Blick in das Ruderhaus, das gerade aufgebaut war. Er kehrte auf das Quarterdeck zurück, öffnete das Achterdecksschott und betrat das Kastell. Mit einem triumphierenden Grinsen ging er bis zum Ende des Mittelganges, öffnete die Tür und stand in der Kapitänskammer.
Seine Augen hatten sich auf das Dämmerlicht eingestellt, er konnte alle Einzelheiten erkennen. Seine besondere Aufmerksamkeit galt den Waffenschränken: kostbare Flinten und Pistolen besonderer Bauart, eine prachtvolle Sammlung von hohem Wert – sein Staunen war jetzt groß. Er dachte darüber nach, daß es sich lohnte, ein paar dieser Waffen auf die Seite zu schaffen, bevor sich Mardengo und Oka Mama das Schiff ansahen.
Seine Überlegungen wurden durch heranpolternde Schritte unterbrochen. Instinktiv griff er zur Pistole, ließ die Hand aber wieder sinken, als er einen seiner Kumpane erkannte, der hinter ihm durch den Gang auf ihn zusteuerte.
„Gib dich das nächstemal zu erkennen“, sagte Gato. „Um ein Haar hätte ich auf dich geschossen. Du hättest einer der Engländer sein können, die vielleicht hier an Bord noch versteckt sind.“
„Es ist keiner von ihnen an Bord zurückgeblieben“, sagte der Kerl. „Wir haben alles durchsucht.“
„Wirklich alles?“
„Die Männer nehmen sich eben die Stauräume vor.“
Gato war doch überrascht. Er hatte mit einem faulen Trick der Engländer gerechnet, mit dem Versuch, eine Falle zu stellen. Aber sie schienen derart besorgt um das Wohl ihrer drei Kameraden zu sein, die von Oka Mama festgenommen worden waren, daß sie eine derartige List nicht gewagt hatten.
In der Tat hatte Hasard anfangs mit dem Gedanken gespielt, ein paar Männer im Geheimgang der „Isabella“ zu verstecken, die im geeigneten Moment in Aktion traten. Doch es war zu befürchten, daß Oka Mama und Mardengo die Zahl der Gefangenen genau überprüften. Es war zu riskant, diese Art von List anzuwenden. Schon die Maskerade Ferris Tuckers war ein Wagnis, das einige Proben zu bestehen hatte.
Gato entfachte eine Öllampe, dann stieg er mit seinem Spießgesellen in den Schiffsbauch hinunter. Sie hörten jetzt das Geschrei ihrer Kumpane, offenbar waren die Kerle auf den Schatz von Fort St. Augustine gestoßen.
Alles hatten sie durchsucht, wirklich alles, auch den Krankenraum, die Kombüse, das Logis und die Schlaf räume im Achterdeck. Sie waren nicht auf die verborgenen Türen des Geheimganges gestoßen – dafür aber hatten sie den Schatz gefunden. Sie grölten und lachten, und zwei von ihnen stachen ein Weinfaß an, das sie aus dem Vorratsraum in den Stauraum gerollt hatten.
Gato und der andere Pirat trafen mit der Lampe bei ihnen ein. Gato grinste und beugte sich über die geöffneten Truhen und Kisten. Ein Gefühl der Glückseligkeit ergriff ihn. Er hatte diesen Schatz, der für Philipp II. von Spanien bestimmt gewesen war, schon einmal vor Augen gehabt: im Kellergewölbe von Fort St. Augustine. Durch einen Zufall hatte er ihn entdeckt, und er hatte alles darangesetzt, den Kampf im Inneren der Festung zu gewinnen und die Truhen zu bergen.
Dann aber waren die Männer der „Isabella“ erschienen und hatten alles vereitelt. Gato griff mit beiden Händen nach der größten Truhe und hielt sie fest, als könne sie von einer unsichtbaren Macht erneut entführt werden. Einmal hatte er sich den Schatz entreißen lassen – ein zweites Mal sollte das nicht gelingen.
Einer der Kerle reichte ihm einen Becher Wein, er nahm ihn an und leerte ihn mit einem Zug. Der Wein war schwer und süffig und steigerte die Euphorie.
Plötzlich durchzuckte Gato ein verwegener Gedanke: Wie nun, wenn er die Kerle dazu überredete, Mardengo und Oka Mama im Stich zu lassen? Die Zahl war ausreichend, eine Besatzung für die „Isabella“ ließ sich zusammenstellen. Sie konnten sofort auslaufen und verschwinden, ehe Mardengo auf die Idee verfiel, seine Beute selbst in Augenschein zu nehmen.
Viele der Kerle hatten die Nase voll, Mardengo hatte sie nach der Niederlage in der Ponce-de-León-Bucht mißhandelt. Sie haßten ihn und hatten an seinen überragenden Fähigkeiten als Bandenführer und Stratege zu zweifeln begonnen. Es war der richtige Augenblick, eine Meuterei anzuzetteln.