Seewölfe Paket 18

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Das Risiko war gering, sie würden mit dem Schiff in der Dunkelheit untertauchen. Sie konnten die „San Carmelo“ und die Einmaster versenken, dann saßen Mardengo, Oka Mama und der Rest der Meute auf der Insel fest und konnten sie nicht verfolgen. Der Schatz von St. Augustine reichte aus, um alle Wünsche der Piraten zu erfüllen – was wollten sie mehr?
Gato wollte eben zum Sprechen ansetzen und seinen Kumpanen einen entsprechenden Vorschlag unterbreiten, da ertönte von oben ein Ruf.
„Gato!“ Es war die Stimme des Kerls, der als Wachtposten auf dem Hauptdeck zurückgeblieben war. „Schiffe in Sicht!“ rief er. „Im Nordwesten! Sie halten auf Pirates’ Cove zu! Gefahr!“
Gato fluchte, schleuderte den leeren Becher an Deck und stürmte nach oben.
Er trat neben den Posten, hob sein Spektiv und warf einen langen Blick hindurch. Im verblassenden Licht waren eben noch die Umrisse der Schiffe zu erkennen. Sieben Galeonen! Gato verschlug es fast die Sprache.
„Spanier“, sagte er und schluckte. „Das kann nicht sein.“
„Sie sehen mir verteufelt nach den Galeonen aus, die uns von St. Augustine gefolgt sind“, sagte der Kerl.
„Jene, die uns bei Daytona geschlagen haben?“ Gato stieß einen Fluch aus. „Ja, das könnte sein. Der Teufel mag wissen, wie sie hierhergeraten sind.“
„Sie haben einige unserer Leute an Bord. Vielleicht hat einer von ihnen ausgepackt.“
„Das wäre sein sicheres Ende“, zischte Gato.
Er beobachtete die Galeonen durch die Optik. Sie steuerten auf das Riff zu. Plötzlich grinste er. Wenn sie Pech hatten, wurden sie vom Wind genau auf die Barriere gedrückt, und dort konnte man sie mühelos zusammenschießen.
„Los“, sagte er zu dem Kerl. „Nimm ein Boot, setz über und lauf zum Lager. Alarmiere Mardengo.“
Der Mann verschwand. Gato ließ die Galeonen nicht aus den Augen. Nur kurz war die Freude über die Niederlage des Gegners, über das gekaperte Schiff und den wiedergefundenen Schatz gewesen – eine neue Gefahr drohte, die den Untergang von Pirates’ Cove bedeutete, wenn sich herausstellte, daß es wirklich der Verband aus St. Augustine war.
Die anderen Kerle hatten den Stauraum ebenfalls verlassen und traten zu Gato. Er erklärte ihnen, was er sah, und sie begannen ebenfalls zu fluchen.
„Kein Licht anzünden“, sagte er. „Noch scheinen sie uns nicht entdeckt zu haben. Vielleicht haben wir eine Chance. Sie laufen auf das Riff, und wir fallen über sie her. Los, das Schiff klar zum Gefecht!“
Rege Betriebsamkeit setzte ein, die Piraten eilten an die 25- und 17-Pfünder, und auch die Drehbassen wurden besetzt. Die meisten Geschütze waren noch geladen. Für die leeren Rohre standen Pulverfässer bereit und waren auch Kugeln in ausreichender Zahl vorhanden.
Aber aufpassen mußten die Kerle in der zunehmenden Dunkelheit. Hier und da klafften Löcher in den Planken der „Isabella“ – sie waren von den Pulvertöpfen gerissen worden, die Mardengo zum Feind hinübergeschleudert und zum Explodieren gebracht hatte. Wer nicht aufpaßte, fiel hinein und brach sich ein Deck tiefer womöglich die Knochen.
Aber die Kerle waren vorsichtig, und rasch machten sie sich mit der neuen Umgebung vertraut. Die „Isabella“ war bereit zum Gefecht. Auch auf der „San Carmelo“ und den beiden Einmastern waren alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen worden.
Gato brauchte nur noch abzuwarten und zu verfolgen, was der Gegner, der sich offenbar sehr zielstrebig der Insel näherte, unternahm.
Die Schleier der Nacht fielen jetzt fast atemberaubend schnell, und an Bord der Galeonen wurden die Hecklaternen angezündet.
„Narren“, sagte Gato leise. „Ihr erleichtert uns den Überfall.“
Wie Perlen auf einer Schnur wirkten die Positionslaternen der spanischen Schiffe, die sich – von Gatos Standort aus betrachtet – in schräg achterlich versetzter Linie unaufhaltsam dem Riff näherten. Es dauerte nicht mehr lange, dann hatten sie die ersten Korallenbänke erreicht.
Don Augusto Medina Lorca, der nach wie vor an der Schmuckbalustrade auf dem Achterdeck der „Santa Veronica“ stand, hatte sich die Stelle, an der der Gefechtslärm erklungen war, genau gemerkt. Deshalb lief er Pirates’ Cove von Nordwesten an. Don Lope de Sanamonte, der nicht von der Seite des Piraten gewichen war, widersprach ihm dieses Mal nicht. Er war – was selten der Fall war – mit Don Augusto einer Meinung: Es war nur richtig, am Ort des Geschehens, an dem jetzt tiefes Schweigen herrschte, nach dem Rechten zu sehen.
Der Pirat hatte als Lotse einwandfreie Arbeit geleistet. Don Lopes anfängliche Bedenken hatten sich etwas gelegt. Der Pirat indes hütete sich, von dem Riff zu sprechen, das als Schiffsfalle vor der Insel auf sie lauerte.
Seine Rechnung war einfach, und sie ging auf: Wenn er die Schiffe auf die Korallenbänke lenkte, hatte er – falls er überlebte – später eine Chance, sich vor seinen Kumpanen und auch vor Mardengo zu rechtfertigen. Er war zum Schein auf die Wünsche der Spanier eingegangen, aber nur, um sie auf die Barriere locken zu können und sie somit Mardengo auszuliefern. So würde er das Mardengo und Oka Mama gegenüber darstellen, und wenn alles klappte, mußten sie ihm glauben.
Mit rauschender Bugwelle segelte die „Santa Veronica“ in ihr Verderben. Sie sollte die erste sein, die auf den Bänken zerschellte. Die Hände des Piraten verkrampften sich um den Handlauf der Balustrade, und er preßte seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Er wünschte seinen Gegnern, daß sie starben – alle.
Vielleicht würden auch die gefangenen Piraten in der Vorpiek der Galeone ihr Leben lassen, vielleicht waren sie sogar die ersten, die ein furchtbares Ende fanden. Aber das, so befand der Mann, war ein Opfer, das gebracht werden mußte.
6.
Mardengo lief zwischen seinen Gefangenen auf und ab. Der zuckende Schein eines Lagerfeuers, das im Zentrum der Hüttenrunde errichtet worden war, erhellte seine Gestalt. Seine Züge waren verzerrt. Oka Mama hingegen verfolgte das Geschehen mit stoischer Ruhe.
Der Korse und seine Kumpane blickten sich untereinander an und fragten sich im stillen, was nun kam.
„Wo ist der Rothaarige?“ schrie Mardengo. „Der Hund soll sich melden!“
„Ihr wollt ein Opfer, oder?“ brüllte Carberry und trat zwei kurze Schritte auf Mardengo zu. „Hier, fang bei mir an, du Bastard! Deine Fragen wird trotzdem keiner beantworten!“
Mardengo packte Asiaga und riß sie zu sich heran. „Wollt ihr mich zum Narren halten? Wartet, das treibe ich euch aus! Wer ist das Mädchen?“
„Sie ist meine Squaw“, sagte Tamao. Er wollte sich auf Mardengo stürzen, aber der Kutscher hielt ihn zurück.
„Sie ist eine Timucua“, sagte Oka Mama. „Die Timucua sind feige Frösche, die keine Kraft in den Knochen haben.“
„Das ist nicht wahr!“ stieß Asiaga erbost aus.
„Sind die Seminolen vielleicht besser?“ schrie Little Ross.
Mardengo griff Asiaga mit einer Hand in die Haare und bewegte ihren Kopf hin und her.
„Ihr Drecksäcke“, sagte er wütend. „Ihr Großmäuler. Ihr habt wohl immer noch nicht begriffen, was die Stunde geschlagen hat, wie? Aber ich erkläre es euch. Ihr habt zu gehorchen, sonst nichts. Ich kann mit euch tun, was ich will.“
Hasard kauerte in seiner Deckung und hatte das Entermesser in der rechten, das Messer in der linken Hand. Er war bereit, aufzuspringen und Mardengo anzugreifen, wenn auch nur ein Tropfen Blut floß. Er war zum Handeln gezwungen, wenn der Pirat nicht von diesem Irrsinn abließ. Aus schmalen Augen verfolgte er, was weiter geschah.
„Schöne Haare“, sagte Mardengo. „Soll ich sie ihr abschneiden?“
„Nein!“ rief Ben Brighton und trat neben Carberry. „Das ist nicht erforderlich, Mardengo.“
„Woher weißt du meinen Namen?“
„Er ist in Florida bekannt. Wir haben ihn in St. Augustine erfahren.“
Mardengo stieß ein rauhes Lachen aus. „Auch dort hatte man mich also erkannt? Gut so. Wer bist du, Großmaul?“
„Ben Brighton, der Erste Offizier der ‚Isabella‘.“ Ben wandte sich zu den Kameraden um. „Ihr haltet jetzt gefälligst den Mund und befolgt die Anweisungen, die euch gegeben werden, verstanden? Das ist ein Befehl!“
„Aye, Sir!“ murmelten die Männer.
„Gut so, Brighton“, sagte Mardengo. „Wie kommt es, daß ihr einen Bengel und ein Mädchen vom Stamm der Timucua an Bord habt?“
„Wir haben sie südlich von Daytona aufgefischt, sie waren schiffbrüchig“, erwiderte Ben. „Sie brauchten unsere Hilfe. Das ist alles.“
„Ihnen gehörte also das Kanu, das wir gefunden haben“, sagte Mardengo. „Ich verstehe. Alles andere erörtern wir später. Brighton, du scheinst zum Reden bereit zu sein. Wo ist der Rothaarige?“
„Du meinst – Ferris Tucker, unseren Schiffszimmermann?“
„Ja. Her mit ihm. Warum versteckt er sich? Ich will mich mit ihm befassen.“
„Vielleicht hat er Angst“, sagte Ben. Langsam wandte er sich noch einmal zu den anderen um und ließ seinen Blick über die Gesichter wandern. Als er Dan O’Flynn entdeckte, hielt er inne.
„Ferris“, sagte er. „Komm her.“
Dan trat vor. Der Feuerschein ließ sein blondes Haar rot erscheinen.
„Ich bin der Schiffszimmermann“, sagte er zu Mardengo. „Was willst du von mir?“
Mardengo ließ Asiaga los und bewegte sich auf ihn zu. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Erkannte er Dan wieder? Wußte er, daß er nicht mit Ferris identisch war? Hatte er sich das Gesicht des rothaarigen Riesen gut genug eingeprägt?
Er blieb stehen. „Hast du Angst vor mir?“ fragte er.
„Ja. Ich weiß, daß du dich an mir rächen willst, weil Hasard und ich dich mit der Höllenflaschenabschußkanone …“
„Schon gut, das genügt“, unterbrach Mardengo ihn scharf.
Oka Mama runzelte die Stirn. Sie wußte nicht, wovon die Rede war. Sie nahm sich vor, Mardengo später ein paar klärende Fragen zu stellen.
„Bist du bereit, zu sprechen?“ fragte Mardengo.
„Ja“, erwiderte Dan. Er verdrehte etwas die Augen und fuhr fort: „Es ist ein schöner Abend. Dunkel war’s, der Mond schien helle, als ein alter Kahn blitzesschnelle langsam um die Insel lief. An Bord saßen stehend Leute, schweigend ins Gespräch vertieft. Genügt das – oder soll ich weitersprechen? Versteht ihr mich auch wirklich alle? Ich spreche doch deutlich genug, oder?“
Oka Mama, Mardengo und die anderen Piraten waren sprachlos. Mit halb geöffneten Mündern starrten sie Dan an, als sei er ein Geist, der eben auf Pirates’ Cove eingetroffen war. Dann aber verzerrten sich Mardengos Züge von neuem, und er stieß einen Fluch aus.
„Du mußt verrückt sein, Tucker“, sagte er, nur mühsam beherrscht. „Anders kann es nicht sein. Nur so läßt sich erklären, daß du es wagst, uns zu reizen. Ich überlasse dich Oka Mama, sie wird dich mit dem Messer bearbeiten.“
Oka Mama zückte ihr Messer. „Komm her, Hundesohn“, fauchte sie. „Fangen wir an.“
„Ich nehme mir den Narbenkerl vor“, sagte Mardengo. Dann drehte er den Kopf der Hütte zu, in der Ferris, Roger und Sam lagen, und schrie: „Zum letzten Mal, Killigrew! Redest du? Wo ist euer Schatzversteck? Spuck es aus, und es geschieht euch nichts!“
„Das glaubst du selber nicht!“ brüllte Ferris.
Sie mußten die Piraten um jeden Preis hinhalten, bis Hasard eine Möglichkeit fand, einzugreifen. Mardengo wollte einiges von ihnen wissen – es war der einzige Trumpf, den sie noch in Händen hatten, anderenfalls hätte die Bande sie längst einen nach dem anderen umgebracht.
Mardengo wollte sich auf Carberry stürzen. Hasard hatte sich im Dickicht aufgerichtet und hielt sein Messer wurfbereit. Ben, Carberry, Dan und alle anderen Männer der „Isabella“ duckten sich instinktiv. Sie wollten ihre Haut so teuer wie möglich verkaufen.
Doch genau in diesem Augenblick ertönte ein Knacken und Prasseln, und ein Mann stürzte aus dem Dickicht ins Lager. Mardengo und seine Spießgesellen fuhren zu ihm herum.
„Was willst du?“ schrie Mardengo ihn an. „Solltest du nicht an Bord der Engländer-Galeone Wache halten?“
„Gato und die anderen haben die Galeone besetzt“, erwiderte der Kerl. „Aber wir kriegen Besuch. Sieben Galeonen halten auf die Insel zu. Es scheinen die zu sein, die uns bei Daytona zusetzten.“
„Spanier?“ Mardengo stieß eine ellenlange Verwünschung aus. „Das hat uns jetzt noch gefehlt!“
„Wer sind diese Spanier?“ kreischte Oka Mama. „Du hast mir nichts von ihnen gesagt! Du hast mir etwas verschwiegen, Mardengo, verfluchter Bastard! Der Teufel soll dich holen!“
Im Nu herrschte Wuhling, die Meldung hatte wie eine Kanonenkugel eingeschlagen, Ben, Ferris, Roger, Sam, Dan und alle anderen Arwenacks aber atmeten auf. Das Eintreffen der Spanier erfolgte zum richtigen Zeitpunkt und lenkte die Piraten von ihren Gefangenen ab. Das Verhör, das Mardengo die ganze Zeit über angedroht hatte, erfuhr einen Aufschub. Mardengo mußte sich unverzüglich um den Verband kümmern, der sich von Nordwesten der Insel zu nähern schien.
Darauf hatte auch Hasard nur gewartet. Das unerwartete Auftauchen der Spanier war auch für ihn von Nutzen. Er konnte sich denken, daß es sich um den Verband handelte, der auch hinter der „Isabella“ herjagte, um den Schatz von Fort St. Augustine zurückzuholen. Dennoch war es eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen er über das Erscheinen der „Dons“ erfreut war.
Die Piraten rannten im Lager hin und her, Oka Mama stieß mit spitzer Stimme die übelsten Flüche aus. Die Chancen, die Arwenacks aus den Händen des Gegners zu befreien, wuchsen.
Der Aufruhr wollte kein Ende nehmen. Mardengo riß seine Waffen an sich und rempelte dabei Oka Mama an, die um ein Haar zu Boden stürzte. Sie quittierte sein Mißgeschick mit einer neuen Serie von Flüchen und schlug und trat nach ihm.
Er beachtete sie nicht weiter, winkte dem Korsen und fünf anderen Kerlen zu und stürmte los. Er mußte so schnell wie möglich an Bord der „Isabella“ gelangen, die er bereits zu seinem neuen „Flaggschiff“ erklärt hatte.
Im Prinzip legte sich Mardengo die gleiche Strategie zurecht wie Gato, der von Bord der „Isabella“ aus in diesem Moment immer noch die Laternen der Schiffe beobachtete. Man mußte abwarten und erst einmal herausfinden, was der Gegner vorhatte. Dann konnte man ihn angreifen und versuchen, ihn auf das Riff zu locken. Wie sonst sollten die Piraten gegen sieben gut armierte Galeonen bestehen, die Pirates’ Cove mit ihren Kanonen mächtig einheizen würden?
Der Verband mußte um die Hälfte vermindert werden, dann konnte Mardengo ihn angreifen. Die „Isabella“ konnte es mit zwei, vielleicht sogar mit drei Schiffen aufnehmen, den Rest besorgten die „San Carmelo“ und die beiden Einmaster.
Oka Mama hatte aufgehört zu fluchen und drehte sich zu ihren Gefangenen um.
„Ihr habt uns das alles eingebrockt“, stieß sie hervor. „Macht ihr mit den Spaniern gemeinsame Sache? Sind sie eure Verbündeten?“
„Nein“, erwiderte Ben. „Wir haben nichts mit ihnen zu tun.“
„Du sprichst mit gespaltener Zunge, Sohn eines räudigen Hundes und einer Hure“, sagte die Alte. „Wer traut dir schon? Ich ganz bestimmt nicht.“
„Spanien ist Englands Feind“, bestätigte Big Old Shane Bens Worte. „Wir würden uns niemals mit den Dons einigen. Das gibt es bei uns nicht.“
„Und wieso sprecht ihr so gut Spanisch?“
„Ihr bedient euch doch auch der spanischen Sprache“, erwiderte Ben. „Das hat nichts weiter zu bedeuten – oder seid ihr etwa mit den Spaniern verbündet?“
„Dreh mir nicht das Wort im Mund um!“ schrie sie ihn an. „Ich töte dich!“
„Oka Mama“, erklärte einer der Piraten. „Was die Hunde sagen, könnte stimmen. Es ist ein reiner Zufall, daß die Spanier hier aufgetaucht sind.“
„Halt du dein Maul“, sagte sie grob. Dann vollführte sie eine unwirsche Gebärde. „Los, führt dieses Gesindel ab. Ich will sie vorläufig nicht mehr sehen. Nachher beraten wir, was mit ihnen geschieht – ich entscheide es! Sperrt sie in die Hütten, immer acht Mann auf einmal!“
Die Piraten beeilten sich, den Befehl auszuführen. Oka Mama trat zwischen die Hütten und hob lauschend den Kopf. Noch war kein Kanonendonner zu vernehmen. Wenn die Spanier mit ihren Galeonen auf das Riff liefen, war die Partie halb gewonnen. Wenn einige von ihnen am Nordufer landeten, fanden sie in den Fallen den Tod. Doch wenn es nur einem Teil des Verbandes gelang, nach Osten abzulaufen, die Insel zu runden und in die Ostbucht einzudringen, änderte sich die Lage.
Oka Mama mußte sich bereit halten. Im schlimmsten Fall mußte sie die Landzunge im Osten aufsuchen und das Katapult bedienen mit dem man die pulvergefüllten Tontöpfe auf die Schiffsdecks des Gegners schleudern konnte.
Hasard konnte jede Bewegung der Piraten im Schein des Lagerfeuers beobachten. Er hatte gehofft, daß die Alte sich ihm nähern würde – er hätte nicht gezögert, sie gefangenzunehmen. Aber sie stand an der gegenüberliegenden Seite, für ihn vorerst unerreichbar.
Er mußte handeln und durfte keine Zeit mehr vergeuden, sonst war auch diese Chance vertan. Nur wenige Piraten befanden sich als Wachen im Lager. Sie hatten die Seewölfe jetzt in die Hütten gestoßen und rammten die Türen zu. Riegel wurden vorgeschoben, aber es gab keine Schlösser. Es würde keine Schwierigkeit sein, die Türen wieder zu öffnen.
Die beiden Negersklaven, die mit furchtsamer Miene hin und her eilten, würden kaum Widerstand leisten, sie wurden ohnehin gegen ihren Willen auf Pirates’ Cove festgehalten. Aber gab es in den anderen beiden Hütten, die nicht als Gefängnis dienten, noch weitere Bewohner des Lagers?
Hasard stellte sich diese Frage aus einem guten Grund. Er war etwas weiter in südliche Richtung gepirscht und registrierte in diesem Moment, daß sich an der Rückwand einer der beiden Hütten etwas regte. Er verharrte, ließ sich auf den Bauch nieder und robbte im Schutz des Dickichts weiter.
Jetzt sah er es ganz deutlich: Eins der Bretter, aus denen die Hüttenwände zusammengezimmert waren, wurde von innen her bewegt. Er beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen. Wer immer in dieser Hütte war, er mußte ein Motiv dafür haben, daß er sie nicht auf dem normalen Weg durch die Tür verließ. Offenbar traf er Anstalten, sich heimlich zu entfernen. Aber warum?
7.
Ilaria war es in mühseliger, zeitraubender Arbeit gelungen, das Brett in der Rückwand der Hütte zu lockern. Sie stieß es nach außen, dann löste sie noch ein zweites Brett, und der auf diese Weise entstehende Spalt war breit genug, ihre schlanke Gestalt hindurchzulassen.
Ihre fünf Freundinnen versuchten, sie zurückzuhalten.
„Tu’s nicht“, flüsterte eine von ihnen. „Solange wir hier gefangen sind, kann uns nichts zustoßen. Aber wenn du fliehst und die alte Hexe dich erwischt, schlitzt sie dich mit dem Messer auf.“
„Sei still“, raunte Ilaria ihr zu. „Begreifst du nicht? Die Spanier kommen, das hast du doch gehört. Sie bereiten eine Landung vor. Wir gehen dabei drauf, das versichere ich dir.“
„Aber – sie sind doch unsere Landsleute“, sagte ein anderes Mädchen, „Uns tun sie nichts an.“
„Sie werden glauben, daß wir zu der Bande gehören“, widersprach Ilaria. „Und dann fackeln sie nicht lange. Gebt euch keinen falschen Hoffnungen hin. Wir müssen die Gelegenheit nutzen und von hier verschwinden. Wartet, ich sehe nach, ob die Luft rein ist. Dann sage ich euch Bescheid.“
„Ilaria hat recht“, sagte eins der Mädchen leise. „Selbst wenn uns die Spanier am Leben lassen, haben wir keine rosige Zukunft vor uns. Sie würden uns höchstens in ein Bordell der Neuen Welt verfrachten, wie der Kapitän des Schiffes es vorhatte, das von Mardengo überfallen wurde.“
„Eben“, flüsterte Ilaria. „Wir sind nun mal Huren, daran ändert sich nichts. Aber wir haben heute nacht die einmalige Chance, unsere Freiheit zu erkämpfen. Die nehme ich wahr. Rührt euch nicht von hier weg.“
Damit schlüpfte sie ins Freie. Ihre Gefährtinnen blickten ihr durch die Öffnung in der Wand nach, konnten ihre Gestalt aber nur noch kurz sehen, denn die Finsternis deckte alles zu. Sie hielten den Atem an. Ilaria hatte Mut, aber würde das Vorhaben wirklich gelingen?
Oft genug hatten sie erwogen, von der Insel zu fliehen, aber jeder Plan war wieder verworfen worden, denn es genügte nicht, aus dem Lager zu entwischen und einen der Einmaster zu entführen – Pirates’ Cove lag einsam und verlassen im Golf von Neuspanien, wie Oka Mama und Mardengo ihnen immer wieder erklärt hatten. Wer keinen Proviant und kein Wasser mitnahm, würde die Fahrt zum Festland, die Wochen dauerte, niemals überstehen.
Aber Ilaria setzte alles auf eine Karte. Sie wollte das Durcheinander, das seit dem Eintreffen der Engländer und dem nun völlig überraschenden Erscheinen der Spanier herrschte, entsprechend ausnutzen.
Die Zeit mußte ausreichen, ein Boot zu beschaffen und den erforderlichen Proviant zu stehlen. Vielleicht gelang es ihr auch, die beiden Negersklaven dazu zu überreden, sich an dem Unternehmen zu beteiligen. Sie hatten große Angst, besonders vor Oka Mama, aber auch sie warteten nur auf eine Gelegenheit, Pirates’ Cove zu verlassen.
Ilaria tauchte im Mangroven- und Lianendickicht unter, sie wollte einen der Pfade erkunden, den die Piraten in den Urwald getrieben hatten. Wenn hier kein Wachtposten stand, war der Fluchtweg zur Küste und möglicherweise auch bis zur Ostbucht frei.
Sie hatte keine Waffe, nicht einmal ein winziges Messer. Oka Mama wachte über die sechs Mädchen, nichts konnte ihr entgehen. Sie hatte sie in die Hütte gesperrt, weil sie ahnte, daß sie das Gefecht als Anlaß nehmen würden, sich heimlich davonzuschleichen. Sie hatte angenommen, daß es den Mädchen ohne Hilfsmittel nicht gelingen würde, die Hütte aus eigener Kraft zu verlassen – aber in diesem Punkt hatte sie sich getäuscht.
Ilaria haßte die Piraten, denen sie ausgeliefert war, aber noch mehr haßte sie Oka Mama, die keine Gelegenheit ausließ, die Mädchen und die Sklaven schlecht zu behandeln. Am liebsten hätte sie Oka Mama getötet, aber sie wußte, daß sie keine Chance gegen sie hatte. Die Alte sah gebrechlich aus, aber sie war es nicht. Sie war flink und wendig und konnte es im Kampf mit jedem Mann aufnehmen. Das zeigte auch die Tatsache, daß sie den großen Mann mit den Narben im Gesicht, der offenbar Carberry hieß, überwältigt hatte.
Durch die Ritzen zwischen den Brettern der Hütte hatten die Mädchen alles beobachten können. Den Gesprächen hatten sie entnommen, was sich ereignet hatte. Die Engländer waren in die Falle gegangen, jetzt erwartete sie ein grausames Ende.
Eigentlich hegte Ilaria im stillen eine tiefe Bewunderung für die Männer der „Isabella“. Sie hatte vernommen, daß sie englische Korsaren waren, und der Name Killigrew war ihr nicht neu. Dieser Philip Hasard Killigrew, der auch der Seewolf genannt wurde, sollte ein toller Kerl sein. Er hatte der spanischen Krone schon immer zugesetzt, aber daß er auch gegen Piraten kämpfte, war Ilaria bisher nicht bekannt gewesen.
Sie hätte sich gewünscht, von diesem. Killigrew mitgenommen zu werden, aber die Korsaren waren Gefangene der Piraten, und sie hatten keine Chance mehr, sich zu befreien. Ilaria mußte handeln. Ihre Gefährtinnen und sie waren auf sich allein angewiesen, und auch von den beiden Schwarzen durften sie keine große Unterstützung erhoffen.
Alles das ging Ilaria durch den Kopf, während sie sich durch das Gestrüpp arbeitete, um den Pfad zu erreichen. Fünf solcher Wege gab es auf Pirates’ Cove, und sie kannte ihren Verlauf Yard für Yard. Sie wußte auch, wo sich die Fallen befanden, aber sie war nicht darüber informiert, wo sich das Schatzversteck Mardengos befand. Die Piraten schwiegen sich darüber aus.
Ihr Gesicht war angespannt und leicht verzerrt. Kein Gold und Silber wollte sie – nur ihre Freiheit. Sie trug eine Perlenkette, die einer der Piraten ihr großzügig geschenkt hatte, aber sie war bereit, auch die zurückzulassen, wenn nur die Flucht gelang.
Plötzlich registrierte sie rechts neben sich eine Regung und wollte herumfahren, aber es war zu spät. Sie konnte nicht mehr reagieren. Starke Hände schossen aus dem Gebüsch hervor und packten sie, die eine riß sie am Arm zu Boden, die andere preßte sich gegen ihren Mund.
„Keinen Laut“, flüsterte eine Männerstimme auf spanisch. „Keine Dummheiten – es geschieht dir nichts, wenn du vernünftig bist.“